Aus dem Schatten ins Sünneli: Magdalena Martullo im Wahlkampf auf dem Majoranplatz in der Churer Altstadt.

Methode Martullo

Sie gehört zum innersten Zirkel der SVP, ist eine mächtige Unternehmerin, reicher als alle anderen Parlamentarier zusammen. Ihr Wahlkampf? Ein Lehrstück in Menschenfängerei. Wer ist Magdalena Martullo?

Von Elia Blülle, Dennis Bühler, Anja Conzett (Text) und Reto Sterchi (Bilder), 21.09.2019

Fester Händedruck, heiterlaute Stimme, die blauen Augen halten Blickkontakt – und schon hat sie dich in ihrem Bann.

Sie stellt sich nur knapp vor. Denn sie kann sich darauf verlassen, dass du sie kennst. Und darum geht es erst mal nur um dich: Wer du bist, woher du kommst, wohin du gerade gehst. Was dich beschäftigt und besorgt. Und weil sie so direkt, so unverblümt fragt, so als ginge es sie tatsächlich etwas an, antwortest du ihr – ehrlich, unverstellt. Und was immer du ihr erzählst – sie findet eine Gemeinsamkeit.

Eine Sorge in ihrem Leben, eine Anekdote, etwas Persönliches oder einfach einen Spruch, den du verstehen wirst. Sie wird dir auch nichts über Politik erzählen, wenn du das nicht willst. Ein Gespräch von Mensch zu Mensch. Zwischen dir und ihr, der Milliardärin, der National­rätin, der grössten Unter­nehmerin im Kanton.

Sie nimmt sich fünf bis zehn Minuten Zeit für dich. Und erst ganz am Schluss stellt sie dir die Frage, ob du in Graubünden wahlberechtigt bist.

Wirst du sie wählen? Sie hört dir zu und nimmt deine Sorgen ernst. Oder?

Aus dem Körbli, das sie locker an den Arm gehängt trägt, drückt sie dir ein Schöggeli in die Hand. Keinen Flyer, den du danach entsorgen müsstest. Sie klopft dir zum Abschied auf den Oberarm oder drückt dir noch einmal fest die Hand.

Es hat sie gefreut. Und dich irgendwie auch. Selbst wenn du noch nie SVP gewählt hast.

Wer wissen will, wie Wahlkampf geht, sollte bei Magdalena Martullo in die Lehre gehen. Sie ist eine elektorale Natur­gewalt, der man sich kaum entziehen kann. Gut möglich, dass sie die Schweizer Politik die nächsten Jahr­zehnte prägen und verändern wird. Die Bündner National­rätin ist eine der reichsten Frauen der Schweiz, führt mit der Ems-Chemie eine milliarden­schwere Traditions­firma. Manche sehen sie als Nachfolgerin von SVP-Bundesrat Ueli Maurer.

Martullo ist sich für keine Hunds­verlochete zu schade. Kein Anlass ist ihr zu gering, die Medien einzuladen. Auch mit Nachdruck, wenn es sein muss. Die Republik aber ist nicht willkommen. Wiederholt haben wir die Politikerin um ein Interview gebeten. Jedes Mal kam eine Absage. Die offizielle Begründung: keine Zeit.

Wir haben uns trotzdem an ihre Fersen geheftet: in Chur, Bern, Grüsch und Domat/Ems.

Im Zürcher Stil: Selbstbewusst, laut, polternd

Ein Samstag im August, 10 Uhr, Majoranplatz, Altstadt von Chur. Der Brunnen und die Ländler­kapelle plätschern. Das hellblaue Seiden­jackett glänzt im matten Morgen­licht. Keine Sekunde klebt Magdalena Martullo am Stand der SVP Graubünden fest. Sie steht nur still, wenn sie im Gespräch ist, holt die Passantinnen ab, bevor diese realisieren, dass sie gerade in einen Wahlkampf laufen.

Auf dem Platz offenbart Martullo den wahren Grund für ihre selektive Medien­scheu. «Republik?», fragt sie in pöbliger Manier. «Mit euch rede ich nicht. Ihr habt nur schlecht über mich geschrieben, damit ich euch verklage und ihr die Auflage steigern könnt.»

Auch Heinz Brand, der zweite Bündner Nationalrat der SVP auf dem Majoranplatz, ist nicht gut auf die Republik zu sprechen. Bei der letzten Begegnung liess er die Republik aus einer öffentlichen Veranstaltung werfen – aus Frust über die Berichterstattung zum Bündner Baukartell.

Brand und Martullo treten bei den Wahlen am 20. Oktober auf verschiedenen Listen für die SVP an. Auch wenn das in der SVP keiner zugeben will: Die beiden Bündner Nationalräte kämpfen nicht mit-, sondern vor allem gegen­einander. Die beiden Listen haben das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Brand und Martullo wollen wieder­gewählt werden. Und zwar mit besserem Resultat als die jeweils andere Kandidatin.

Selfies, Armklopfen, ein persönliches Gespräch: Wer wissen will, wie Wahlkampf geht, sollte bei Magdalena Martullo in die Lehre gehen.

Vor vier Jahren hatte die SVP nur dank 92 Stimmen einen zweiten Sitz geholt. Martullo schaffte die Überraschung und wurde in den Nationalrat gewählt. Nun, 2019, muss sie bangen. Die jüngsten Umfragen zeigen: Einer von zwei SVP-Sitzen wackelt bedenklich. Die Prognosen sind düster. Verliert die SVP nur 1 Prozent, könnte der zweite Bündner Sitz verloren gehen.

Die grosse Frage ist: Wer muss über die Klippe springen, Brand oder Martullo?

Graubünden ist ein struktur­schwacher, dreisprachiger, sozial klein- und geografisch weiträumiger Grenz­kanton. Als Politiker kämpft man im Zweifel lieber miteinander statt gegen­einander. Politiker aus Graubünden gelten deshalb als nüchterner und diplomatischer als andere.

So wie Heinz Brand, der abwägende, immer leicht geduckte, kühle Bündner.

