Liberale, lasst Stacheln wachsen!
Durch die Wahlwoche mit der Republik-Redaktion (II).
Ein Kommentar von Olivia Kühni, 15.10.2019
Endlich! Endlich habe ich wieder Luft zum Atmen. Endlich wieder eine Stimme. Ich wähle diesen Herbst mit Begeisterung, erstmals seit langer Zeit. Und so wie mir geht es vielen, die sich als Liberale verstehen. Die Schweiz hat wieder eine liberale Bewegung, die den Namen verdient.
Für mich fühlten sich die letzten zwanzig Jahre allzu oft an, als lebte ich in einem düsteren Dorf. Fensterläden zu, bitte keine Blumen vor die Tür, und wer ein falsches Wort sagt, wird zum nächsten Fest nicht eingeladen.
Zum nächsten Jobinterview auch nicht. Konkret: Wer es wagte zu sagen, dass Liberalismus mehr ist als «Hauptsache, weniger Staat», erntete kühle Blicke von grauen Herren. Und die Türen schlossen sich. Übrigens auch anderswo: Für jeden staatshassenden Ironman, den ich kenne, kenne ich auch mindestens einen Altlinken, der in Gesprächen nicht wirklich mich vor sich sieht, sondern ein Feindbild namens Neoliberalismus aus den 1980ern. Dazu reicht aus, dass mein Jargon nicht der seinige ist. (Die männlichen Formen hier sind kein Zufall.)
Viele von uns sagten es trotzdem. Sagten, dass Liberalismus nicht «weniger Staat» bedeutet, sondern auf gut gebaute Institutionen zu setzen. Mehr noch: dass genau das historisch so revolutionär war und bis heute befreiend ist. Der Entscheid, menschliche Frechheit, Verrücktheit und Fehlbarkeit nicht ausmerzen zu wollen, sondern als einen Teil unseres Motors anzunehmen. Und stattdessen das System so zu gestalten, dass trotz freiheitlichem Chaos gute Entscheide gefällt werden.
In diesem Sinne ist Liberalismus für mich immer zuallererst: antitotalitär.
Wir müssen, um ein banales Beispiel zu nennen, nicht anmassend über das Psychogramm von Geländewagenfahrerinnen lästern, wenn wir weniger Autos in den Städten für vernünftig halten. Wir können SUV in der Innenstadt auch ohne Arroganz in einem ordentlichen demokratischen Prozess verbieten. Oder hohe Steuern pro Blechkilogramm oder CO2-Kilogramm erheben, Parkplätze verteuern und mit den Einnahmen auf städtische Strassen Bäume pflanzen. Das Aushalten von Ambivalenz, öffentliche Debatten, klare Entscheide, Verursacherprinzip und finanzielle Anreize: das sind urliberale Methoden.
Und es ist nicht «Hauptsache, weniger Staat». Es ist das Gegenteil davon.
Nämlich sich gegenseitig kontrollierende Institutionen, die verhindern, dass ein moralisierender Mob oder autoritäre Herrscher eigenmächtig über das Land befinden.
Der Rechtsstaat mit Verfassungsprinzipien und Gewaltenteilung, freie Medien und Wissenschaft, öffentliche Bildung. Auch die ungeschriebene Kultur gehört dazu: der gesellschaftliche Konsens, dass Ärger zu einer freien Gesellschaft gehört. Das Wissen, dass Vertrauen Menschen befeuert und nicht Kontrolle – und dass Gesetze nicht auf das Erwischen von Betrügern zugeschnitten sein sollten, sondern auf den Alltag der Rechtschaffenen.
All dies sind Errungenschaften, für die Millionen von Menschen über Jahrhunderte gekämpft haben, nicht selten unter Einsatz des eigenen Lebens. Liberalismus mit «weniger Staat» gleichzusetzen ist die Definition von Dekadenz – Respektlosigkeit gegenüber dem eigenen Erbe.
Es war denn auch ausgerechnet die FDP, die so vieles in diesem Staat mitgebaut hat, was funktioniert, die uns die Floskel bescherte. In Zeiten, in denen an so vielen Orten der Welt nur noch Willkür und Clowns zu regieren scheinen, wirkt «mehr Freiheit, weniger Staat» absurder denn je.
Manche Kommentatoren finden es unglaubwürdig, wenn sich die FDP beispielsweise aus der Klimapolitik nicht mehr raushält (und sie braucht tatsächlich ökonomischen Nachhilfeunterricht). Vielen Leuten scheint die Operation Libero allzu gefällig, die GLP gar optimistisch und technokratisch. Das ist alles legitime Kritik, und es ist gut und wichtig, dass es verschiedene politische Positionen gibt. Wir sind nicht alle ein einig Volk von Schwestern: Es gibt unterschiedliche Interessen, und sie verdienen es, dass für sie gekämpft wird. Tatsache aber ist: Die Schweiz hat wieder eine liberale Bewegung, die mehr zu bieten hat als die Abschaffung von Politik.
Abgezeichnet hat sich diese Bewegung schon länger. Nicht zuletzt deshalb, weil sich auch die Herzensdisziplin vieler Liberalen, die Ökonomie, gewandelt hat: Sie hat aufgehört, völlig belegfreie ideologische Annahmen als Wahrheit zu verkaufen – und konzentriert sich stattdessen auf Wissenschaft: auf Beobachtung, Experimente, Datenarbeit. Kurz: auf Neugier statt Behauptungen. Dass vieles davon es lange nicht an den grauen Herren vorbei in die öffentliche Debatte schaffte, ist ein Ärgernis vieler Ökonominnen.
Es war schliesslich die Finanzkrise, die der Bewegung Schub verlieh. Banken fuhren staatlich abgesichert und mit billigem Geld befeuert Milliardenverluste ein – und liessen die Bürger dafür bezahlen. Das erinnerte alle, die es vergessen hatten, mit katastrophaler Wucht daran, dass es «den freien Markt» nicht gibt. Unternehmen brauchen Rechtssicherheit, und darum geht es nie ohne «den Staat». Die relevante Frage ist lediglich die, wer von den jeweils geltenden Regeln profitiert – und wer den Preis dafür bezahlt. Das ist die Frage, die Liberale stellen müssen.
Und zwar unabhängig davon, wie ein politischer Vorstoss verpackt ist: In den USA war es unter anderem die sozial wirkende «Hypotheken für alle»-Politik unter Bill Clinton, die den Banken neue Kunden sicherte und den Subprime-Markt aufblies. In der Schweiz sorgt unter anderem der hohe Umwandlungssatz der Pensionskassen für ein Ansteigen der Häuserpreise, weil die Kassen immer mehr in Immobilien investieren.
Die Antwort auf solche Phänomene ist nicht keine Politik, sondern eine bessere. Und die Antwort auf Angriffe gegen unsere Institutionen ist nicht, in gut sitzenden Anzügen eine bedauernde Miene zu ziehen. Sondern zu kämpfen.
Es ist Zeit, endlich wieder die Fensterläden zu öffnen und die Blumen vors Haus zu stellen. Am liebsten solche mit riesigen bunten Blüten. Und extralangen Stacheln.