Aus der Redaktion

Warum wir Ihnen heute eine fiktive Geschichte erzählen

Wir haben über die Nebenämter von Parlamentarierinnen recherchiert – und eine Story geschrieben, die so nicht passiert ist. Ist das überhaupt Journalismus?

Von Philipp Albrecht, 02.10.2019

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Stellen Sie sich vor, Sie würden in den Nationalrat gewählt. Die Schweiz hat ein Milizparlament. Wie also bringen Sie Ihr Polit- und Berufsleben zusammen?

Wir haben für den Auftakt zu unserem Lobby-Schwerpunkt eine fiktive Geschichte geschrieben – in der Du-Perspektive.

Diesen Weg haben wir gewählt, nachdem wir ausführlich zum Thema Interessen­vertretung recherchiert hatten. Dabei hatten wir folgendes Problem: Wie verfasst man dazu einen Text, der dem Publikum nicht einfach Namen und Zahlen entgegenschleudert? Denn so sind journalistische Texte über das Thema in der Regel formuliert: Man schaut, wer am meisten Ämter hat, was er damit verdient und wie er im Parlament abstimmt. Fertig.

Doch damit wird man dem Thema noch nicht wirklich gerecht. Wie fast überall gibt es auch hier weder schwarz noch weiss. Wer ins Parlament gewählt wird, bringt zwar in vielen Fällen einen Beruf mit, kann ihn danach aber nicht mehr im gleichen Masse ausüben. Einige satteln um und richten ihr Berufsleben auf ihr politisches Amt aus. Andere vertreten ihre angestammte Branche als Verbands­präsident. Und wieder andere nehmen einfach jedes Nebenamt an, das ihnen offeriert wird.

Egal, zu welcher Gruppe man gehört: Jede Nationalrätin sollte sich irgendwo spezialisieren, jeder Ständerat braucht eine Etikette. «Eine Politikerin, die man keinem Thema zuordnen kann, hat es im Kampf um mediale Aufmerksamkeit schwer», sagt Lobbying-Profi Martin Schläpfer. Genau darum braucht es auch Nebenämter.

Sie sind an sich nicht verwerflich. Doch gerade dominiert das Thema den Wahlkampf. Roger Köppel griff damit seine Konkurrenten um einen Zürcher Ständeratssitz an, und Cédric Wermuth engagierte Journalisten, damit sie für ihn einen Bericht über die lukrativen Nebenämter von bürgerlichen Politikern schreiben. Warum treffen sie damit einen wunden Punkt?

Weil viele Parlamentarier tatsächlich jedes Mass verloren haben.

Bevor er Bundesrat wurde, verdiente Ignazio Cassis als Präsident des Krankenkassen­verbandes Curafutura 180’000 Franken. Rechnet man Spesen und Sozialleistungen dazu, waren es sogar 240’000 Franken. Sein Lohn wurde aufgedeckt, kurz bevor er im November 2015 an die Spitze der FDP-Fraktion gewählt wurde. Experten bezeichneten seine Entschädigung als «fürstlich», Cassis reagierte abweisend: «In einem Milizparlament sind die Berufseinkünfte privat.» Damit brachte er den Stein erst recht ins Rollen. Die Medien nahmen das Thema auf, fragten vielerorts nach den Vergütungen. Als erste Konsequenz verdient Cassis’ Nachfolger für den Job, FDP-Ständerat Josef Dittli, «nur» noch 140’000 Franken. Aber ist es damit wirklich getan?

Spricht man nun vor den Wahlen Parlamentarier auf ihre Nebeneinkünfte an, reagieren sie auf zwei Arten. Entweder: Sie sind gereizt, antworten widersprüchlich und betonen, dass sie unabhängig seien und nichts Verbotenes machten. Oder: Sie erklären detailliert, was sie in ihren jeweiligen Ämtern machen und dass sie ideologisch zu 100 Prozent hinter jedem Amt stehen.

Keiner gibt allerdings offen zu, dass er sich bei gewissen Posten manchmal fragt, ob Arbeitspensum und Entschädigung noch in einem gesunden Verhältnis stehen. Aus zahlreichen Hintergrund­gesprächen wissen wir aber, dass es diese Zweifel gibt.

Unsere Geschichte ist aus diesem Grund zwar erfunden, aber nicht falsch. Sie erzählt davon, wie eine Neo-Nationalrätin versucht, gleichzeitig Einkommen und Glaubwürdigkeit zu sichern. Was die Lobbyisten und Politiker in der Geschichte erzählen, haben sie der Republik so gesagt.

«Stell dir vor …», so beginnt unser Text. Und das ist sein Ziel. Wir haben die Du-Perspektive gewählt, damit Sie sich fragen, wie Sie selber handeln würden.

Journalismus schafft es im besten Fall, Zusammenhänge aufzuzeigen, zum Nachdenken und zum Hinterfragen anzuregen. Ist uns das gelungen? Wir sind gespannt auf Ihr Feedback.