«Es gibt heute einfach zu viele Exzesse»
Die Bauern betreiben ein missbräuchliches Spiel im Parlament, die Gesundheitsbranche hat zu viele Politiker eingespannt: Der ehemalige Migros-Cheflobbyist Martin Schläpfer über die Kunst des Lobbyierens und die Folgen für die Politik.
Ein Interview von Philipp Albrecht, Dennis Bühler (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 07.10.2019
Herr Schläpfer, wie korrupt ist das Parlament?
Das Parlament ist nicht korrupt, doch mangelt es der Schweizer Politik erheblich an Transparenz. Oft ist unklar, wie Entscheidungen zustande kommen. Das schafft Misstrauen. Ich werde häufig gefragt, ob man einen politischen Entscheid kaufen kann.
Was antworten Sie darauf?
Dass das nicht so einfach ist. Man kann bestenfalls ein Umfeld schaffen, das einem gewogen ist – dank Parteispenden oder mit Verbandsbeiträgen. Oder man gründet eine neue, themenspezifische Interessengruppe mit Parlamentariern im Vorstand.
Das kommt Korruption schon recht nahe.
Korruption ist ein strafrechtlicher Begriff: Korrupt ist, wer bestechlich ist. Käuflichkeit hingegen ist ein Boulevardausdruck dafür, gewissen Gefälligkeiten gegenüber nicht abgeneigt zu sein. Käufliche Politiker agieren im Graubereich.
Martin Schläpfer (64) war bis Ende 2018 Cheflobbyist der Migros im Bundeshaus. Davor schrieb er als Journalist unter anderem für die «Schaffhauser Nachrichten», «Politik und Wirtschaft» und die «Bilanz». Im Bundeshaus gilt der Schaffhauser, der seit 1985 in Bern lebt, als einer der einflussreichsten und bestvernetzten Lobbyisten. Viele seiner Beziehungen baute er beim Tennis, beim Golfspielen und bei Abendessen auf. 2018 fiel seine Funktion in der Migros einem grossen Sparprogramm zum Opfer. Seither unterstützt er seine Frau Renate Hotz, die ebenfalls Lobbyistin ist und die Interessen von Firmen wie Selecta und British American Tobacco vertritt. Daneben engagiert er sich für das Start-up Politik.ch, er moderiert Podien und schreibt Gastkommentare.
Die Schweiz ist stolz auf ihr Milizparlament, in dem berufstätige Politiker ihre Branche vertreten. Ist das nicht längst ein Mythos?
Doch. Es gibt heute nur noch wenige klassische Milizparlamentarier: einen Piloten, der fliegt, einen Kaminfeger, der russt, oder einen Bierbrauer, der Bier braut. Wenn Parlamentarierinnen Verbände präsidieren oder politnahe Beratungsbüros eröffnen, kann man in meinen Augen hingegen nicht mehr von einem Milizsystem sprechen. Unter anderen haben SVP-Chef Albert Rösti, CVP-Chef Gerhard Pfister und die Grüne Aline Trede solche Agenturen. Wie auch Ueli Maurer, bis er in den Bundesrat gewählt wurde.
Was tut eine Parlamentarierin, die ein Kommunikationsbüro hat?
SVP-Nationalrat Gregor Rutz hat mit seinem Büro einst eine Volksinitiative für den Verband Gastrosuisse entworfen. Bei den meisten Parlamentariern mit Kommunikationsbüros haben wir keine Ahnung, wen sie beraten und für wen sie lobbyieren. Einige nennen sich Unternehmer, doch was sie effektiv machen, ist nicht transparent.
Wenn die meisten Parlamentarier gut bezahlte Mandate haben, braucht es eigentlich keine Berufslobbyisten mehr wie Sie. Die Politikerinnen erledigen die Interessenvertretung selbst.
Doch, es braucht uns weiterhin. Denn wir Lobbyisten liefern einen entscheidenden Teil der Informationen, die ein Parlament braucht, wenn es gute Lösungen für politische Probleme finden will.
Geben Sie uns ein Beispiel.
Nehmen wir die AHV-Revision: Wenn der Bundesrat dazu eine Botschaft herausgibt, deckt diese vielleicht drei Viertel der Gesamtinformation ab. Ein Viertel wird durch Lobbying und durch von Verbänden finanzierte Studien beigesteuert. Die Kunst besteht darin, die richtigen Argumente im richtigen Moment in den politischen Prozess einzuspeisen. Denn die Parlamentarier haben oft sehr viel am Hals.