Anders Magdalena Martullo. Sie politisiert im Stil der Zürcher: selbstbewusst, laut, polternd, ohne Rücksicht auf Verluste.

Martullo und Brand – sie könnten gegensätzlicher nicht sein.

Während sie munter jeden ins Gespräch verwickelt, der bei drei nicht auf den Bäumen ist, hält Brand sich hinter Tisch und Plakaten auf, plaudert vornehmlich mit Bekannten und Begleitern, bevor er sich langsam auf die offene Gasse wagt und noch ein, zwei Gespräche mit Passanten führt. Der Star auf dem Churer Majoran­platz ist Martullo.

Vornehm gekleidete Damen stehen Schlange, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, Polizisten im Dienst bitten um Selfies – und wie immer, wenn jemand nach einem Foto fragt, streckt Martullo kommentarlos das Körbli von sich weg, und ihr persönlicher Mitarbeiter ist zur Stelle, um es der Chefin abzunehmen und das Bild zu schiessen. Fast alle, die mit ihr geredet haben, sind angetan.

Die Frauen bewundern sie als Unter­nehmerin und National­rätin. Loben ihre Auftritte in der «Arena». Die Männer tun das auch, aber die meisten fügen an: Ich fand halt schon den Vater gut.

Brand oder Martullo? Auf dem Churer Majoranplatz sagen die meisten «Martullo». Und meinen eigentlich «Blocher».

Das weiss Magdalena Martullo. Früher sagte sie, Doppel­namen seien umständlich, und liess die Lokal­journalisten in Graubünden wissen, sie heisse Martullo, nicht Martullo-Blocher. Aber auf die Plakate ihres ersten Wahl­kampfs liess sie 2015 dann doch Martullo-Blocher drucken. Und kaum war sie gewählt, korrigierte sie an der Wahlfeier einen Journalisten, der sie beim Doppel­namen nannte, mit einem knappen «Martullo!».

Heute wirbt sie auf den Plakaten wieder mit Martullo-Blocher.

Warum auch nicht? Die Gegner belächeln sie als Abklatsch des Alten.

Doch: Martullo ist längst mehr als eine Blocher.

«Das schadet doch dem Chindli nüt»

Magdalena Martullo kommt 1969 in Meilen als ältestes von vier Kindern auf die Welt. In dem Jahr, als ihr Vater in die Rechts­abteilung der «Emser Werke AG» eintritt. Als Firmen­inhaber Werner Oswald stirbt, wird Christoph Blocher von dessen Söhnen beauftragt, einen Käufer für das krisen­gebeutelte Unter­nehmen zu finden. Er kauft es selbst – zu einem sehr günstigen Preis. Der Coup seines Lebens.

Für Magdalena Martullo ist es ein Ereignis, das ihre Kindheit überschattet. Der «Bilanz» sagte sie in einem ihrer ersten Interviews im Januar 2003, sie hätten nachher kein Geld mehr gehabt. «Wir wohnten zwar in einem Haus, aber das gehörte der Bank. Wir – mein Bruder und ich – konnten nie sagen: ‹Wir sind jetzt super, wir sind reich, wir sind jetzt Unternehmer­kinder.› Wir waren noch ärmer als die anderen, die mit uns in die Schule gingen. Wir trugen Kleider von Freunden und der älteren Geschwister.»

Als Martullo nach der Matur verkündet, sie wolle Wirtschaft studieren, sagt ihr Vater, Wirtschaft müsse man nicht studieren, sondern in der Praxis erlernen. Sie studiert trotzdem Betriebs­wirtschaft, arbeitet später bei einem US-amerikanischen Pharma­konzern und geht dann zu Rivella, wo sie als Marketing­chefin Rivella Grün lanciert.

2001 kehrt sie zur Ems-Chemie zurück, wo sie als Gymnasiastin während der Ferien gejobbt hat. Als ihr Vater zwei Jahre später in den Bundesrat gewählt wird, muss Martullo übernehmen: Sie wird Konzern­chefin. Zwar ist sie gerade mit ihrem ersten Kind schwanger. Doch der Vater meint: «Das schadet doch dem Chindli nüt.»

Der Auftrag kommt vom Vater. Sie kann ihn nicht ausschlagen. Bald aber fühlt auch sie sich von einer Art höherer Macht berufen – wie bereits ihr Vater. Der behauptete vor seiner Kür in den Bundesrat, eine Wahl käme für ihn einer Bestrafung gleich.

Auch Martullo will nie. Sie muss.

Im Herbst 2017 beginnt Martullo, den Boden zu bereiten, um dereinst die Nachfolge von Bundesrat Ueli Maurer anzutreten. «Eigentlich wollte ich auch nie zur Ems-Chemie oder in die Politik – und was mache ich heute?», sagt sie der «Südostschweiz». Zwei Wochen später, im November 2017, landet sie mit einer entschlossenen Ansage auf der Titelseite des «SonntagsBlicks». In grossen Lettern heisst es dort: «Martullo bereit für den Bundesrat».

«Im Notfall», sagt sie, würde sie das Amt in Betracht ziehen.

Keine Berührungsängste: Magdalena Martullo verwickelt die Passantinnen im Wahlkampf auf den Churer Strassen problemlos in ein Gespräch. Fast alle, die mit ihr geredet haben, sind angetan.

Martullo beherrscht die Medien­klaviatur. Mit der Presse spricht sie dann, wenn es ihr nützt. Wenn kritische Fragen drohen, weicht sie aus. Selbst die bürgerliche «NZZ am Sonntag» rannte vergebens an, als sie Martullo mitten im Wahlkampf interviewen wollte. Während andere Politiker dafür ihren Kalender sofort freigeräumt hätten, blitzte der Journalist bei Martullo mit der schon bekannten Begründung ab: keine Zeit.

