Volle Fahrt in Richtung 3-Grad-Erwärmung
Wir sind nicht auf Kurs, um den Klimawandel aufzuhalten. Das hat viel damit zu tun, wie wir unseren Energiebedarf decken. Teil 1 der Serie «Energie der Zukunft».
Von Arian Bastani (Text) und Kwennie Cheng (Illustration), 18.10.2019
Bis vor 200 Jahren war unser Umgang mit Energie unkompliziert. Unterwegs war man zu Fuss oder mit dem Pferd. War es kalt, entfachte man ein Feuer. Nutztiere und Holz waren die primären Energiequellen.
Nicht dass dies nachhaltig war: In Europa wurden Wälder im grossen Stil abgeholzt, um Häuser zu beheizen und Ziegeleien, Schmieden, Kalk- oder Pechbrenner zu betreiben. Doch der Energieverbrauch der damaligen Zeit war insgesamt bescheiden.
Dann begann das fossile Zeitalter. Und der Energieverbrauch explodierte: erst mit Kohle als Brennstoff in Fabriken und Eisenbahnen, dann mit Erdöl als Treibstoff für Autos und Schiffe und später mit Erdgas, das zum Kochen und Heizen, zur Stromproduktion und in der Industrie gebraucht wurde.
Inzwischen wird auf der Erde zehn- bis zwanzigmal mehr Energie verbraucht als im vorindustriellen Zeitalter – grossmehrheitlich aus fossilen Quellen.
Angesichts der sich abzeichnenden Klimakatastrophe wird zunehmend klar: Die Zivilisation muss nicht nur ihren verschwenderischen Umgang mit fossilen Energien überdenken, sondern das gesamte System ändern – von der Produktion über die Verteilung bis zum Verbrauch. Und zwar dringend, denn sonst nehmen der Planet und dessen Ökosysteme irreparablen Schaden.
Schaffen wir die nötige Energiewende? Und wenn ja: wie?
Für eine Antwort darauf braucht es in einem ersten Schritt: Klarheit über die aktuelle Lage. Darum beginnt diese Serie mit einer Analyse der Klima- und Energieszenarien, auf welche die Welt derzeit zusteuert.
Serie «Energie der Zukunft»
Wie schaffen wir es, unseren CO₂-Ausstoss in den nächsten drei Jahrzehnten auf null zu senken? Womit ersetzen wir die fossilen Energieträger, die heute drei Viertel der Energie liefern? Welche erneuerbaren Energien haben Potenzial? Welche Rolle spielt die Atomenergie? Diesen Fragen geht die Serie nach – auf globaler Ebene sowie für die Schweiz.
Sie lesen: Teil 1
Schaffen wir die Wende?
Teil 3
Erneuerbare Energien
Teil 4
Atomkraft
Teil 5
E-Strategie Schweiz
Bonusteil
Warum CO₂ wieder eingefangen werden kann
Die Gegenwart zum Ersten
Der erste Blick geht in die Gegenwart. Die Grafik zeigt einerseits, wie stark der Energieverbrauch gestiegen ist: Aktuell beträgt er rund 170 Petawattstunden. Dies entspricht etwa der Energiemenge, die nötig ist, um 10 Milliarden Staubsauger ein Jahr lang im Dauerlauf zu betreiben.
Die Grafik zeigt andererseits, wie kohlenstofflastig der Betrieb all dieser fiktiven Staubsauger ist: Über drei Viertel des globalen Energiebedarfs werden aktuell durch Kohle, Erdöl und Erdgas gedeckt. Erneuerbare Energien steuern, wenn man Holz mit einrechnet, bloss etwa ein Fünftel bei. Die Atomkraft vervollständigt das Bild und kommt ihrerseits auf knapp 5 Prozent.
Mit der fossilen Energieexplosion sind auch die Treibhausgasemissionen in die Höhe geschnellt. Das widerspiegelt sich in einem zweiten Diagramm, das fast identisch aussieht. Es zeigt die Zunahme der CO2-Emissionen über die Zeit. Die Hauptverantwortlichen sind auch hier: kohlenstoffhaltige Energieträger.
Energieverbrauch und CO2-Emissionen: Wären die beiden Grafiken nicht beschriftet, könnte man sie kaum auseinanderhalten. Das ist kein Zufall. Praktisch alle energiegeschichtlichen Beschleunigungsphasen – die industrielle Revolution ab 1870, der Anbruch des Automobilzeitalters nach dem Zweiten Weltkrieg, Chinas Eintritt in die Weltwirtschaft ab der Jahrtausendwende – gingen einher mit einer Steigerung des CO2-Ausstosses.
