Schweiz, du hast ein Demokratieproblem
Durch die Wahlwoche mit der Republik-Redaktion (V).
Ein Kommentar von Carlos Hanimann, 18.10.2019
Schweiz, wir müssen reden. Denn es gibt da ein Problem.
Es heisst, die Schweiz sei eine vorbildliche Demokratie mit langer Geschichte und Möglichkeiten der direkten Einflussnahme für die Bevölkerung. Manche glauben gar, die Schweiz sei «die beste Demokratie» der Welt.
Aber wie nennt man ein Herrschaftssystem, in dem eine Minderheit über die Mehrheit bestimmt? In dem eine kleine Gruppe eine grosse Gruppe diskriminiert und von politischen Rechten fernhält? In dem die wenigen die vielen von demokratischen Prozessen ausschliessen?
Ist Demokratie dafür der richtige Begriff?
In der östlichen Grenzstadt Kreuzlingen haben 55 Prozent der städtischen Bevölkerung keine politischen Rechte: Sie dürfen nicht darüber entscheiden, ob ihr Steuergeld für ein neues Stadthaus, ein neues Schwimmbad oder einen neuen Fussballplatz ausgegeben werden soll. Sie dürfen am 20. Oktober auch nicht wählen, wer ihre Interessen im Bundesparlament in Bern vertreten soll.
Sie sind Ausländerinnen und Ausländer. Und haben deshalb kein Stimm- und Wahlrecht – weder für lokale, städtische Angelegenheiten noch für kantonale oder nationale Wahlen.
Kreuzlingen ist ein extremer Fall. Und doch zeigt er in überzeichneter Deutlichkeit, wie gross das Demokratiedefizit der Schweiz schon heute ist. Und wie gross es noch werden könnte, wenn das Land seine migrantische Wirklichkeit nicht endlich anerkennt.
Die Schweiz hat ein viel zu wenig beachtetes Demokratiedefizit, weil sie Migranten von politischen Prozessen ausschliesst. Im Vergleich mit 20 EU-Staaten landet die Schweiz auf dem zweitletzten Rang, nur knapp vor Zypern.
Heute ist schweizweit ein Viertel der Bevölkerung von der Demokratie ausgeschlossen. In vielen Städten ist der Anteil der Ausländerinnen höher: 33 Prozent in Zürich, 35 Prozent in Basel, 48 Prozent in Genf – und, eben, 55 Prozent in Kreuzlingen. In Basel dürften die Stimmberechtigten schon in 10 Jahren in der Minderheit sein, die Mehrheit ohne politische Teilhabe.
5,2 Millionen Schweizerinnen und Schweizer waren bei den letzten Wahlen 2015 wahlberechtigt. 2,5 Millionen davon gaben ihre Stimme ab, 2,7 Millionen wählten nicht, 1,6 Millionen Menschen im Stimmrechtsalter durften nicht.
Knapp 750’000 Schweizerinnen leben im Ausland. Einige erst seit kurzem, andere schon seit Jahrzehnten. Etwa 172’000 von ihnen sind in einem Stimmregister eingetragen. Sie alle haben mehr Rechte als die 1,6 Millionen Menschen ohne Schweizer Pass, die hier leben, arbeiten, Steuern zahlen.
No taxation without representation lautete einst ein Grund für den Unabhängigkeitskrieg in den USA. Der Slogan wurde seither vielfach als Kampfparole verwendet von jenen, die anwesend waren, aber nicht berücksichtigt wurden. Der Ausschluss von einem Viertel der Schweizer Bevölkerung an der politischen Teilhabe ist undemokratisch und unwürdig. Und ein Steuerstreik von Migrantinnen wäre eine angemessene Reaktion.
Zwei Massnahmen wären dringend nötig, um das Schweizer Demokratiedefizit zu korrigieren.
Erstens: das Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer, die eine gewisse Zeit in der Schweiz leben – zumindest auf kommunaler und kantonaler Ebene. Denn es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund, warum sie nicht darüber entscheiden dürfen, was sie mit ihren Steuern finanzieren.
Zweitens: die Vereinfachung und Erleichterung der Einbürgerung. Heute bestehen zu viele Hürden: Die Verfahren sind zu teuer, die Anforderungen zu streng, die sprachlichen Vorgaben zu hoch. Es braucht ein zeitgemässes Einbürgerungsverfahren, das Ausländerinnen dazu einlädt, Schweizer zu werden, statt sie möglichst lange davon abzuhalten.
Eine der beiden Massnahmen ist unausweichlich, wenn sich das Land auch in Zukunft für seine angeblich vorbildliche Demokratie feiern will. Ansonsten endet das politische System früher oder später bei jener Herrschaftsform, in der die wenigen über die vielen bestimmen.
Und das nennt sich: Oligarchie.