Lobbyist wider Willen
In der Gesundheitskommission des Nationalrats sind 20 der 25 Mitglieder mit der Gesundheitsindustrie verstrickt. Einer davon ist Lorenz Hess (BDP). Eine Annäherung.
Von Andrea Arezina, 08.10.2019
Nur selten wird die Macht von Lobbyisten im Bundeshaus so offensichtlich wie im März 2018. Das Parlament beriet die Revision des Sozialversicherungsgesetzes. Diese war nötig geworden, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Sozialversicherungen untersagt hatte, IV- und Sozialhilfeempfängerinnen ohne gesetzliche Grundlage zu überwachen. Das Parlament peitschte die Gesetzesrevision in Rekordtempo durch – und ermöglichte damit weitreichende Überwachungsmassnahmen von Sozialversicherungsempfängern.
Möglich geworden war das nur dank des vollen Einsatzes einiger Parlamentarier in den vorbereitenden Kommissionen. Sie hiessen etwa Lorenz Hess (BDP), Ruth Humbel (CVP) oder Alex Kuprecht (SVP). Und sie alle hatten Mandate bei Versicherungen oder Krankenkassen, die vom Gesetz profitierten.
Von einer «Machtdemonstration der Versicherungslobby» schrieb der «Tages-Anzeiger». SVP-Ständerat Alex Kuprecht sagte: «Hätten alle Politiker in den Ausstand treten müssen, die bei einer Krankenkasse, einer Versicherung oder einer Pensionskasse ein Mandat haben, hätten wir das Gesetz gar nicht beraten können.»
Die Episode zeigt zwei Dinge.
Erstens: Kaum eine Lobby ist so einflussreich wie die der Gesundheits- und Versicherungsbranche. Dabei hat sie einen miserablen Ruf: Die Prämien sind zu teuer, die Leistungen zu schlecht, die Versicherer zu mächtig.
Zweitens: In kaum einem anderen Bereich der Politik zeigt sich die Macht einer Lobby so deutlich wie hier. Gut sichtbar ist sie bei den Diskussionen und Abstimmungen im Parlament. Unsichtbar bleibt ihr Einfluss hingegen häufig in den vorberatenden Kommissionen, zum Beispiel in der wichtigen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit.
Hier werden die Regeln für die Gesundheitsbranche gemacht. Hier entscheidet sich, ob die Mindestfranchise erhöht wird, ob mehr Spezialärzte eine Praxis eröffnen, ob die Versicherten auch in Zukunft ihre Ärztinnen frei wählen dürfen.
Die Krankenkassen und Versicherungen haben in der Gesundheitskommission ihre Gewährsleute, ihre Vertrauten, ihre Lobbyistinnen: In den beiden Gesundheitskommissionen im Parlament haben 18 von 38 Mitgliedern direkte Mandate bei Krankenkassen oder Krankenkassenverbänden.
Wie viel ist zu viel? Die Nebenjobs der Schweizer Parlamentarier und die fehlende Transparenz über ihre Einkünfte aus Verwaltungsratsmandaten, Beiräten oder Verbandsfunktionen geben in diesem Wahlkampf zu reden wie noch nie. Die Republik beleuchtet dieses umstrittene Thema in einem vierteiligen Schwerpunkt.
Eine andere Zählweise der Antikorruptions-NGO Transparency International ergibt, dass die insgesamt 38 Gesundheitspolitiker mehr als 90 Interessenbindungen zu Unternehmen aus der Gesundheits- und Sozialversicherungsbranche haben.
Einer dieser Gesundheitspolitiker, die gleichzeitig Lobbyisten für eine Versicherung sind, heisst Lorenz Hess. Er ist Nationalrat für die BDP im Kanton Bern, 58 Jahre alt – und Präsident der Krankenkasse Visana.
Hotel Bellevue in Bern, Ende Juli. Draussen ist es heiss, in der Lobby angenehm kühl. Lorenz Hess trinkt ein Coca-Cola Zero.
Herr Hess, wie wird man eigentlich Lobbyist?
Lobbyist? Ich bin kein Lobbyist. Ich weiss, das geht nicht in die Köpfe rein. Aber ich sage es trotzdem.
Wie soll ich Sie dann nennen?
Verwaltungsratspräsident.
Zuerst PR-Berater, dann PR-Unternehmer
Lorenz Hess geht in seiner Freizeit gerne jagen. Oder laufen. Aber viel Zeit dafür hat er nicht. Denn neben seiner Arbeit als Nationalrat ist er auch Gemeindepräsident von Stettlen, einem kleinen Dorf im Berner Worblental, wo er schon zur Schule ging. Seit 2001 schon regiert er die Gemeinde. Und ausserdem ist Hess, eben, Verwaltungsratspräsident der Visana.