Der ähnliche Kurvenverlauf macht deutlich: Unser Kohlendioxidausstoss wird primär durch das Energiesystem bestimmt. Wollen wir den Ausstoss senken, müssen wir etwas an der Art verändern, wie wir unseren Energiebedarf decken. Und zwar ziemlich rasch. Der Weltklimarat IPCC gibt uns noch etwa 30 Jahre, um unsere Emissionen im Schnitt auf null zu bringen. Gelingt dies nicht, richtet die Klimaerwärmung grossen Schaden an.
Die Gegenwart zum Zweiten
Ist das möglich, machbar, realistisch?
Um zu verstehen, an welchem Punkt das System steht, müssen wir auch die Veränderungen kennen, die es durchmacht. Das heisst: Wir müssen die Wachstumsraten der verschiedenen Energieformen betrachten.
Hier zeigen sich Anzeichen eines Wandels. Im laufenden Jahrzehnt hat die Produktion aus neuen erneuerbaren Energien – also hauptsächlich Wind- und Solarkraft – stetig um etwa 15 Prozent pro Jahr zugenommen. Damit schiessen sie im Vergleich zu allen anderen Energiequellen obenaus.
15 Prozent pro Jahr sind ziemlich viel. Würde ein 2019 geborenes Baby stetig mit dieser Rate wachsen, wäre es 2050 ein Riese von 38 Metern Höhe. Halten die erneuerbaren Energien dieses Tempo durch, steht Mitte Jahrhundert also mehr als genug Energie für den kompletten Systemumbau zur Verfügung.
Doch auch die Produktion aus fossilen Energieträgern ist zuletzt gewachsen. Allen voran jene von Erdgas: Im laufenden Jahrzehnt nahm sein Verbrauch im Jahresschnitt um knapp 3 Prozent zu. Hält dieser Trend an, so nützen alle erneuerbaren Energien der Welt nichts – entscheidend fürs Klima ist, dass die CO2-Emissionen aus fossilen Energien gegen null sinken.
Das Gesamtbild ist also ambivalent. Einerseits sind berechtigte Hoffnungen da auf eine weitere Ausweitung der Energiemenge, die aus Sonne, Wind, Biomasse und Erdwärme gewonnen werden kann. Andererseits macht die Menschheit erst wenig Anstalten, diese Energieformen konsequent als Ersatz für fossile Energien zu nutzen. Der Gesamtverbrauch steigt nach wie vor.
Wird das so bleiben? Und wenn ja: wie lange?
Um die Entwicklung abzuschätzen, reichen summarische Statistiken nicht aus. Wir brauchen Analysen, die das Potenzial verschiedener Energieformen in diversen Einsatzgebieten schätzen, die Kosten mit der sich abzeichnenden Nachfrage vergleichen und daraus fundierte Prognosen erstellen.
Wir brauchen konkrete Szenarien für die Energieversorgung von morgen.
Die Zukunft
Verschiedene Organisationen publizieren regelmässig solche Szenarien. Die wichtigste davon ist die Internationale Energieagentur (IEA): Sie wurde nach der Ölkrise von 1973 durch die Öl importierenden Staaten gegründet, die sich vor weiteren Versorgungsengpässen fürchteten. Unterdessen sieht sich die IEA als Dreh- und Angelpunkt des globalen Energiedialogs, insbesondere mit ihren regelmässigen Statistiken und Analysen.
Weitere globale Energieszenarien stammen vom Weltenergierat (WEC), einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in London und Mitgliedern in fast 90 Ländern, sowie von British Petroleum (BP), der viertgrössten Ölfirma der Welt, die ebenfalls umfassende Energiestatistiken bereitstellt.
Uns interessiert: Stimmen die Energieprognosen dieser Organisationen mit der Entwicklung überein, die notwendig wäre, um die Erderwärmung in einem vertretbaren Ausmass, sprich bei rund 1,5 Grad Celsius, zu halten?
Um verschiedene Szenarien zu vergleichen, ist Umrechnungsarbeit nötig. Es wird nicht überall mit gleichen Ellen gemessen – und das fällt mit der Zeit ins Gewicht. Nicht zuletzt aus politischer und wirtschaftlicher Sicht ist wichtig, wie der Stellenwert verschiedener Energieträger öffentlich wahrgenommen wird.