Lobbyisten machen aber viel mehr, als den Politikern bloss Informationen aus der Wirtschaft zu übermitteln.
Selbstverständlich. Wir begleiten ein politisches Geschäft von A bis Z. In der Regel beginnt es mit der Vernehmlassung, während der wir die Stellungnahmen der Parteien und der betroffenen Verbände und Organisationen koordinieren. Danach lobbyieren wir beim Bundesrat und bei der Verwaltung, die die Botschaft erarbeiten. Im Anschluss weibeln wir bei den Parlamentariern für die Interessen unserer Auftraggeber. Und zu guter Letzt kommt es vielleicht noch zu einer Volksabstimmung.
Welchen Vorteil haben Sie als Berufslobbyist gegenüber Parlamentariern, die Verbandspräsidien oder Verwaltungsratssitze übernehmen?
Viele Parlamentarier tun sich schwer damit, Andersdenkende zu überzeugen. Stellen Sie sich einen Verbandspräsidenten der SVP vor, der bei der SP lobbyiert, oder einen Gewerkschaftsboss, der am rechten Rand für seine Anliegen weibeln muss. Das ist nicht ganz einfach, vor allem auch dann, wenn persönliche Animositäten bestehen. Wer den politischen Entscheidungsprozess beeinflussen will, braucht sehr viel Fingerspitzengefühl. Wenn Vorlagen eine Volksabstimmung überstehen wollen, müssen sie mehrheitsfähig ausgestaltet sein. Das ist hohe Kunst.
Wie bildet man Mehrheiten?
Entscheidend ist fast immer die politische Mitte. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele aus meiner Zeit als Migros-Lobbyist: Als wir die Ladenöffnungszeiten verlängern wollten, standen wir bei der von Gewerkschaftern dominierten SP auf verlorenem Posten; als wir für Marktöffnungen im Handel einstanden, galt dasselbe in Bezug auf die landwirtschaftsnahe SVP. Die beiden Polparteien sind in ihren Positionen sehr gefestigt und legen Wert auf eine hohe Fraktionsdisziplin.
Was bedeutet das für einen Lobbyisten?
Dass wir einen enorm schweren Stand haben. Wenn die Parteien faktisch Fraktionszwang haben, sagen dir die Parlamentarier: Du, ich hab eigentlich schon Verständnis für dein Anliegen, aber ich muss leider mit der Fraktion gehen.
Wie viel ist zu viel? Die Nebenjobs der Schweizer Parlamentarier und die fehlende Transparenz über ihre Einkünfte aus Verwaltungsratsmandaten, Beiräten oder Verbandsfunktionen geben in diesem Wahlkampf zu reden wie noch nie. Die Republik beleuchtet dieses umstrittene Thema in einem vierteiligen Schwerpunkt.
Die Mitte ist also entscheidend. Was würden Sie einem Neo-Lobbyisten raten, wenn er im Parlament erfolgreich sein will?
Sich auf den Ständerat zu konzentrieren. Die Kantonsvertreter stehen über dem parteipolitischen Geplänkel, das macht es einfacher.
Sie haben mal gesagt: «Es gibt für einen Lobbyisten – provokativ ausgedrückt – bloss zwei Sorten Parlamentarier: solche, die einen umstrittenen Antrag durchbringen. Und die anderen.» Was meinten Sie damit?
Nicht jeder Parlamentarier hat die Fähigkeit, ein Anliegen durchzubringen. Ich staunte früher, wie die Sozialdemokraten Ruedi Strahm und Simonetta Sommaruga oder auch CVP-Ständerat Bruno Frick Mehrheiten schaffen konnten. Vor allem in der politischen Mitte sind Politiker zu finden, die exzellent darin sind, Kompromisse und Lösungen zu finden. Es ist oft matchentscheidend, von wem ein Vorstoss stammt.
Das heisst?
Politiker wie Fabian Molina und Roger Köppel, die gern zum Mittel der Provokation greifen, sind nicht mehrheitsfähig. Politiker, die einen Kollegen auf dem Kieker haben, stimmen ihm oft aus Prinzip nicht zu – selbst wenn sie das Thema vielleicht für wichtig erachten. Der damalige SVP-Nationalrat Christoph Blocher sagte jeweils, wenn jemand mit einem Anliegen zu ihm kam: «Geh damit zur CVP. Wenn ich den Vorstoss bringe, kommt er nicht durch.» Jeder hat eben seine Funktion.