Freundlicher gestaltet sich ihr Verhältnis zur Ringier-Presse. Kein Wunder: Im Wahlkampf 2015 widmet der «Blick» der Zürcherin, die im fernen Graubünden antritt, zehn redaktionelle Seiten. Und wenige Tage bevor die Wahl­couverts in die Haushalte flattern, publiziert die «Schweizer Illustrierte» eine Homestory, in der sich Martullo in ihrem Ferienhaus oberhalb der Lenzerheide inszenieren darf.

Vier Jahre später wartet das People-Magazin erneut bei der Unter­nehmerin auf. «Liebe in den Bündner Bergen» lautet der Titel der sechs­seitigen Eloge, die vergangene Woche erschienen ist. Sie zeigt Familie Martullo beim Bräteln, Familie Martullo beim Wandern, Magdalena und ihren Mann beim Kuss auf dem Sessellift.

Auch während der Legislatur lässt die Ringier-Presse keine Gelegenheit aus, Martullo ins beste Licht zu rücken. «Für viele Feindbild, für die Umwelt Vorbild», titelt der «Blick» Mitte März 2019 im Rahmen einer mehrteiligen Serie zum Klimawandel. Und zitiert Martullo – «die grösste Klima­aktivistin hierzulande» – mit den Worten: «Wir sind die Schweizer Firma, die am meisten CO2 reduziert!»

Fünf Monate später berichtet die «SonntagsZeitung», was Martullo und «Blick» unerwähnt liessen: Die Ems agiert keineswegs selbstlos – sie erhält für die Einsparungen von der Stiftung «Klimaschutz und CO2-Kompensation» Jahr für Jahr eine knappe Million.

Fleiss, Familie und Finanz­power

In der Partei steigt Magdalena Martullo schnell auf. Nach ihrer Wahl in den Nationalrat im Jahr 2015 ergattert sie einen Sitz in der wichtigen Wirtschafts­kommission. Gewöhnlich müssen Politiker mindestens vier, meist gar acht Jahre auf diese Ehre warten. Erst recht in einer so grossen Fraktion wie der SVP.

Martullo gehört heute zum innersten SVP-Machtzirkel. Im März 2018 wird sie Vize­präsidentin und Mitglied des Partei­leitungs­ausschusses. Gemeinsam mit Thomas Aeschi, Franz Grüter und Thomas Matter gibt sie in wirtschafts- und finanz­politischen Fragen den Kurs vor; mit Albert Rösti, Adrian Amstutz, Roger Köppel und ihrem Vater Christoph Blocher bestimmt sie die Parteistrategie.

Den rasanten Aufstieg schafft Martullo dank einer Mischung aus Fleiss, Familie und Finanz­power. Aber auch aufgrund ihrer Durchsetzungskraft.

In ihrem ersten Jahr in Bern erarbeitet sie mit dem Dossier­verantwortlichen Franz Grüter und Parteivize Thomas Aeschi ein SVP-Positions­papier zur Finanz­politik. Die Telefon­konferenzen dazu finden um 6 Uhr morgens statt. Später habe sie jeweils keine Zeit mehr gehabt, erinnert sich Grüter.

Politik als Zeit­verschwendung, als unliebsames Ämtli: Martullo stellt ihre Gering­schätzung gegenüber Bundesbern ausgiebig zur Schau. Die Sessions­zeit könnte halbiert werden, fluchte sie vor zwei Jahren: «Aber bei Berufs­politikern, die von Sitzungs­geldern leben, haben solche Anliegen natürlich keine Chance.» Und weil Martullo oft Besseres zu tun hat, als sich mit Sachpolitik herum­zuschlagen, lässt sie sich in Kommissions­sitzungen so oft vertreten wie niemand sonst. Meist übernimmt ihren Platz Mauro Tuena, ein Zürcher Hinter­bänkler. Keiner, der ihr gefährlich werden könnte.

Ihr Einfluss auf die SVP-Fraktion könne kaum überschätzt werden, sagt CVP-Nationalrat und Bauernverbands­präsident Markus Ritter, der sie aus der Kommission kennt und schätzt: «Wenn man Martullo bei einem Anliegen auf seiner Seite weiss, kann man zuversichtlich in eine Abstimmung gehen.»

Kein Wunder: Egal, wo sie ist, egal, wer ihr gegenübersitzt – Martullo gibt den Ton an. Dass sie und Roger Köppel einander nicht leiden können, bestätigen auch die eigenen Reihen. Und auch an einer anderen Sache lassen SVP-Kreise keinen Zweifel: Die Einzige, die Christoph Blocher Paroli bietet, ist seine eigene Tochter. Oder: «Der Alte hat Schiss vor ihr.»

Wie viel Macht Martullo in der Partei geniesst, zeigt der laufende Wahlkampf. Angesicht der drohenden Abwahl Martullos hat die SVP Graubünden intern die kantonalen Wahlregeln geändert.

Beim vorzeitigen Abtritt eines SVP-Nationalrats rückt nicht der zweitbeste Kandidat der gleichen Liste nach, wie es das Bündner Wahlsystem eigentlich vorsieht. Sondern der zweitbeste Kandidat der Partei überhaupt – unabhängig von der Liste. So schreibt es die «Südostschweiz». Da Martullo und Brand auf zwei unterschiedlichen Listen antreten und Martullo zwar die meisten Kopf­stimmen, aber ihre Liste höchst­wahrscheinlich nur das zweitbeste Resultat erreichen wird, würde sie als Einzige von dieser Regel profitieren. Sprich: Sollte Brand nach seinem Präsidial­jahr abtreten, hätte Martullo ihren Sitz auf sicher. Vier eigentlich gewählte Kandidaten auf Brands Liste müssten verzichten.

Eine Bündner Nachrutsch­garantie für die Zürcher Milliardärin. Der Lohn für ihre politische Arbeit. Denn in den vier Jahren als National­rätin hat sie nichts falsch gemacht. Weder aus Sicht von Graubünden noch aus Sicht der SVP.

Ihre Themen orientieren sich am Bündner Pflicht­programm: Tourismus, Land­wirtschaft und Wasserkraft. Einige SVP-Mitglieder bemängeln ihre fehlende thematische Breite. Bei keiner anderen Vorlage ist sie im Rat so oft zum Rednerpult geschritten wie bei den Diskussionen ums Jagdgesetz. Ein Bündner Klassiker.