Hess arbeitete früher als Informationschef bei der Stadtpolizei Bern, später wechselte er ins Bundesamt für Gesundheit und wurde Leiter der Kommunikationsabteilung. Danach ging Hess, der diplomierte PR-Berater, zu Burson Marsteller, einem der weltweit bekanntesten und berüchtigtsten PR-Unternehmen. Dort war er einer von sechs Geschäftsleitern und stand dem Bereich «Health Care & Life Science» vor. Er betont, dass er dort nicht als Lobbyist tätig war.
Später gründete Hess ein eigenes PR-Unternehmen. Vor fünf Jahren verkaufte er es an die Lobbying-Firma Furrerhugi. Wie viel er damit verdiente, will er nicht sagen.
«Lobbyist? Ich bin kein Lobbyist. Ich weiss, das geht nicht in die Köpfe rein.»Lorenz Hess
Den Weg in die Politik fand Hess so, wie es früher üblich war: über die Kommunalpolitik. In seinem Fall war das Gemeindepräsidium von Stettlen der Einstieg.
2011 wurde Hess in den Nationalrat gewählt. Zuvor hatte er neun Jahre lang im Parlament des Kantons Bern gesessen – erst für die SVP, nach der Spaltung für die BDP. Heute ist er Vizepräsident der Partei, die bei den kommenden Wahlen um ihre Existenz bangt. Hess aber muss sich um seine politische Zukunft keine Sorgen machen. Sollte die derzeitige Berner Regierungsrätin Beatrice Simon diesen Herbst die Wahl in den Ständerat schaffen, könnte Hess ihre Nachfolge antreten, heisst es in Bern. Im Moment, sagt Hess, sei es aber noch zu früh, um darüber zu spekulieren.
«Ein wahnsinnig grosser Geldtopf»
Kein Thema beschäftigt den Berner Politiker so sehr wie der Gesundheitsmarkt. Er ist nicht nur Mitglied der Gesundheitskommission, sondern mischt auch bei verschiedenen parlamentarischen Gruppen mit, bei Stiftungen und anderen Organisationen aus der Gesundheitsbranche: bei der Spitex, der Paraplegiker-Stiftung, der IG Erfrischungsgetränke (bei der auch Vertreterinnen von Coca-Cola und Red Bull sitzen), der parlamentarischen Gruppe Pflege, der IG biomedizinische Forschung (vom Verband Interpharma).
Der gesamte Schweizer Gesundheitsmarkt hat ein Volumen von 83 Milliarden Franken. Damit müssen vor allem Spitäler, Therapien, Pflegeleistungen und Medikamente finanziert werden. «Es ist ein wahnsinnig grosser Geldtopf, und auf den stürzen sich alle», sagt ein Kenner aus einem Krankenkassenverband.
Bei jedem politischen Geschäft, das sich um das Gesundheitssystem dreht, wird um die Kosten gestritten – und darüber, wer die jährlichen Prämienerhöhungen verursacht. Den Ärzten wird vorgeworfen, sie würden zu viel verdienen. Die Spitäler gelten als Kostenschleudern, weil es zu viele von ihnen gibt. Die Pharmakonzerne stehen im Verdacht, immer teurere Medikamente auf den Markt zu bringen, weil sie ihren Aktionärinnen Gewinne abliefern müssen. Der Spitex wirft man vor, dass sie immer mehr Pflegeleistungen von der Krankenkasse bezahlt haben will. Und die Krankenkassen sollen zu wenig effizient sein und zu viel Geld für Marketing und Werbung ausgeben.
Jede Gruppe investiert deshalb viel Geld, um ihre Position im politischen Prozess zu stärken.
Besonders forsch gehen die Krankenkassen vor. Sie holen Politiker ohne unternehmerische Erfahrung in ihre Verwaltungsräte oder bilden sogenannte Beiräte, wo eine Handvoll Politikerinnen viermal pro Jahr Empfehlungen entgegennimmt. Deren Anwesenheit an den Sitzungen lassen sich die Krankenkassen etwas kosten: Das Spektrum reicht von 5000 bis 90’000 Franken, je nach Unternehmen und Anzahl besuchter Sitzungen. Ihre Verbindungen und Mandate in der Gesundheitsbranche lohnen sich für die Parlamentarier finanziell. So verdient die Waadtländer FDP-Nationalrätin Isabelle Moret beispielsweise als Präsidentin des Spitalverbands H+ 44’000 Franken.