Sie haben kürzlich in einem Kommentar mehr Transparenz im Parlament gefordert, da nur so verlorenes Vertrauen wettgemacht werden könne. Warum hat das Vertrauen gelitten?
Es gibt heute einfach zu viele Exzesse. Übermarcht hat vor allem die Gesundheitsbranche, bei der es um enorme Summen geht. Sie hat schlicht zu viele Politiker eingespannt. Für die Krankenkassen ist diese Überpräsenz negativ. Wenn Firmen und Verbände Posten an Parlamentarier vergeben, gehen sie heute strategisch anders vor als früher: Sie engagieren nicht mehr fachlich Qualifizierte, sondern einfach solche, die in den wichtigen Kommissionen sitzen.
Im Fokus der Gesundheitsbranche steht die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit.
Genau. Verbände und Firmen erteilen keine Mandate an Räte, die in der falschen Kommission sitzen und damit weit weg sind von den für sie interessanten Dossiers. Stattdessen stürzen sie sich auf die Mitglieder der Gesundheitskommission. SVP-Politiker Toni Brunner war phasenweise praktisch das einzige von 25 Kommissionsmitgliedern ohne Mandat aus dem Gesundheitswesen. Darum gibt es auch einen Reformstau im Gesundheitsbereich: Die Interessengruppen blockieren sich gegenseitig.
Kommt das auch in anderen wichtigen Kommissionen vor, etwa in jener für Wirtschaft und Abgaben?
Ja, die Bauern sind genauso schlimm wie die Krankenkassen! Wenn die nationalrätliche Wirtschaftskommission agrarpolitische Geschäfte berät, lassen sich plötzlich zahlreiche bürgerliche Kommissionsmitglieder durch Bauern ersetzen. Das ist zwar offiziell nicht verboten: Ein Ratsmitglied darf sich, wenn es krank ist oder Geschäftstermine hat, durch einen Kollegen ersetzen lassen. Aber aus meiner Sicht ist das, was die Bauern da bieten, eindeutig missbräuchlich.
Kann man solches Verhalten nicht stoppen?
Nicht, wenn es das Parlament nicht will. Die Volksvertreter verhindern jede Reglementierung des parlamentarischen Ablaufs mit dem Argument, es werde bloss mehr Bürokratie geschaffen. Wenn Sie mich fragen, sind die Parlamentarier hier befangen. Schliesslich geht es auch um ihre materiellen Interessen.
Warum wollen die Parlamentarier alle in die Gesundheits- oder die Wirtschaftskommission?
Diese beiden Kommissionen haben, was die finanziellen und wirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Entscheide betrifft, die grösste Bedeutung. Entsprechend eröffnen ihre Sitze Chancen auf lukrative Mandate. Pharma, Spitäler, Apotheker und Versicherungen versuchen die Gesundheitskommission zu beeinflussen, grosse Unternehmen und die Landwirtschaft machen Druck auf die Wirtschaftskommission. Wer in einer dieser Kommissionen sitzt, verfügt über grossen Einfluss und Insiderinformationen – und kann sich, wenn er will, dafür entlöhnen lassen.
Konkret: Man kann sich kaufen lassen?
Ausgeschlossen ist das nicht. Und ein Sitz in einer dieser beiden Kommissionen birgt einen weiteren gewichtigen Vorteil.
Welchen?
Mitglieder der einflussreichen Kommissionen haben mehr Medienpräsenz als beispielsweise Mitglieder der Finanzkommission, was ihre Chancen markant vergrössert, wiedergewählt zu werden. Allen Parlamentariern sind die Vorteile dieser beiden Kommissionen bewusst. Manch einer reagiert beleidigt, wenn er nicht zum Handkuss kommt.
An wen denken Sie?
Am augenfälligsten war es bei Hermann Hess, dem charismatischen Thurgauer Unternehmer aus der FDP, der bei seiner Wahl 2015 bereits 63 Jahre alt war. Er war felsenfest überzeugt, dank seiner beruflichen Erfahrung direkt in die Wirtschaftskommission zu kommen. Doch wegen des in der FDP geltenden Anciennitätsprinzips musste er mit der unbeliebten Geschäftsprüfungskommission vorliebnehmen. Hess hat sich öffentlich darüber mokiert und nach gerade mal zwei Jahren seinen Rücktritt aus dem Nationalrat verkündet. Er ging in die Geschichte ein als Parlamentarier, der kein einziges Mal ans Rednerpult schritt und keinen einzigen Vorstoss einreichte.