Im Gegensatz zu ihrem Vater und anderen SVP-Hardlinern verzichtet sie auf Polemik. Fremden­feindliche Sprüche gehören nicht zu ihrem Repertoire. Der Publizist Karl Lüönd sagt, Martullo arbeite in der Politik sehr zielgerichtet – wie bereits im Unternehmen.

Lüönd hat vor zehn Jahren mit Martullo ein Buch über die Ems-Chemie geschrieben und erinnert sich gerne an die Zusammen­arbeit: «Martullo hat Diskussionen immer schnell beendet. Sie redet nie um den Brei, trennt Wesentliches von Unwesentlichem. Eine Sitzung mit Martullo dauerte selten länger als fünfzehn Minuten. Anders als ihr Vater fällt sie immer klare, überlegte Entscheidungen. Nie aus dem Bauch heraus.»

Er habe immer den Eindruck gehabt, ihr politisches Engagement ergebe sich aus den Problemen als Unter­nehmerin, sagt Lüönd.

Martullo vertritt in Bern nicht nur ihren Kanton und die Partei, sondern vor allem ihre eigene Firma. Ihre engsten politischen Mitarbeiter – allesamt Männer – sind zugleich Kader der Ems-Chemie. Über Martullo geniesst der Weltkonzern einen äusserst privilegierten Zugang zur Politik und zu ihren Entscheidungs­trägern. Ihr Ziel: den staatlichen Einfluss auf das Unternehmen zu minimieren.

In der Partei treibt sie den wirtschafts­liberalen Flügel an mit dem Ziel, die FDP als Darling der Banken und Gross­konzerne gänzlich abzulösen. So forderte sie 2018 etwa, dass für jede neue Regulierung eine bisherige mit doppelt so hohen Folgekosten ausser Kraft gesetzt werden müsse. Ein Prinzip, das zuvor Donald Trump in den USA per Verordnung eingeführt hatte und auch der deutsche FDP-Vorsitzende Christian Lindner aktiv bewirbt.

Bei Martullo verwischen die Grenzen zwischen politischem Engagement und unter­nehmerischer Tätigkeit. Das eine ergänzt das andere. Eine Symbiose, der sich im Kanton Graubünden kaum mehr jemand entziehen kann und die sich noch nie so stark bemerkbar gemacht hat wie in den letzten Monaten: im für Martullo wegweisenden Wahlkampf 2019.

Die Ems ist gut zu dir, also sei auch du gut zu ihr

Die Ems-Chemie hat einen eigenen Bahnhof, und den kann sie an diesem Samstag im Juni auch gut gebrauchen. Chefin Magdalena Martullo hat zum Tag der offenen Tür eingeladen. Man steht Schlange: 14’000 Leute wollen die Ems von innen sehen, fast so viele, wie Martullo 2015 wählten (18’901). Und eine Gratis­bratwurst, zwei Gratis­getränke und ein Gratis­dessert abholen.

Letztmals fand der Anlass 2007 statt, auch ein Wahljahr. Christoph Blocher war damals noch Bundesrat. «Blocher stärken, SVP wählen» forderte die Partei auf Plakaten. Vergeblich: Nach den Wahlen wählte das Parlament den SVP-Übervater als Bundesrat ab.

Diesmal geht es um die Ems-Chefin Martullo. Wieder perfekt getimt. Der Weg zum Fest führt durch mehrere Hallen. In der ersten wird die Firmen­geschichte gezeigt: als so harmonische wie unaufhaltsame Erfolgsstory.

In der zweiten die Ems-Produkte in unserem Alltag: vom Kopf der elektrischen Zahnbürste über den Skischuh bis zur Autositz­schale. In der dritten laufen die Maschinen und produzieren Plastikfäden.

Eine Schautafel zeigt die Ems als Weltkonzern: Produktion zu 48 Prozent in der Schweiz, Verkauf zu 96 Prozent im Ausland. Danke, Magdalena Martullo.

Nächste Schautafel: Ems – grösste Steuer­zahlerin in Graubünden. In der Schweiz 210 Millionen Franken jährlich, in Domat/Ems 40 Millionen, in Graubünden 50 Millionen, Sozialversicherungs­beiträge 15 Millionen. Danke, Magdalena Martullo.

Im nächsten Raum erfährt man, welche Form der Dank annehmen soll. Da hängt das grosse Plakat: «Bewährt für Graubünden. Magdalena Martullo-Blocher wieder in den Nationalrat.» Und der Hinweis für die Unerfahrenen: Man nehme bitte die Liste 14 und setze ihren Namen zweimal drauf.

Die Frauen bewundern Martullo als Unternehmerin und Nationalrätin, loben ihre Auftritte in der «Arena». Die Männer tun das auch, aber die meisten fügen an: Ich fand halt schon den Vater gut.

Die Ems ist gut zu dir. Also sei auch du gut zu ihr. Und gib deine Stimme der Firmen­chefin. Denn die grösste Arbeit­geberin des Kantons («> 1000 Mitarbeiter, Lohnkosten > 100 Millionen Franken») ist auch eine grosse Wohltäterin. Martullos Vermögen wird auf 4 Milliarden Franken geschätzt. Sie ist die mit Abstand reichste Politikerin der Schweiz und verfügt schätzungsweise über fünfmal so viel Geld wie alle anderen Parlamentarier zusammen.

Der Erfolg der Ems-Chemie beruht darauf, dass sie eine Palette an qualitativ hochstehenden Produkten hat, die schwierig herzustellen sind – genauer gesagt: Hochleistungs­polymer-Kunst­stoff, der erst bei 350 Grad Celsius schmilzt. Dazu kommen ein enorm gutes Marketing und eine heraus­ragende Grosskunden­betreuung: In der Ems stehen Duplikate jener Maschinen, die ihre besten Kunden benutzen, um das Rohmaterial direkt darauf zu testen und zu justieren – ein beispiel­loser Service.

