Höchste Temperatur seit 120’000 Jahren gemessen!
Nein, diese Schlagzeile ist kein Witz: Wir analysieren Temperaturdaten aus den vergangenen Jahrtausenden – und zeigen, wie der Mensch gerade die nächste Eiszeit verhindert.
Von Arian Bastani, 03.06.2019
Medien sind selten um Superlative verlegen. Und so warten auch wir mit einer Rekordmeldung auf: Auf der Erde wurde kürzlich die höchste Temperatur seit 120’000 Jahren gemessen. Ja, hundertzwanzigtausend!
Das Traurige an dieser Schlagzeile ist: Sie wiederholt sich. 2015 traf sie zu, auch 2016, und 2017 und 2018 traf sie fast zu. Die Erdtemperatur steigt unerbittlich. Und zwar auf Werte, wie wir sie letztmals vor sehr, sehr langer Zeit registriert haben – eine Zeit, als unsere Homo-sapiens-Vorfahren noch in Höhlen lebten, in nächster Nachbarschaft zu ihren Neandertaler-Kollegen.
Um die Dimensionen dieser Aussage zu verdeutlichen, hier ein Blick auf die mittlere, globale Temperatur der letzten 500’000 Jahre – kalibriert anhand der Normperiode von 1961 bis 1990. Die jüngste Messung ist von 2018. Das Plus gegenüber der Normperiode betrug damals 0,6 Grad. Es war damit so hoch wie zuletzt im Jahr 120’000 vor unserer Zeitrechnung.
Wir sprechen beim aktuellen Klimawandel, der seit rund 100 Jahren im Gang ist, also von historisch anmutenden Temperaturveränderungen.
Diese sind zwar noch nicht ganz so gross wie die Veränderungen, die jeweils zwischen den Kalt- und Warmzeiten der letzten paar hunderttausend Jahre bestanden – rund 6 Grad. Aber wenn alles schiefläuft mit dem Klimaschutz, geht es in diese Richtung. Die Pariser Klimakonferenz will die globale Erwärmung bekanntlich auf 1,5 Grad beschränken: Schlägt das fehl, drohen im Extremfall weit höhere Temperaturanstiege – bis zu maximal 6 Grad.
Kalt- und Warmzeiten also – das sind die Relationen, an denen wir uns hier orientieren. Die letzte Kaltzeit heisst Würm und dauerte von 115’000 bis 10’000 vor unserer Zeitrechnung; davor war die Eem-Warmzeit; noch vorher die Riss-Kaltzeit, sie begann 200’000 vor unserer Zeitrechnung und dauerte 60’000 Jahre; und so weiter. In der Erdgeschichte gab es viele solcher Kalt- und Warmzeiten.
Das Treibhausgas
Nun wollen wir Sie aber nicht mit Gymnasialstoff belästigen, sondern zeigen, was dies mit dem aktuellen Klimawandel zu tun hat. Darum als Nächstes gleich eine weitere Grafik: zu einem Gas, von dem in letzter Zeit ziemlich oft die Rede ist: Kohlendioxid, CO2. Die Konzentration dieses Gases in der Atmosphäre wird in Anteilen pro Million Luftmoleküle angegeben, englisch parts per million, ppm. Hier ein Verlauf dieser ppm-Kurve über 500’000 Jahre.
Zwei Dinge fallen auf. Ähnlich wie die Temperaturen weisen auch die ppm-Werte über die Jahrtausende Schwankungen auf: Es gibt Spitzen und Täler, die sich im Rhythmus von etwa 100’000 Jahren abwechseln. Am Ende der Grafik nimmt die CO2-Konzentration zudem steil zu: von rund 280 ppm, wo sie vor der Industrialisierung stand, auf über 400 ppm.
Sie ahnen nun wohl schon, was als Nächstes folgt. Wir legen die beiden Kurven übereinander: die Temperatur- und die Kohlendioxidkurve. Für die letzte Halbmillion Jahre – also über den Verlauf der Würm-, Riss- und aller sonstigen Warm- und Kaltzeiten hinweg – ergibt sich dann folgendes Bild.