Gibt es Konflikte zwischen Lobbyisten wie Ihnen und Politikern, die gut bezahlte Nebenjobs haben?
Einige können stark in Wallung kommen, wenn das Lobbying zu exzessiv wird. In der Gesundheitskommission kam es mal vor, dass ein Lobbyist vor dem Sitzungszimmer Position bezog und fast jedes Mitglied einmal rausholen liess, um es zu bearbeiten. Das geht tatsächlich gar nicht – Lobbyisten dürfen die Kommissionsarbeit nicht stören. Einflussnahme ist eine Frage des Masses. Zu viel davon kommt schlecht an.
Apropos Mass halten: Einige Parlamentarier sagten uns, Sie seien sehr dominant und eitel. Der Umgang mit Ihnen sei teilweise schwierig.
Es sind ja nicht die schlechtesten Früchte, an denen die Wespen nagen. Als ich noch Journalist war, habe ich mich bei Beschreibungen von Politikern auch nicht immer zurückgehalten. Darum lass ich das jetzt einfach mal so stehen.
Im Ernst?
Ja. Wer nicht einstecken kann, ist in der Politik am falschen Ort.
Gibt es für Sie eine Grenze bei Ämterkumulationen von Parlamentariern?
Das muss jeder Politiker für sich selber entscheiden. Wenn mich jemand fragt, rate ich jedoch zur Zurückhaltung. Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut eines Politikers. Wer sie mit einer Vielzahl von Mandaten unterminiert, muss mit den Konsequenzen leben. Ich sage einfach: Man kann nicht in jedem Fachgebiet gut sein.
Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Bundesrat Ignazio Cassis präsidierte während seiner Zeit als Nationalrat den Krankenkassenverband Curafutura und kassierte dafür 180’000 Franken pro Jahr. Hat er eine Grenze überschritten?
Aus meiner Sicht ist das klar überrissen. Das zeigt auch die Tatsache, dass sein Nachfolger, der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli, jetzt weniger verdient.
Cassis machte die hohle Hand, wurde dafür aber nicht abgestraft, sondern mit der Wahl in den Bundesrat belohnt. Stört sich überhaupt jemand an solchen Lobbyingexzessen?
Ein Politiker hat mir mal erzählt, er sei im Tram angesprochen worden, nachdem er tags zuvor von den Medien scharf kritisiert worden war. «Ich hab Sie gestern in der Zeitung gesehen», sagte ihm der Passant. Allerdings wusste der gar nicht mehr, ob er etwas Positives oder etwas Negatives gelesen hatte.
Wenn die Glaubwürdigkeit das höchste Gut des Politikers ist: Wie viele der 246 Parlamentarier sind unglaubwürdig?
Ich kann Ihnen keine konkrete Zahl nennen. Als problematisch würde ich mehr als 10 Prozent von ihnen bezeichnen. Ein Politiker, der keinerlei Berührungsängste hat, geht das Risiko ein, dass irgendwann eine Bombe platzt. FDP-Nationalrätin Christa Markwalder etwa wurde nach der sogenannten «Kasachstan-Affäre» fürchterlich durch den Kakao gezogen. Sie wusste selber nicht, wie ihr geschah – und das kurz vor ihrer Wahl zur Nationalratspräsidentin.
Sie vertraten als Migros-Lobbyist während fünfzehn Jahren den Detailhandel. Man hört oft, dieser lobbyiere zu wenig. Wie sehen Sie das?
Für meinen Geschmack tritt meine ehemalige Branche tatsächlich zu defensiv auf.
Wer hat denn gebremst?
Die Migros jedenfalls nicht. Der langjährige CEO Herbert Bolliger hat immer Klartext gesprochen, auch wenn es um heikle Themen wie Löhne oder Importbarrieren ging. Er fürchtete sich nicht anzuecken – und brachte so immer wieder die Bauern gegen sich auf.
Hatten Sie es als Migros-Vertreter einfacher als ein Lobbyist, der für verschiedene Firmen unterwegs ist?