Der lange Weg, der zum Festplatz führt, ist gesäumt von Schau­tafeln: Die Ems unterstützt das Spitexmobil, die Ems unterstützt die Stiftung für Berg­bäuerinnen und Berg­bauern, die Ems vermietet 350 Wohnungen und Häuser in Graubünden und 120 Schrebergärten, sie ist am Golf Club Domat/Ems beteiligt, sie unterstützt den Schweizerischen Solo- und Quartett­wettbewerb in Chur, die Kammer­philharmonie Graubünden, die Landwirtschafts­ausstellung Agrischa, die Fussball-Ferien­schule FC Ems, den Zauber­wald Lenzerheide, den Patent­jäger­verband Graubünden, Beni’s Super-G in Flims-Laax-Falera, das Bündner Nachwuchs- und Frühjahrs­schwingfest, die Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur, das Skitouren-Weltcup­rennen Disentis, das kantonale Musikfest Arosa, die Domorgel der Kathedrale Chur, die Bündner und Glarner Kantonal­schwingfeste, den Tambouren­verein Domat/Ems, den Eislaufclub Flims-Surselva, das Bündner und Glarner Kantonal­turnfest, die Singschule Chur, das Eidgenössische Jodlerfest Davos/Klosters, den Motorik­park Trin, den Fussball­club Ems, die Opera Viva Obersaxen, das Sprach- und Kulturfestival Lia Rumantscha, das Bergfahrt Festival Bergün, den Pumptrack Domat/Ems, den Chor Surselva, Chur Unihockey, den Engadin Radmarathon, Musica da Domat, die Porta Aviarta Domat/Ems, den Verein Bündner Barock, den Schweizerischen Feuerwehr­wettkampf, die Schlossoper Haldenstein, die Klosterkirche St. Martin Disentis, die Restauration der Orgel der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt Domat/Ems, den Garten des Cuort Ligia Grischa in Trun, das Museum Regiunal Surselva, das Iisparadies Lenzerheide.

Und dann, nach 42 farbigen Fototafeln, nach 42 plakatgrossen Zeugnissen der Grosszügigkeit der Ems-Chemie, erreicht man das Fest. Ein Riesenrad dreht, Buben und Väter spielen Hau den Lukas, es gibt Magenbrot und Glace. Und ein fussballfeld­grosses Festzelt mit VIP-Bereich und Bühne.

Dort moderieren die SRF-Lieblinge Sven Epiney und Annina Campell. Wenn sie nicht die Country Dancers von der Lenzerheide ansagen oder ein 14-jähriges Singtalent aus Schiers, dann vertreiben sie dem Publikum die Zeit mit Ratespielen.

«Als Preis gibt es etwas aus den wunderbaren Polymeren der Ems-Chemie», sagt Epiney: «Einen Nussknacker.»

Die Aufgabe: das Gewicht einer Emser Hi-Tech-Plastik­krücke schätzen. Martullo tritt an gegen die Standes­präsidentin des Bündner Parlaments, Tina Gartmann-Albin. Die Sozial­demokratin kann nur schlecht verbergen, dass sie nur ihres Amtes wegen hier ist und nicht aus freien Stücken.

«Die Ems stellt nicht nur Krücken her, sondern auch Brillen mit Sensoren, die die Hirn­ströme messen», sagt Epiney.

Martullo reagiert mit einer spontanen Kostprobe ihres feinen Humors: «In Bern im Parlament würde die bei manchen Leuten nichts messen.»

Epiney: «Was vermissen Sie am meisten, wenn Sie in Bern sind?»

Martullo: «Alles. Die Ems, die Berge, die Leute, all das hier.»

Epiney: «Und worauf von dem, was Sie in Bern erreicht haben, sind Sie am meisten stolz?»

Martullo: «Auf den Erhalt der Wasser­zinsen und auf die Tourismus­förderung. Mehr als die Hälfte der Arbeits­plätze in Graubünden hängen vom Tourismus ab.»

Dafür erntet sie Applaus. Ihr Vater hatte als Bundesrat das Budget von Tourismus Schweiz noch auf einen Franken kürzen wollen. Doch sie weiss, was ihre Wählerschaft hören will.

«Martullo hört gar nicht mehr auf zu schütteln»

Fünfzehn Gehminuten vom Festtreiben entfernt steht das Haus von Gustav Ott. Indische Laufenten watscheln durch den Garten, die Feigen und Birnen sind erntereif, ein Kübel Kartoffeln steht auf der Terrasse. Ott würde nicht im Traum daran denken, an Martullos Fest zu gehen.

Brand oder Martullo? Auf dem Churer Majoranplatz sagen die meisten «Martullo». Und meinen eigentlich «Blocher».

Er kritisiert den Umgang Martullos mit ihren Mitarbeitern seit Jahren und meint, er sei einer der wenigen im Dorf, die öffentlich sagen, was viele denken. Zwanzig Jahre lang war er Betriebs­arzt der Ems-Chemie, unter Blocher, unter Martullo – bis er 2009 genug gesehen hatte und der «Bilanz» sagte, dass die Ems-Chemie im Zuge der Wirtschaftskrise über 200 Stellen gestrichen hatte, obwohl sie öffentliche Gelder für Kurz­arbeit entgegennahm.

Martullo stritt damals alles ab, aber Ott sagt, er habe die Zahlen im Intranet überprüfen können. Er hält bis heute an seiner Darstellung fest.

Der ehemalige Betriebsarzt und SP-Präsident der Gemeinde wirft der Ems-Chemie und Martullo auch vor, dass sie ihre Mitarbeiter als Kreditinstitut missbrauchen. 2012 schrieb er einen Leserbrief in der «Südostschweiz», dass die Firma ihre Angestellten verpflichte, Überstunden anzuhäufen und auf Ferien zu verzichten. Die Anweisung sei wohl wissend nie schriftlich erfolgt und die Massnahme damit begründet worden, dass man so bei der nächsten Krise nicht auf Kurzarbeit setzen müsse, sondern den Überzeit- und Feriensaldo abbauen könne.