Die Stromproduktion aus Wind oder Sonne etwa wird oft mit dem rohen Energiegehalt der Kohle gleichgesetzt. Dabei muss Kohle, wie auch Rohöl, erst verarbeitet und verbrannt werden. Von ihrem ursprünglichen Energiegehalt ist im Strom lediglich noch ein Drittel übrig. Kohlestrom würde so dreimal so hoch gewertet wie jener aus Erneuerbaren. Dasselbe trifft bei einigen Herausgebern auch für Atomstrom zu. Einer Glühbirne ist es aber egal, woher der Strom kommt.
In den Szenarien sind weitere Eigenheiten versteckt. Uneinigkeit besteht etwa über den Energiegehalt von Rohöl, Kohle und Erdgas oder über die erneuerbaren Energiearten, die im Szenario berücksichtigt werden sollen. Im BP-Szenario wird etwa Holz nicht zu den erneuerbaren Energien gezählt.
In unseren Grafiken haben wir Ordnung zu schaffen versucht: Wo es ging, haben wir die zugrunde liegenden Annahmen und Bewertungsfaktoren angeglichen. Wer es genau wissen will, wirft einen Blick auf unsere Datenaufbereitung.
Die Antwort darauf gibt die folgende Grafik. Sie zeigt ganz links den aktuellen Verbrauch nach Angaben der IEA. Er weicht aus methodischen Gründen leicht von der obersten Grafik ab, die von BP stammt (siehe Infobox «Szenarien im Vergleich»).
In der Mitte sind die Hauptszenarien der drei erwähnten Organisationen fürs Jahr 2040 zu sehen. Ganz rechts schliesslich steht ein Szenario des Weltklimarats (IPCC), das angibt, wie ein klimaneutrales Energiesystem 2050 aussehen könnte – vorausgesetzt, gewisse Mengen CO2 werden beim Verbrauch gefiltert.
Die drei Prognosen für 2040, die den Energiemix unter Beibehaltung der jetzigen Klimapolitik zeigen, ähneln sich. Die fossilen Energien bleiben darin dominant: Gegenüber heute nimmt ihr Verbrauch sogar zu, besonders beim Erdgas. Auch die erneuerbar produzierte Energiemenge wächst in diesen Prognosen: Ihr Anteil steigt von etwa einem Fünftel auf bis zu ein Drittel. Schliesslich legt auch die Kernkraft als Energielieferantin an Bedeutung zu.
Klimatechnisch stellt sich im Vergleich zum Status quo allerdings kein Fortschritt ein – die Emissionen von fossilem Kohlendioxid bleiben etwa auf heutigem Niveau. Sollten auch die übrigen Emissionen – etwa aus der Landnutzung – nicht deutlich abnehmen, steuert die Erde bis Ende Jahrhundert damit in keiner Art und Weise auf den Zielwert von maximal 1,5 Grad zu. Sondern eher auf einen Anstieg um drei Grad. Und damit auf eine Erdtemperatur, wie es sie in den letzten 500’000 Jahren nicht gegeben hat.
In starkem Kontrast zu diesen drei Szenarien steht jenes des Weltklimarats. Dort dominieren erneuerbare Energien mit einem Anteil von über zwei Dritteln. Atomkraftwerke liefern fast ebenso viel Energie wie Öl und Gas, Kohle ist fast verschwunden. Der Energiemix ist kaum wiederzuerkennen.
Ja, auch im IPCC-Szenario steuern fossile Rohstoffe noch ein Viertel zum Mix bei. Doch soll das bei ihrer Verbrennung emittierte CO2 der Luft weitgehend wieder entzogen und unterirdisch gelagert werden. Darüber hinaus werden die Land- und die Forstwirtschaft zu Kohlenstoffsenken, etwa durch Aufforstung und Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung. Unter dem Strich wird in diesem Szenario sogar mehr Kohlendioxid aus der Atmosphäre entfernt als ausgestossen. Und das Klima befindet sich auf einem Pfad, der mit einer globalen Erwärmung von maximal 1,5 Grad kompatibel ist.
Liegen die drei anderen Organisationen mit ihren Prognosen richtig, so sind wir von diesem Kurs weit entfernt. Und das, obwohl deren Szenarien sogar die Absichtserklärungen der Pariser Klimakonferenz berücksichtigen.
Wie passt das zusammen?
Die Spurensuche führt einerseits in die Politik der am Pariser Abkommen beteiligten Staaten – und andererseits in die Wirtschaft mancher Länder.
Zwei Erklärungen
An der Pariser Klimakonferenz von 2015 haben sich die Teilnehmerländer dazu verpflichtet, ihren Ausstoss von Treibhausgasen zu verringern. Gewisse Absichtserklärungen wurden verbindlich formuliert, andere wurden an Bedingungen wie die Verfügbarkeit von Finanzmitteln geknüpft.