Auf jeden Fall. Auch weil die Migros eine sehr populäre Marke ist. Wobei dies auch eine Schattenseite hatte.
Welche?
Wenn ich einen Fehler machte, stand das am nächsten Tag gleich prominent in der Zeitung. In solchen Fällen war ich nicht mehr Martin Schläpfer, sondern der Mann von der Migros.
Welches war Ihre grösste Niederlage?
Vielleicht der gescheiterte Versuch, die Ladenöffnungszeiten schweizweit zu regeln. In meinen Augen ging es um einen bescheidenen Vorstoss: Alle Läden sollten wochentags bis 20 Uhr und samstags bis 18 Uhr offen sein dürfen. Doch ich hatte meine Rechnung ohne den Ständerat gemacht. Respektive: Ich hatte unterschätzt, dass er nach den vorangegangenen Wahlen föderalistischer geworden war. Eine knappe Mehrheit war der Meinung, dass die Öffnungszeiten in der Kompetenz der Kantone verbleiben sollten.
Sie haben sich auf dem falschen Fuss erwischen lassen?
Mir ist ein Anfängerfehler unterlaufen: Ich habe vergessen, dass neu gewählte Parlamentarier stets föderalistischer eingestellt sind als ihre Vorgänger. Nach vier Jahren im eidgenössischen Parlament sehen sie die Politik viel stärker durch die Bundesberner Brille.
Aus Ihrem Mund stammt das Zitat: «Als Lobbyist muss man zwei Eigenschaften haben: Man sollte gerne essen, und man sollte ein schlechtes Gedächtnis haben.» Warum Letzteres?
Damit wollte ich ausdrücken, dass ein Lobbyist nicht nachtragend sein sollte. Parlamentarier ertrinken in einer Flut von E-Mails und Bittbriefen, ständig will irgendjemand etwas von ihnen. Irgendwann sagen sie nur noch: «Ich kümmere mich darum.» Ein Lobbyist sollte es ihnen nicht übel nehmen, wenn sie sein Anliegen wieder vergessen. Oder Abmachungen nicht einhalten. Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl dafür, wer Versprechen hält und wer nicht.
Wie gewinnt man die Aufmerksamkeit der Parlamentarier?
Das ist ein Grundproblem. Wie komme ich so an die Leute ran, dass sie sich ernsthaft mit meinem Anliegen auseinandersetzen? Das ist nicht einfach.
Man hört, Alkohol sei da ein gutes Hilfsmittel.
Das sagen Sie. Die meisten Politiker sind gesellige Leute, die gerne an Anlässe gehen. Wer gewählt werden will, muss so sein, schliesslich gilt es auch im Wahlkampf, von Hundsverlochete zu Hundsverlochete zu tingeln. Ein Lobbyist ist dann erfolgreich, wenn es ihm gelingt, eine derart exklusive Veranstaltung ins Leben zu rufen, dass sich jede Politikerin geehrt fühlt, die dazu eingeladen wird.
Sie haben das mit Ihrer sagenumwobenen Soirée Sélection geschafft, an der jeweils im Dezember drei Dutzend wichtige Leute gemeinsam mit dem einstigen Sternekoch Urs Hauri kochten und es Tradition war, dass der Ständeratspräsident eine Rede hielt.
Im Laufe der Jahre hat der Anlass tatsächlich Kultstatus erreicht. Eine Spezialität war, dass dort nicht nur Parlamentarierinnen und Parlamentarier aufeinandertrafen, sondern auch Chefbeamte, hohe Verbandsfunktionäre und wichtige Journalisten. Es ging dabei weniger um konkrete Anliegen der Migros als darum, einen geselligen Kochabend zu verbringen und so Goodwill zu schaffen.
Eine clevere Strategie. Und doch gehen andere Lobbyisten zielgerichteter vor.
Es gibt diesbezüglich auch nicht nur eine richtige Strategie. Wichtig ist, dass sich jeder Lobbyist im Klaren darüber ist, welche Ziele er mit einem Anlass verfolgt. Wenn Sie sich im Berner Fünfsternhotel Bellevue mit einem halben Dutzend Parlamentariern zum Abendessen treffen, können Sie im kleinen Kreis Klartext reden – das kann sehr effizient sein.
Die PR-Agentur Furrerhugi hat hochstehende Gastronomie gleich zu ihrem strategischen Konzept erkoren: Sie empfängt im «Clé de Berne», wo gerade mal fünf Tische stehen.
