Was ist unsere beste Chance? Richtig: Die EU
Durch die Wahlwoche mit der Republik-Redaktion (I).
Ein Kommentar von Simon Schmid, 14.10.2019
Die Schweiz betreibt Europapolitik wie ein Mikadospiel. Beginnt irgendwo ein Stäbchen zu zittern, lässt man sofort wieder vom Thema ab. Ja nicht zu viel riskieren, lautet die Devise, nur keine heftigen Bewegungen machen.
Doch wer sich nie bewegt, kann auch nichts bewegen. Und verpasst damit die Chance, die Zukunft zu gestalten.
Die Schweiz sollte deshalb endlich ihr Verhältnis zu Europa regeln. Und eine engere Bindung, wenn nicht sogar den EU-Beitritt anstreben.
Nicht aus Idealismus oder euroromantischem Pathos, sondern in knallharter Realpolitik. Die Welt ist eine andere geworden, die Machtverhältnisse haben sich fundamental verändert. Vorbei sind die Zeiten, als die USA eine liberale Welthandelsordnung garantierten und militärisch für die Sicherheit der europäischen Länder sorgten. Spätestens nach drei Jahren unter Präsident Donald Trump ist klar: Die Vereinigten Staaten werden die Rolle des wohlmeinenden Hegemonen nie mehr glaubwürdig spielen können.
Auch auf China ist für die Schweiz kein Verlass. Die Aufsteigernation des 21. Jahrhunderts ist eine unangenehme Weltmacht: Statt liberaler Werte hält sie zentralisierte Befehlsgewalt hoch. Hongkong, die demokratiehungrige Metropole an Chinas Südküste, wird von der Kommunistischen Partei gerade mit dem Festland gleichgeschaltet. Wer Sympathien für die Demonstranten äussert, wird mit orchestrierten Shitstorms eingedeckt. Daimler, UBS, die Houston Rockets: Sie alle mussten gegenüber Peking bereits den Bückling machen, um nicht vom chinesischen Markt ausgeschlossen zu werden.
All das wäre in der Europäischen Union undenkbar. Denn in der EU gilt als wichtigstes Prinzip überhaupt das Primat des Rechts. Institutionen wie der Europäische Gerichtshof oder die Zentralbank sind praktisch unantastbar, auch für Kommissions- und Staatschefs. Macht wird zwischen Parteien und Ländern geteilt, Wettbewerb und freie Meinungsäusserung sind tief in den Verträgen verankert. Irrläufe à la Trump sind in der EU fast unmöglich. Die Union hat sich als Gesamtgebilde gegenüber Populismus und Autokratie als resistent erwiesen, trotz derartiger Tendenzen in einigen östlichen Staaten.
Trotzdem wird die EU oft als Feind von Demokratie, Wohlstand und Freiheit dargestellt. Vor allem von rechtsnationalen Kräften: Seit die Schweiz 1992 mit 50,3 Prozent den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum abgelehnt hat, dominieren sie den aussenpolitischen Diskurs und dämonisieren im Namen der Souveränität jegliche weitere Annäherung an die Europäische Union.
Es wird Zeit, den Antieuropäern die Deutungsmacht zu entreissen und eine Tatsache ins Zentrum zu rücken: dass die europäische Demokratie in Zeiten von «America first», «China Dream» und «Russia Today» besser ist als alle anderen Arrangements auf der politischen Weltbühne.
Natürlich hat die EU ihre Mängel. Die Postenbesetzung in der Kommission ist intransparent. Grosse Länder erhalten übermässig viel Gewicht – und doch wird die Union regelmässig von kleinen Ländern blockiert. Wenn im Mittelmeer Flüchtlinge ertrinken, weil die Mitgliedsländer der EU sich nicht über die Migrationspolitik einig werden, und Staaten wie Griechenland in der Wirtschaftskrise sich selbst überlassen werden, ist dies zum Verzweifeln.
Gerade der Zwang, all ihre Beschlüsse auf gesetzlich festgelegten Paragrafen abzustützen, wird der EU in solchen Situationen zum Verhängnis. Es ist die Kehrseite davon, dass die EU von allen zwischenstaatlichen Gebilden, die jemals existiert haben, ein unübertroffenes rechtsstaatliches Niveau erreicht hat. Allein deshalb ist sie die einzige vernünftige aussenpolitische Option.
Und die EU ist noch mehr. Sie ist
die logische Macht, die Sicherheit an den Rändern des Kontinents gewährleisten und gemeinsam mit den nordafrikanischen Ländern grundlegende Probleme lösen kann, von der Flüchtlingskrise bis zur künftigen Versorgung mit erneuerbaren Energien;
der einzige Wirtschaftsraum, dessen Handelsdiplomatie nebst wirtschaftlichen auch soziale und ökologische Grundsätze miteinbezieht und der sich noch nicht in einen Handelskrieg hat verwickeln lassen;
eine Institution, die beim Klimawandel entschieden handelt und bereits jetzt die Schweizer Politik mitprägt, etwa über den Emissionshandel und über Regulatorien bei der Autoindustrie;
ein Gebilde, über das die Schweiz ihre Interessen artikulieren kann. Wer Clubmitglied ist, kann mitreden. Wer nicht in der EU ist, muss zuschauen. Und ist den Interessen anderer Mitgliedsländer, vor allem aber jenen der USA oder Chinas, schutzlos ausgeliefert.
Dass die Schweiz als Kleinstaat in der EU untergehen könnte, ist ein Mythos. Das Gegenteil ist wahr: Mitgliedsländer wie Dänemark oder Schweden haben sich wirtschaftlich sehr gut entwickelt. Dank dem EU-Binnenmarkt, der strukturstarke Regionen wie die Schweiz im Grunde bevorteilt. Darüber hinaus zeigt etwa das Beispiel von Ungarn: Will ein Staat seinen Kopf durchsetzen und eigenmächtig Stacheldrahtzäune entlang seiner Grenze hochziehen, so wird er von der EU nicht daran gehindert – egal, was andere Länder davon halten oder wie ethisch vertretbar diese Massnahme ist.
Statt einer Zitterpartie brauchen wir wieder eine ernsthafte Debatte über die Aussenpolitik. Und Politiker, die das Offensichtliche aussprechen: dass die EU der beste Partner ist, mit dem die Schweiz zusammenarbeiten und ihre Vorstellungen verwirklichen kann, wie die Welt von morgen aussehen soll.