Wie ein Bericht des Uno-Umweltprogrammes zeigt, reichen diese nationalen Absichtserklärungen – von deren Einhaltung die grosse Mehrheit der Staaten notabene weit entfernt ist – aber längst nicht aus, um den Klimawandel zu stoppen. Dafür wäre es nötig, den weltweiten Ausstoss von Treibhausgasen (in diesem Fall also nicht nur CO2) bis 2030 von aktuell über 50 auf ungefähr 24 Gigatonnen zu halbieren.
Doch die Realität ist: Sogar unter Einhaltung des selbst gesteckten Fahrplans würden die Emissionen bis 2030 nicht zurückgehen, sondern auf 56 bis 59 Gigatonnen CO2-Äquivalente zunehmen. Nicht nur das 1,5-Grad-Ziel, sondern auch das 2-Grad-Ziel wäre damit in weiter Ferne.
Die politischen Massnahmen der einzelnen Staaten genügen also nicht, um der Erwärmung Einhalt zu gebieten – und sind dementsprechend auch nicht geeignet, den notwendigen Umbau des Energiesystems herbeizuführen.
Analysiert man die Absichtserklärungen nach Regionen, so zeigt sich, dass vor allem die Entwicklungs- und Schwellenländer noch wenig griffige Senkungsversprechen gemacht haben. Das hat seinen Grund: Diese Länder holen gerade das Wirtschaftswachstum nach, das die Industrieländer schon hinter sich haben. Entsprechend rechnen sie auch für die kommenden Jahrzehnte mit einem steigenden Energiebedarf – pro Kopf und im Total.
China und Indien, die zwei Länder mit je über einer Milliarde Einwohnern, sind für den Löwenanteil des Wachstums verantwortlich. In diesen beiden Ländern hält sich auch die Kohle als Energiequelle recht hartnäckig. Während der Kohleanteil in den Industrieländern bis 2040 auf unter 10 Prozent fällt, bleibt er in Schwellenländern auf etwa einem Viertel. Eine Folge anhaltender Investitionen in Kohlekraftwerke.
Trotzdem bleibt der Energiebedarf pro Kopf aber auch in Indien und China weit hinter Ländern in Nordamerika und Europa zurück. Die Schuld am Klimawandel ganz diesen Ländern in die Schuhe zu schieben, wäre also falsch. Zudem entsteht ein substanzieller Teil von Asiens CO2-Emissionen bei der Produktion von Gütern, die letztlich im Westen konsumiert werden.
Ein Licht- und ein Ausblick
Egal, ob man auf die Schwellen- oder auf die Industrieländer blickt: Die Energieszenarien zeichnen insgesamt ein düsteres Bild. Wenn sich nichts ändert, steuern wir in voller Fahrt auf ein um drei Grad wärmeres Klima zu.
Immerhin: Die Zivilisation wird besser darin, mehr aus derselben Menge Energie herauszuholen. Der steigenden Energieeffizienz ist es zu verdanken, dass der Bedarf nicht noch viel stärker steigt. Verbesserte Gebäudeisolation, LED-Beleuchtung und auch das Recycling von Industrierohstoffen spielen daher eine wichtige Rolle bei der Reduktion des CO2-Ausstosses. Hier kann jeder einen Beitrag leisten – sowohl Industrieriesen als auch Privathaushalte.
Doch offensichtlich wird das nicht reichen. Wie vor 200 Jahren, als wir von Holz auf Kohle umgestiegen sind und die Wälder zumindest teilweise nachwachsen konnten, müssen wir nun von Kohle und anderen fossilen Rohstoffen wegkommen, damit sich das Klima erholen kann – respektive damit sich dessen Zustand nicht noch weiter verschlimmert.
Dies zu verhindern, ist für die Menschheit überlebenswichtig. Stellen wir nicht auf weniger CO2-lastige Energieformen um, so werden uns steigende Meeresspiegel und schiere Hitze aus den Metropolen vertreiben. Dürren und Überschwemmungen werden unsere Anbauflächen verwüsten.
Wie bewerkstelligen wir das? Müssen wir uns wieder mit dem Lagerfeuer anfreunden und vom Auto aufs Pferd umsteigen? Oder schaffen wir es, das Energiesystem umzukrempeln, so, wie es der Klimarat skizziert?
In den folgenden Teilen dieser Serie versuchen wir, auf diese Fragen Antworten zu finden: mit Analysen verschiedener Energieformen, global und in der Schweiz.