Auch an diesem Vorwurf von damals hält Ott bis heute fest. Er schätzt, dass die Ems so jeder Mitarbeiterin kontinuierlich insgesamt vier Wochen unbezogene Arbeitszeit schulde: «Über den Daumen gepeilt sind das inklusive Sozial­abgaben 6 Millionen Franken Arbeitsleistung.»

Beweisen kann Ott seine Vorwürfe nicht. Die Betriebs­kommission der Ems-Chemie schreibt auf Anfrage, dass dieses Vorgehen dem Jahres­arbeitszeit­modell entspreche. Man arbeite in guten Zeiten mehr und kompensiere in schwierigen Zeiten – ohne Lohneinbusse.

Lange habe er zugesehen, sagt Ott rückblickend, wie sich die Arbeits­bedingungen in der Ems zunehmend verschlechterten. Die Grundlöhne der einfachen Produktions­mitarbeiter seien lausig, gewisse Methoden bedenklich: «Wenn ich zuletzt einem Angestellten attestierte, dass er aus gesund­heitlichen oder alters­bedingten Gründen keine Nachtschicht mehr machen könne, haben die Personal­verantwortlichen dem Betroffenen einen neuen Vertrag vorgelegt, bei dem er wesentlich weniger verdienen würde.»

Und wer diesen nicht annahm?

«Der erhielt bald darauf die Kündigung.»

Die Ems schreibt auf Anfrage, dass sie von einem entsprechenden Fall nichts wisse.

Gustav Ott ist 70 Jahre alt. Er betreibt noch immer seine Praxis im Dorf, ist in Domat/Ems verwurzelt. Er höre vieles über den, wie er es nennt, «grässlichen Umgang» Martullos mit ihren Mitarbeitern, sagt er. Auch wenn er nicht mehr so nah am Geschehen ist wie früher, erfährt er noch vieles aus dem Innern der Firma und redet auch darüber – für alle, die nicht könnten und sich nicht trauen würden, sich den Anweisungen der Chefetage zu widersetzen, die mitunter am Anschlag­brett hingen: Es sei «unstatthaft», mit Medien zu reden.

Die Arbeits­bedingungen seien schon unter Blocher schlechter geworden, sagt er. Doch nach seiner Wahl in den Bundesrat sei alles noch viel schlimmer geworden. Trotz hochprofitabler Abschlüsse habe Martullo die interne Sozial­stelle gestrichen und die Arbeitszeit von 42 auf 43 Stunden erhöht. Die Ems-Chemie schreibt, diese Änderung entspreche ebenfalls dem von der Arbeitnehmer­vertretung vorgeschlagenen Jahresarbeitszeitmodell.

Im Gegensatz zu Martullo sei Christoph Blocher ein Patron gewesen, erzählt Ott. Er habe hin und wieder Goldvreneli verteilt und grosszügig Lob gesprochen. Auch unter Blocher sei gejammert worden. Aber die Arbeiter hätten ihn geschätzt.

«Schon Blocher sagte, man müsse die Firma immer wieder mal durchschütteln, sonst würden die Leute träge.»

Und Martullo?

«Martullo hört gar nicht mehr auf zu schütteln.»

Knallharte Unternehmerin, verständnisvolle Mutter

Ott sagt, sie führe mit Härte, Druck, Angst­macherei – Reorganisation folge auf Reorganisation, Sparrunde auf Sparrunde. In der Ems herrsche ein Klima permanenter Verunsicherung. Nicht zuletzt, weil viele Arbeits­plätze Temporär­stellen seien, die jedes halbe Jahr neu verhandelt würden.

Diplomatischer spricht Bea Baselgia von Martullo. Die SP-Grossrätin war neun Jahre lang Gemeinde­präsidentin von Domat/Ems. 2016 trat sie zurück. Immer wieder sass sie mit Martullo am Verhandlungs­tisch. Die kleine Gemeinde gegen den grossen Weltkonzern. Ungleiche Spiesse?

Baselgia verneint: «Klar, die Ems-Chemie ist wichtig für den Kanton und für die Gemeinde noch wichtiger.» Aber sie habe Martullo von Anfang an klargemacht, dass die Privat­wirtschaft in einer Demokratie nicht alles diktieren könne. Martullo habe das akzeptiert.

Natürlich habe Martullo es trotzdem immer wieder versucht, mit ihrer direkten, fordernden Art. Baselgia hielt dagegen: «Wenn man genug Widerstand leistet, bringt sie einem Respekt entgegen.»

Gilt das nur für Frauen oder auch für Männer?

«Na ja. Ich sehe nicht wirklich viele Männer, die ihr die Stirn bieten. Sie?»

Im persönlichen Wahlkampf auf der Strasse läuft Martullo zur Hochform auf. Sie steht nur still, wenn sie im Gespräch ist, holt die Passantinnen ab, bevor diese realisieren, dass sie gerade in einen Wahlkampf laufen.

Am sympathischsten sei Martullo im Gespräch von Frau zu Frau, sagen mehrere ihrer Gegnerinnen. Wenn es um die Familie, um die Kinder gehe. Auch während des Wahlkampfs, im Gespräch mit potenziellen Wählerinnen, sind das ihre stärksten Momente. Dann wirkt sie ungewohnt sanft. Ihre Reue, nicht mehr Zeit mit ihren drei Kindern im Teenager­alter zu verbringen, scheint keine Phrase zu sein. Der Kummer darüber, dass ihre Kinder wegen ihr, der berühmten Mutter, bedrängt werden, wirkt aufrichtig.

Auch Bea Baselgia erinnert sich an das erste Treffen mit Martullo im Jahr 2008. Sie gingen gemeinsam essen. Ein offenes, nahbares Gespräch unter Frauen über die Doppel­belastung Karriere und Kinder.

«Damals dachte ich noch: Zeichnet man in der Öffentlichkeit etwa ein falsches Bild von Martullo?»