Furrerhugi hat den Trend zum Kulinarischen noch forciert. Die Konkurrenz musste nachziehen, um den Anschluss nicht zu verlieren – und veranstaltet nun ihrerseits Zigarren- oder Comedyabende.
Und wie steht es um Champions-League-Tickets, die für Parlamentarier organisiert werden?
Das ist nochmals eine andere Geschichte. Früher luden Sponsoren ganze Horden von Parlamentariern zu Fussballländerspielen ein; heute sind die Compliance-Regeln der Firmen sehr viel strenger. Sie erlauben es zum Beispiel nicht mehr, dass auch die Übernachtung bezahlt wird.
Noch immer aber lassen sich jedes Jahr etliche Parlamentarier ans Filmfestival in Locarno einladen.
Dieser Anlass fällt aus der Reihe, das stimmt. Nach Locarno laden auch bundesnahe Betriebe ein, die Abgeordneten kreuzen jedes Jahr in Heerscharen auf. Solange es leider keine klaren Spielregeln gibt, muss jeder Politiker selbst wissen, wie weit er gehen will.
Welche Regeln haben Sie sich auferlegt?
Für mich war stets klar: Einem Politiker ein Essen im üblichen Rahmen zu offerieren, ist unproblematisch. Ihn zu einer Übernachtung einzuladen, kommt hingegen nicht infrage.
Wie verwerflich finden Sie es, wenn Bundesräte nach ihrer Amtszeit gut bezahlte Jobs in Branchen annehmen, die sie vorher reguliert haben?
Auch hier wünschte ich mir mehr Zurückhaltung. Es war ein schlechtes Signal, als Ruth Metzler eineinhalb Jahre nach ihrer Abwahl ein Angebot von Novartis annahm. Noch weniger Zeit liess sich Moritz Leuenberger, der sieben Monate nach seinem Rücktritt Verwaltungsrat beim Bauunternehmer Implenia wurde. Und auch die im vergangenen Jahr zurückgetretene Doris Leuthard dürfte inzwischen selbst wissen, dass es unsensibel war, derart rasch zu Coop zu wechseln.
Weshalb halten Sie Leuthards Engagement für unsensibel?
Hansueli Loosli ist nicht nur Coop-Präsident, sondern auch Swisscom-Chef. In dieser Funktion bewegte er sich jahrelang in Leuthards Zuständigkeitsbereich, wobei sich die Bundesrätin nicht durch eine besonders Swisscom-kritische Haltung auszeichnete. Solche Verbandelungen sind heikel.
Hätten Sie sich Doris Leuthard nicht einfach als Migros-Präsidentin gewünscht und sind nun neidisch auf Konkurrent Coop?
Ich weiss nicht, ob Doris Leuthard angefragt worden ist. Hätte man mich Migros-intern um Rat gefragt, hätte ich gesagt: Sie wäre eine gute Besetzung – aber nicht sofort.
Der Nationalrat will ehemaligen Bundesräten untersagen, nach ihrer Amtszeit Mandate in Unternehmen anzunehmen, die einen engen Bezug zu ihrem Departement haben. Was halten Sie davon?
Ich unterstütze diese Idee, bin jedoch der Ansicht, dass eine Wartezeit von einem Jahr genügt. Übrigens: Der Drehtüreffekt ist nicht nur bei Bundesräten heikel, sondern auch bei hohen Verwaltungsangestellten. Auch da wären klare Regeln nötig.
Wenn man Ihnen so zuhört, klingen Sie nicht gerade wie ein Pensionierter. Kann es sein, dass der Migros-Lobbyist Schläpfer zwar im Ruhestand ist, der Lobbyist Schläpfer aber noch lange nicht?
Klar, den Lobbyisten in mir kann ich nicht so einfach abstellen. Als politisch interessierter Mensch will ich eben die Prozesse weiterverfolgen. Kommt ein Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative zustande? Wie kommt die Trinkwasserinitiative im Parlament an? Bei bestimmten Geschäften werde ich von Kollegen nach wie vor um Rat gefragt. Denn fürs Lobbying gibt es kein einfaches Rezept. Das politische Gespür ist entscheidend. Dabei hilft mir meine Erfahrung. Aber trotz der vielen Jahre in Bern kann man sich noch grandios irren.