Man sieht sofort, wie die beiden Dinge zusammenhängen: Temperatur und Kohlendioxid. Das ist kein Zufall, denn CO2 ist ein Treibhausgas – je mehr es davon in der Atmosphäre hat, desto mehr abstrahlende Erdwärme wird zurückgehalten. Treibhausgase sind wie eine Decke um den Planeten (siehe dazu auch unsere vierteilige Serie über die Geschichte der Klimaforschung).
Man sieht auch, dass der jüngste Anstieg der CO2-Konzentration um etwa 100 ppm in einer ähnlichen Grössenordnung wie die Differenz liegt, die jeweils zwischen den Kalt- und Warmzeiten bestand. Nun ist die Erde aktuell bereits in einer Warmzeit, dem sogenannten Holozän. Dass die CO2-Konzentration ausgehend von dieser Warmzeit nochmals um die besagte Grössenordnung steigt – und dies innerhalb nur weniger Jahre, quasi innerhalb eines erdgeschichtlichen Wimpernschlags –, das ist wahrlich präzedenzlos.
Es vermittelt uns einen Eindruck davon, welches monumentale Ausmass die Erderwärmung annehmen wird, wenn nichts dagegen unternommen wird.
Nun werden Sie sagen: Alles schön und recht. Aber wenn unsere Vorfahren vor 150’000 Jahren noch keine Kohlekraftwerke und Verbrennungsmotoren besassen und auch nicht in Düsenjets um den Globus kurvten: Was verursachte dann in grauer Vorzeit diese Schwankungen, von denen hier die Rede ist? Was stand hinter dem parallelen Anstieg der Temperatur und des Kohlendioxids, der im Lauf der Kalt- und Warmzeiten mehrmals eintrat?
Die Sonnenstrahlung
Hier wird die Sache etwas kompliziert – aber auch erst richtig interessant.
Über die Ursachen von Eiszeiten hat die Wissenschaft lange gerätselt. Vieles wurde in Betracht gezogen: durch Plattentektonik emporgehobene Berg- und Inselketten, die kühlende Strömungsveränderungen bewirken, aber auch Vulkanausbrüche, deren Asche die Sonneneinstrahlung vermindert.
Doch was all diese Theorien nicht zu erklären vermochten, ist die Regelmässigkeit, mit denen Kalt- und Warmzeiten sich abgewechselt haben.
Bereits im 18. Jahrhundert kam die Idee auf, dass die Sonne eine Rolle spielen könnte. Beziehungsweise: die Position, in der die Erde zu ihr steht. Die Ausrichtung und die Neigung der Erdachse sowie die Kreisförmigkeit ihrer Umlaufbahn um die Sonne sind nämlich nicht konstant. Sondern sie variieren über die Jahrtausende hinweg in sich überlagernden Zyklen.
Nach dem ersten Weltkrieg nimmt sich in Belgrad ein Ingenieur namens Milutin Milanković der Sache an. In mühseliger Arbeit berechnet er die aus den Veränderungen der Umlaufbahn hervorgerufene Variation der Sonneneinstrahlung. In Absprache mit damaligen Klimatologen richtet er dabei besonderes Augenmerk auf Breitengrade im hohen Norden. Also auf Orte zwischen 55 und 65 Grad Nord, von Dänemark bis Island, dorthin, bis wo der arktische Eisschild während der letzten Eiszeit ungefähr reichte.
Wie stark die Sonneneinstrahlung dort über die Jahrtausende war, das zeigt die folgende Kurve. Sie ist in Watt pro Quadratmeter angegeben: In dieser Einheit wird die Intensität der Sonneneinstrahlung gemessen. Sie ist ein Mass dafür, welche «Heizleistung» von der Sonne auf die Erde ausgeht.
Man sieht auch hier eine gewisse Regelmässigkeit. Allerdings waren die Zyklen der Sonneneinstrahlung meist kürzer als beim Temperaturverlauf.