Die Krankenkassenvertreter im Parlament
Heinz Brand SVP, Graubünden, SGK-N | |
Martin Candinas CVP, Graubünden | |
Raymond Clottu Parteilos, Neuenburg, SGK-N | |
Josef Dittli FDP, Uri, SGK-S | |
Roland Eberle SVP, Thurgau, SGK-S | |
Joachim Eder FDP, Zug, SGK-S | |
Erich Ettlin CVP, Obwalden, SGK-S | |
Olivier Français FDP, Waadt | |
Sebastian Frehner SVP, Basel-Stadt, SGK-N | |
Ulrich Giezendanner SVP, Aargau, SGK-N | |
Lorenz Hess BDP, Bern, SGK-N | |
Ruth Humbel CVP, Aargau, SGK-N | |
Martin Landolt BDP, Glarus | |
Andrea Martina Geissbühler SVP, Bern | |
Leo Müller CVP, Luzern | |
Bruno Pezzatti FDP, Zug, SGK-N | |
Daniela Schneeberger FDP, Basel-Landschaft | |
Silva Semadeni SP, Graubünden |
SGK-N = Gesundheitskommission Nationalrat; SGK-S = Gesundheitskommission Ständerat; Quelle: lobbywatch.ch; Datenlizenz: CC BY-SA 4.0
Einige kassieren für ihre Verwaltungsratsmandate bei den Krankenkassen sogar mehr als für ihre Arbeit als Parlamentarierinnen. BDP-Nationalrat Lorenz Hess gehört zu den Topverdienern: Als Verwaltungsratspräsident der Krankenkasse Visana verdient er 142’300 Franken im Jahr – für ein Teilzeitpensum.
Grosses Engagement für die Krankenkassen
Wie stark sich Politiker mit Versicherungsmandaten für die Krankenkassen einsetzen, zeigt sich beispielsweise an ihren regelmässigen Versuchen, die Minimalfranchise für Versicherte zu erhöhen. 2016 preschte SVP-Nationalrat und KPT-Vizepräsident Ulrich Giezendanner vor: Die Minimalfranchise sollte in Zukunft nicht bei 300, sondern 500 Franken liegen. Unterzeichnet war der Vorstoss unter anderem auch von Lorenz Hess. Vergangenen Herbst unternahm eine Mehrheit der Gesundheitskommission einen neuen Anlauf und liess das Anliegen wieder auf die Traktandenliste setzen. Bemerkenswert dabei: 20 der 25 Kommissionsmitglieder haben ein Nebenamt in der Gesundheitsbranche. Doch der Vorstoss scheiterte später im Parlament.
Hess geriet wegen seiner Doppelrolle bei solchen politischen Manövern immer wieder in die Kritik. Der «SonntagsBlick» beschrieb ihn als Mandatsjäger, in der «Arena» griff ihn SP-Nationalrätin Barbara Gysi als Lobbyist im Dienste der Krankenkassen an, und die «NZZ am Sonntag» führte ihn in einem Lobbying-Report als Paradebeispiel an für einen, der die Interessenvertretung zu einem gut bezahlten Beruf gemacht hat.
Kein Wunder, wirkt Hess nervös, als er von der Republik auf seine Doppelrolle als Krankenkassenvertreter und Nationalrat angesprochen wird.
Herr Hess, Sie sind Verwaltungsratspräsident einer Krankenkasse und gleichzeitig Mitglied der Gesundheitskommission. Ist diese Doppelrolle ein Problem?
Nein. Sonst müsste man ja sagen, dass in der Wirtschaftskommission auch keine Banker und keine Gewerkschaftler sitzen dürfen. Ich sehe da überhaupt kein Problem.
In der Gesundheitskommission des Nationalrats haben 7 von 25 Mitgliedern ein Mandat bei einer Krankenkasse oder einem Krankenkassenverband. 20 von 25 haben ein Nebenamt in der Branche.
Okay, im Moment sitzen zu viele Krankenkassenvertreter in der Kommission. Und das sage ich als Mitglied dieser Branche.
Dieses Problem liesse sich leicht beheben: Haben Sie sich schon mal überlegt, die Kommission zu wechseln?
Nein. Wenn Sie in einer so komplexen Kommission wie der Gesundheitskommission Fuss gefasst haben, wollen Sie bleiben. Dass heute so viele Krankenkassenvertreter drin sind, hat mit den letzten Wahlen zu tun. Da sind zwei neue Vertreter dazugekommen. Das war wohl zu viel.
Wie sind Sie eigentlich in den Verwaltungsrat einer Krankenkasse gekommen?
Man wird vom entsprechenden Unternehmen gefragt. Bei mir tat das der damalige Verwaltungsratspräsident Albert Rychen. Ein guter Bekannter von mir.
Wieso hat er ausgerechnet Sie gefragt?
Das wollte ich auch von ihm wissen. Er sagte, weil er mich kenne. Und weil er wusste, was ich bis dahin gemacht hatte.