Die Ems-Chefin polarisiert: in Domat/Ems, im Kanton, in Bern. Man schätzt ihre unverfrorene Direktheit. Sie schreckt nicht davor zurück, an Delegierten­versammlungen dem eigenen Bundesrat ins Wort zu fallen oder in Talkshows ihre SVP-Kollegen zu kritisieren. Sie gilt als knallharte Unter­nehmerin, die mit strenger Hand führt und keine Widerrede duldet – zugleich aber den Konzern durch die Finanz­krise rettete und wieder auf Erfolgskurs gebracht hat. Martullo gibt sich als verständnis­volle Mutter, die mit potenziellen Wählerinnen über Kinder und Familie spricht, aber im nächsten Moment droht, den Gesamtarbeitsvertrag zu kündigen, sollte es ihren Mitarbeiterinnen einfallen, am Frauenstreik teilzunehmen.

Und Martullo ist Zürcherin. Keine Bündnerin.

Sie lebt an der Goldküste, in Meilen, wo sich viele Schwerreiche nieder­gelassen haben. Ihr Mann hat dreimal erfolglos für den Zürcher Kantonsrat kandidiert, ihre drei Kinder gehen dort zur Schule, und ihr berühmter Vater wohnt in der Nachbar­gemeinde. Der engste politische Mitarbeiter erledigt seine Geschäfte in Herrliberg, wo die Ems-Chemie eine Zweigstelle führt. Und trotzdem tritt Martullo für den Nationalrat im Kanton Graubünden an. Mehr als hundert Kilometer von ihrem Lebens­mittelpunkt entfernt.

Normalerweise wäre das in Graubünden der Tod einer Kandidatur. Man ist stolz auf das Lokal­kolorit: die Sprachen, die Berge, die Geschichte. Wieso wählten also ausgerechnet die heimat­verbundenen Bündner eine milliarden­schwere Unter­nehmerin vom Zürichsee­ufer als ihre Vertreterin nach Bern? Wegen des Geldes? Wegen des Namens?

Es ist komplizierter.

Die Trudi Gerster des Rahmenabkommens

Ein Dienstagabend Anfang September in Grüsch im Hotel Salätschis, einem Klotz im Stil der Sechziger­jahre, der aus unerfindlichen Gründen am schattigsten Ort des Dorfs steht. An den Wänden Bilder von Giraffen und Löwen, auf der Speisekarte Schnitzel und Pommes frites. Eigentlich ein Heimspiel. Im Prättigau hatte die SVP bei den letzten Wahlen rund 36 Prozent Stimmen­anteil. Martullo und Brand sind gekommen, um über das Rahmen­abkommen zu referieren. Es ist das SVP-Wahlkampf­thema Nummer eins.

Ein Nationalrat, eine Nationalrätin, zwei Kandidaten, ein persönlicher Mitarbeiter von Martullo, eine Journalistin mit Begleitung und 19 Zuhörer sind gekommen. Sogar ein Kandidat auf Martullos Liste, der gleich um die Ecke wohnt, bleibt der Veranstaltung fern. Die Referenten sind übel gelaunt.

Martullo beginnt mit einem fast einstündigen Referat aus Unternehmerinnen­sicht inklusive beiläufigen Bashings der anderen Parteien: «Die Linken, ja klar, die sind jetzt auch gegen das Rahmen­abkommen, aber nur, weil die Gewerkschaften sonst an Macht verlieren würden. Doch wie man hört, lassen sich die Linken nun kaufen und sind bald auch für das Rahmenabkommen …»

Blendet man die Inhalte aus, macht Martullo das grossartig. Die Trudi Gerster des Rahmenabkommens.

Danach spricht ihr Partei­freund und Konkurrent Heinz Brand. Konkreter und exakter als Martullo. Aber weniger mitreissend. Er hat einen anderen Vorteil: Er ist Prättigauer. Er weiss, wie die Leute im Saal funktionieren.

Martullo nicht. Sie hat zwar gelernt, bei den Themen Wasser­zinsen und Tourismus im Interesse Graubündens gegen die Mutter­partei zu stimmen, aber sie hat kein Gespür für die Eigenheiten des Kantons.

Wenn Martullo gefragt wird, was sie in Bern am meisten vermisse, sagt sie: «Alles. Die Ems, die Berge, die Leute, all das hier.»

Als sie vor vier Jahren zum ersten Mal kandidierte, soll laut einem Augen­zeugen am Churer Fest ein Passant gestichelt haben: Es sei mutig, mit so einer Zürischnorre in Graubünden anzutreten.

Er sei dem Dialekt nach auch nicht von hier, antwortete Martullo und merkte dabei nicht, dass der Mann Walser­deutsch redete, die inoffizielle vierte Kantons­sprache – und für Walser die einzig legitime Sprache überhaupt. Wer etwas gegen sie sagt, riskiert einen Hieb mit dem Chöttihammer.

Umso erstaunlicher, dass Martullo trotzdem gewählt wurde.

Das mag auch daran liegen, dass sie ihr Bild in der Öffentlichkeit sehr pflegt. Interviews gibt sie nur nach diktierten Bedingungen, selbst bei der Bildauswahl will sie mitreden. Wer nicht mitspielt, wird gerne mal angepfurrt. Oder die Politikerin lässt ihren persönlichen Mitarbeiter gleich direkt bei der Chefredaktion intervenieren.

Mehrere Quellen sagen übereinstimmend, Martullo und ihr Stab hätten grossen Druck auf die Chefetage der «Südostschweiz» ausgeübt.

Fakt ist: Martullo erhält von der «Südostschweiz» im Wahlkampf deutlich mehr Aufmerksamkeit als ihre Konkurrenten. Während Heinz Brand seit Anfang Jahr in 67 Artikeln erwähnt worden ist, schaffte es Martullo bereits mehr als 100-mal ins Blatt (die beiden ebenfalls wieder antretenden Bisherigen Martin Candinas, CVP, und Duri Campell, BDP, kamen lediglich 44- respektive 37-mal vor).