Wie hängen die beiden Dinge also zusammen? Milankovićs Vermutung: Es könnte mit der Ausbreitung des Polareises zu tun haben. Und mit einem Verstärkungsmechanismus, der von diesem Eis auf das Klima ausgeht.
Rückkopplungseffekte
Trifft astronomisch bedingt mehr Sonnenenergie auf der Erde ein, so reagiert nicht jede Vegetationszone gleich. Wird beispielsweise eine bewaldete Region wärmer, so kann der Wald langsam einer Steppe weichen. Eine Steppe kann ihrerseits zur Wüste werden. In den nördlichen Breitengraden bedeutet mehr Wärme jedoch vor allem: mehr Schnee- und Eisschmelze.
Schmelzen Schnee und Eis, wird die Erdoberfläche grüner; die weisse Fläche geht zurück. Dadurch wird wiederum weniger Sonnenstrahlung reflektiert.
Wer öfters in den Bergen unterwegs ist, weiss, welchen Unterschied das machen kann – anders als im schneefreien Sommer geht im Winter ohne Sonnenbrille gar nichts. Schmilzt also die polare Eiskappe dahin, so wird weniger Licht reflektiert und dafür mehr Wärme absorbiert, was wiederum die Schmelze beschleunigt. So entsteht der Verstärkungsmechanismus, von dem eben die Rede war. Man bezeichnet dies als «Rückkopplungseffekt».
Milankovićs Vermutung lautete nun, dass dieser Effekt, ausgelöst durch die Sonne, verantwortlich sein könnte für die Abfolge von Warm- und Kaltzeiten.
Ist da was dran? Legt man die Kurven übereinander – jene der Temperatur und jene der Sonneneinstrahlung –, so zeigt sich, dass die Kurven teils parallel laufen. Auffällig ist das zum Beispiel während der Eem-Warmzeit vor ungefähr 120’000 Jahren. Auch der Anbruch des Holozäns vor rund 12’000 Jahren fällt zusammen mit einer Zunahme der Sonneneinstrahlung, wie auf der folgenden Abbildung – sie läuft über 300’000 Jahre – ersichtlich ist.
Allerdings weisen die beiden Kurven auch Diskrepanzen auf: Nicht jeder Anstieg der Sonneneinstrahlung fiel mit einem Anstieg der Temperatur zusammen. Wie so oft lässt sich ein bestimmtes Phänomen im komplexen Gebilde des Erdklimas also nicht durch eine einzelne Ursache erklären.
Ob eine stärkere Sonneneinstrahlung eine neue Wärmeperiode einläutet, hängt von vielen Dingen ab. Zum Beispiel von der Dauer der vorausgehenden Kaltzeit: Von ihr hängen die Ausdehnung und Dicke der Eisschilder ab, die sich während der Kaltphase rund um Nord- und Südpol gebildet haben. Interessanterweise scheint eine lange Kaltzeit die nächste Wärmeperiode zu begünstigen. Der Grund, so die Vermutung, ist, dass bei einem Anstieg der Sonnenstrahlung dann so viel Eis schmilzt, dass die Meeresströmungen zum Erliegen kommen. Dadurch wird das südliche Polarmeer wärmer, was CO2 aus dem Wasser in die Luft entweichen lässt und die Erwärmung verstärkt.
Wir haben es also mit einer Verschachtelung mehrerer Verstärkungsprozesse zu tun. Mehr Sonnenlicht ist gleich weniger Polareis, ist gleich mehr freie Wasserfläche, ist gleich wärmere Meere – kaum ein Untergrund reflektiert weniger Licht als der tiefblaue Ozean –, ist gleich mehr entweichendes Kohlendioxid, ist gleich mehr Treibhauseffekt, ist gleich höhere Temperatur.
Wegen dieser Verschachtelung laufen die CO2- und die Temperaturkurve beinahe synchron und stehen in Zusammenhang mit der Sonnenstrahlung.
Entkopplung
Die Polarregionen spielen beim Klimawandel also eine entscheidende Rolle.