Lorenz Hess erinnert sich gerne daran, wie er für einen der wichtigsten Posten bei einer der grössten Firmen des Kantons Bern angefragt wurde. So eine Gelegenheit bekomme man schliesslich nicht jeden Tag, erzählt er. Zugesagt habe er trotzdem nicht sofort. Man stehe schliesslich im Fokus. Und für die 30 Prozent müsse man auch etwas machen. «Man kann nicht einfach reinsitzen und ein Sackgeld kassieren», sagt Hess.
Das «Sackgeld» für das Verwaltungsratspräsidium beträgt 142’300 Franken im Jahr. Wie viel arbeiten Sie dafür?
Unterschiedlich. Es gibt ruhigere und weniger ruhigere Phasen. Ich habe es nie erhoben.
Wie viel arbeiten die anderen Verwaltungsräte?
Im Schnitt vielleicht 15 Prozent. Hängt aber von der Arbeit ab.
Nur 15 Prozent?
Es ist schwer zu sagen. Ich als Präsident arbeite eher 30 Prozent. In gewissen Phasen können es bis zu 50 Prozent sein.
142’300 Franken für ein Pensum von 30 bis 50 Prozent. Finden Sie das eine angemessene Entschädigung?
Ich glaube schon. Andere Kassen zahlen bedeutend mehr.
Hess hat recht. Allerdings ist die Visana die einzige Krankenkasse, die einen Bundeshaus-Parlamentarier als Präsidenten hat. Bis 2010 war das auch bei der Helsana der Fall. Doch inzwischen sitzt bei der grössten Schweizer Krankenkasse kein einziger Politiker mehr im Verwaltungsrat.
Aus gutem Grund: Bei Neubesetzungen sollten die Krankenkassen besser die Finger von Politikerinnen lassen, findet der Leiter für Öffentlichkeitsarbeit des Internet-Vergleichsdiensts comparis.ch, Felix Schneuwly: «Eine Krankenkasse sollte keine Politiker in den Verwaltungsrat wählen lassen. Damit werden Diskussionen vermieden, die dem angeschlagenen Image der Kassen noch mehr schaden.» Ein parteipolitisch breit abgestützter Beirat, der keine unternehmerische Verantwortung trägt, macht viel mehr Sinn, laut Schneuwly.
142’300 Franken von der Visana und 120’000 Franken vom Steuerzahler – Hess verdient für seinen Teilzeitjob bei der Krankenkasse mehr als für seine Arbeit als gewählter Volksvertreter. Kann man unter diesen Voraussetzungen noch frei und unabhängig entscheiden?
Hess erkennt in seiner Doppelrolle keinen Interessenkonflikt. Er sieht nur Vorteile. Als Krankenkassenvertreter kenne er die Branche, habe direkten Zugang zum Geschäft und könne im Unternehmen nachfragen, wie sich politische Entscheidungen «an der Front auswirken», sagt Hess. Umgekehrt könne er in die Firma einspeisen, was in der Politik auf der Agenda stehe.
Hess sagt: «Als ich im Auswahlverfahren für den Verwaltungsrat bei der Visana stand, habe ich diese Frage gestellt: Ist dieses Mandat abhängig von meiner Mitgliedschaft im Parlament? Die Antwort war klar: Nein. Ansonsten hätte ich wohl verzichtet.»
«Bleiben Sie auf der Linie!»
Gerade kürzlich wurde die Doppelrolle von Lorenz Hess wieder sichtbar, als das Parlament eine Änderung des Krankenversicherungsgesetzes beriet. Heute können Versicherte ihre Franchise jedes Jahr wechseln. Ein Vorstoss der Krankenkassenvertreterinnen im Parlament, darunter auch Hess, wollte das ändern: Versicherte sollten drei Jahre lang an ihre Franchise gebunden bleiben. Der Vorschlag scheiterte am Widerstand des Ständerats.
Vergangenen Winter beschloss eine Mehrheit des Nationalrats, angeführt von Vertretern der Krankenkassenlobby, die Minimalfranchise schrittweise um 50 Franken zu erhöhen. Doch in der darauffolgenden Frühlingssession machte die SVP wider Erwarten eine Kehrtwende. Hess versuchte noch mit einem Aufruf an die SVP, die Reihen zu schliessen: «Ich bitte Sie, im Sinne der Sache ein bisschen Mut zu beweisen, auf der Linie zu bleiben und diese Vorlage anzunehmen.» Ohne Erfolg.
Die Versicherungsvertreterinnen im Parlament werden es mit Sicherheit bald wieder versuchen.
Lorenz Hess dürfte auch das nächste Mal mit dabei sein. Dann vielleicht mit Erfolg.