Fakt ist: Martullos Ems-Chemie gehört zu den häufigsten Inserenten der Somedia-Publikationen, schreibt sie doch die meisten offenen Stellen in der regionalen Presse aus.

Fakt ist: Die Ems-Chemie kann Einfluss ausüben, ist sie doch Mehrheits­besitzerin des durch Somedia heraus­gegebenen «Bündner Tagblatts» und stellt mit ihrem General­sekretär Conrad Gericke den Verwaltungsrats­präsidenten der Bündner Tagblatt Verlags AG. 2018 wurde die von Somedia geplante und bereits kommunizierte Zusammen­legung der Redaktionen des «Bündner Tagblatts» und der «Südostschweiz» in letzter Minute vereitelt.

Fakt ist: Somedia verfügt im Kanton Graubünden praktisch über ein Medien­monopol. Denn auch wenn die Redaktionen von «Südostschweiz», «Bündner Tagblatt», «Ruinaulta» und «La Quotidiana» auf dem Papier unabhängig voneinander sind, erscheinen die meisten Artikel über Martullo gleich in allen vier Zeitungen mit praktisch gleichem Inhalt.

Fakt ist zudem: Die einzige regionale Somedia-Konkurrentin «Bündner Nachrichten» ist eine kostenlose Wochen­zeitung mit einer Auflage von rund 20’000 Exemplaren. Sie gehört dem Verlag Swiss Regiomedia AG. Und dieser wiederum Martullos Vater, Christoph Blocher. Darin finden sich seine Kolumnen, keine kritischen Analysen des Geschäfts­gangs der Ems-Chemie oder des SVP-Wahlkampfs.

Sympathisch, heimelig, sorgfältig gecastet

Jeder Event, zu dem Martullo einlädt, ist eine kleine Show. Wann immer die Ems ihre Zahlen präsentiert, führen die Angestellten vor, was sie produzieren und woran sie gerade tüfteln. Selbst die Lehrlinge haben ihren Platz, auch wenn sie bloss Drinks in Reagenz­gläsern servieren.

Die Protagonisten und Botschafter der Ems-Chemie sind sorgfältig gecastet. Der Glacehersteller, der Metzger, die Feuerwehr, die Sängerin aus dem Prättigau. Allesamt äusserst sympathische, heimelige Charaktere, um die man mit Leichtigkeit eine Geschichte bauen kann. Und zu jedem Anlass werden den Medien Bilder zur Verfügung gestellt, schliesslich haben die Redaktionen kaum mehr Geld für Fotografen.

Das jüngste Beispiel für Martullos Kontroll­sucht: ein Fragebogen von Smartvote, der Online­plattform, auf der man die Positionen von Politikerinnen vergleichen kann.

Martullo füllte zwar den Fragebogen aus, doch als sie sah, dass ihre Antworten ihr in der Dimension «liberale Wirtschafts­politik» nicht die volle Punktzahl brachten, liess sie den Smartspider kurzerhand wieder von der Plattform entfernen. Sie behauptete, die Methodik von Smartvote sei falsch, Antworten zum Rahmen­abkommen würden falsch interpretiert. Der Witz: Im Fragebogen gibt es gar keine Frage zum Rahmenabkommen, wie die «Südostschweiz» vorletzte Woche berichtete.

Was stört, muss weg. Das bekommen auch Bündner Politiker zu spüren. Die Ems-Chemie lädt regelmässig das ganze Parlament, die Regierung, einzelne Fraktionen oder Politiker zum Apéro. Es gibt Wein, die Stimmung ist gelöst, dann kommt Martullo – und kanzelt vor versammelter Runde einzelne Politiker für ihr Stimm­verhalten oder eingereichte Vorstösse ab. So berichten es verschiedene Mitglieder des Grossen Rates. Jene, die das schon erlebt haben, erzählen von regelrechten Demütigungen.

Wer es sich mit ihr verscherze, werde ausgeladen. Einige gehen mittler­weile von sich aus nicht mehr. Eine dieser Politikerinnen sagt: «Grösste Unternehmerin hin oder her – ich vertrete den Kanton Graubünden, nicht die Ems-Chemie.»

Geht die Strategie Dauerbeschallung auf? Schafft Martullo im Herbst die Wiederwahl?

Ihre Veranstaltungen sind teilweise schlecht besucht, selbst SVP-Wahlkämpfer berichten von einer gewissen Ermattung des Publikums. Martullos Haupt­thema, das Rahmen­abkommen mit der EU, zieht nicht einmal bei der SVP-Stamm­wählerschaft. Der permanente Wahlkampf­modus langweilt.

Heinz Brand – im karierten Hemd – ist der abwägende, immer leicht geduckte, kühle Bündner. Magdalena Martullo hingegen politisiert im Stil der Zürcher, ohne Rücksicht auf Verluste.

Wie zwiegespalten das Verhältnis zwischen Martullo und ihrer Wählerschaft ist, zeigt eine Episode aus Domat/Ems. Als sich die Gemeinde an Mariä Himmelfahrt am 15. August 2019 in der katholischen Dorfkirche versammelt, staunt man über etwas, was sonst nie geschieht: In der ersten Reihe hat die Kirch­gemeinde drei Plätze reserviert – für Magdalena Martullo, ihren Ehemann und einen Emser SVP-Politiker. Die Protestanten­tochter mit reserviertem Logen­platz in einer erzkatholischen Kirch­gemeinde – manch treuer Kirchgänger sei entsetzt gewesen, erzählt man sich im Dorf.

Nach der Messe sei es noch schlimmer geworden: Martullo sei an der Prozession direkt hinter dem Pfarrer marschiert und habe pausenlos geplaudert, während die übrigen Kirchgänger versucht hätten, Andacht zu halten.

Nein, das kommt nicht gut an im Dorf.

Aber dann, neun Tage später, steht in der «Südostschweiz», dass die Ems-Chemie 90’000 Franken an die Sanierung der anderen katholischen Kirche in der Gemeinde zahlt.

Das hingegen kommt gut an im Dorf. Im Tal. Und im ganzen Kanton.