Das zeigt sich übrigens auch anhand der Temperaturveränderungen, die just in diesen Gebieten zuletzt gemessen wurden. Vielleicht haben Sie es auf den Klimakarten der Nasa bereits bemerkt: Am intensivsten darauf eingefärbt sind die Zonen ganz im Norden des Planeten – um die Arktis, um Grönland, Alaska und Nordrussland. Allein über die letzten paar Jahrzehnte sind die Temperaturen dort bereits um rund 2 Grad gestiegen. Das ist doppelt bis dreimal so viel wie der Temperaturanstieg im globalen Durchschnitt.
Hier ist eine dieser Karten. Sie zeigt das Temperaturmittel der letzten vier Jahre im Vergleich zur letzten Normperiode von 1950 bis 1981. Je roter eine Zone eingefärbt ist, desto grösser ist das Temperaturplus gegenüber damals.
Hätte man vor etwa 18’000 Jahren ein Bild in diesem Stil erstellt, sähe es wohl ähnlich aus. Die Sonnenstrahlung nahm zu und erwärmte insbesondere den hohen Norden. Einige tausend Jahre darauf war die Kaltzeit vorbei.
Anders als bei den Kalt- und Warmzeitzyklen wird das Muster auf der heutigen Karte aber durch den CO2-Ausstoss ausgelöst. Die Sonne spielte dabei keine Rolle, im Gegenteil. Zur Veranschaulichung können wir nochmals auf einen Ausschnitt der letzten Grafik zoomen: dem Zusammenhang zwischen Temperatur und Sonnenstrahlung über die letzten gut 50’000 Jahre. Wir nähern uns also sukzessive der Gegenwart an.
Die Grafik zeigt, dass die Temperatur bis vor kurzem der Sonneneinstrahlung folgte: Mehr Wärme traf auf der Erde ein, Polareis begann zu schmelzen, Kohlendioxid-Verstärkungsprozesse setzten ein, die Temperatur stieg.
Da die Sonnenstrahlung jedoch bereits wieder schwächer wird, müsste als Nächstes eine Abkühlung folgen. Dazu wird es aber nicht kommen: Seit Anbruch des Industriezeitalters ist der Zusammenhang unterbrochen. Während die Strahlung schwächer wird, bleibt die Temperatur nicht nur auf hohem Niveau, sondern steigt – seit einigen Jahrzehnten sogar rapide.
Der Mensch setzt mit seinem CO2-Ausstoss also ein Gleichgewicht ausser Kraft, das auf dem Zusammenspiel von Erde und Sonne beruht. Dadurch werden Verstärkungsprozesse in Gang gesetzt, die bisher darüber bestimmten, ob die Erde weitläufig mit Eis bedeckt war – oder dieses Eis wie in einem Backofen wegschmolz. Neuerdings reden wir hier ein Wort mit.
Machen Sie sich also gefasst auf weitere Rekordschlagzeilen. Der Mensch verhindert gerade die nächste Eiszeit. Das Thermometer steigt.
Vor 100’000 Jahren gab es keine Wetterstationen. Die Temperaturen wurden also rekonstruiert. Und zwar anhand von Sedimentablagerungen von Kalkschalen mariner Algen. Ihre atomare Zusammensetzung ist temperaturabhängig. Die hier abgebildete Temperaturrekonstruktion basiert auf 60 global verteilten Sedimentschichten. Für die letzten gut 150 Jahre wurde sie ergänzt durch Messdaten der meteorologischen Anstalt von Grossbritannien.
Anders als die Temperatur können vergangene CO2-Konzentrationen gemessen werden. In den jährlichen Eisschichten polarer Gletscher finden sich winzige Luftbläschen, die das Gasgemisch der Atmosphäre zur Zeit ihrer Entstehung konservieren. Das Eis wird im Labor aufgebrochen oder sublimiert, wodurch sich die Konzentrationen der Gase darin messen lassen. Die hier gezeigten Werte zur Kohlendioxidkonzentration stammen aus Bohrkernen antarktischer Gletscher.
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