Das Kartell
Das Kartell
Ein Bauunternehmer steigt aus. Er liefert die Beweise für einen gigantischen Bauskandal in Graubünden. Involviert sind seine Konkurrenten wie auch Politiker, einer ist heute Regierungsrat. Und was passiert? Der Whistleblower wird in die Psychiatrie gesteckt. Der Name dieses Mannes ist Adam Quadroni. Und das ist seine Geschichte. Teil I.
Von Gion-Mattias Durband, Anja Conzett, Ariel Hauptmeier (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 24.04.2018
Donnerstag, 15. Juni 2017, gegen 12 Uhr
Zu Mittag gibt es Spaghetti mit Tomatensauce. Die Eltern essen nicht, die Stimmung ist eisig. Bald sind Sommerferien, die drei Mädchen und der Vater wollen das Wochenende auf einer der Jagdhütten verbringen. Die Mädchen lieben es, wenn der Vater sich ganz nah an die Murmeli heranschleicht. Eine Nacht wollen sie oben bleiben, Freitag hoch, am Samstag wieder runter.
Die Mutter fragt, ob sie mitkommen dürfe. Nein!, rufen die Mädchen, nur mit Papa! Das Telefon der Mutter klingelt, sie springt auf, sagt, es sei wichtig, und verschwindet.
Es ist ihr Hochzeitstag, aber sie feiern ihn nicht. Eine Woche zuvor hatten sie einen schlimmen Streit, seither reden sie nur das Nötigste miteinander. Am Vortag sagt die Älteste: Vielleicht bekommst du ja ein schönes Geschenk von Mama. Ja, hat er geantwortet, aber vielleicht ist es kein schönes. Er hat ihr nichts erzählt von der dumpfen Vorahnung, die ihn seit Tagen plagt, dass bald etwas Schlimmes passieren könnte. Darauf sagt die 12-Jährige aus heiterem Himmel: Dann stelle ich mich zwischen dich und die Polizei.
Nach dem Mittagessen laufen die Kinder zurück zur Schule. Er steigt in den Twingo seiner Schwester und nimmt die Schotterpiste hinauf Richtung Piz Arina, den Hausberg von Ramosch im Unterengadin. Das Wetter ist strahlend schön, viel zu warm für die Jahreszeit. Er freut sich darauf, bald wieder in den Bergen unterwegs zu sein. Nur zehn Minuten dauert die Fahrt.
Er macht sich daran, die Hütte aus dem Winterschlaf zu holen. Öffnet die Balken und die Wasserleitungen, fegt und wischt und entfernt die Spinnweben. Da ruft die Schwester an, sie lebt auf dem gleichen Anwesen: Ein dunkelblauer Subaru stehe vor seinem Haus, der Mann darin beobachte es mit dem Feldstecher. Ein Polizist sitze hinter dem Steuer. Nun weiss er, dass sich seine Vorahnung bestätigen wird. Aber er sagt der Schwester nichts.
Einen Moment überlegt er, ob er zu Fuss durch den Wald gehen und sich die Lage aus sicherer Ferne ansehen soll. Aber nein, warum? Er hat sich nichts vorzuwerfen. Er schliesst die Hütte ab und macht sich auf den Rückweg.
Während er losfährt, ruft wieder die Schwester an: Es seien weitere Autos dazugekommen, sie alle parkieren jetzt vor dem Haus. Da sieht er weiter unten auf der Strasse einen silberfarbenen VW-Bus mit offener Haube stehen. Er fährt langsam darauf zu, bremst und hält an.
In dem Augenblick stürmt hinter dem Bus eine Gruppe vermummter Männer hervor. Die Schwester am Telefon hört, wie ihr Bruder in Todesangst aufschreit. Dann ist die Leitung tot.
Es war schon immer so
Es war schon immer so. Wie so vieles in Graubünden. Der Föhn, die Berge, der Tratsch. Wer Arbeit gibt, hat das Sagen. Schliesslich weiss er, was gut ist für die Leute. Und so gelten für ihn andere Gesetze. Gesetze, die er selber schreibt, hinter verschlossenen Türen, mit Männern, die so sind wie er, Patrons in Amt und Ehren. Das war schon immer so.
Bis ein Mann eines Tages beschliesst, dass es nicht mehr so sein soll.
Adam Quadroni heisst er und ist Baumeister aus Ramosch, einem Dorf im Unterengadin. Er ist 1,66 Meter gross, gedrungen, immer in Schwarz gekleidet, die schwarzen Haare fallen ihm ungekämmt ins Gesicht: ein höflicher, entschiedener Mann, der leise und überlegt spricht.
Quadroni war lange Teil eines Kartells im Bündner Baugewerbe. 2009 macht er die Ämter aufmerksam auf die Preisabsprachen. Das Kartell umfasst so gut wie sämtliche Baufirmen des Kantons, funktioniert seit vielen Jahren – und kostet seine Kunden zusammengenommen Hunderte Millionen Franken. Den Schaden haben Kanton und Gemeinden, die Rhätische Bahn und alle, die sich ein Haus oder eine Ferienwohnung bauen.
Das Kartell
Die vierteilige Serie erzählt die Geschichte von Adam Quadroni, der in Graubünden den grössten Bauskandal der Schweiz aufdeckt – und dafür fertiggemacht wird.
Doch die Behörden wollen davon nichts wissen, dass sie seit Jahren betrogen werden. Sie wimmeln ihn ab. Er ist konsterniert. Ab da ist ihm klar, dass sie «das schmutzige Spiel decken».
Drei Jahre später gelangen seine Dokumente zur Wettbewerbskommission nach Bern. Die handelt umgehend: Ende Oktober 2012 lässt sie Wohnungen und Büros im Unterengadin durchsuchen, kurz darauf weitet die Weko ihre Ermittlungen auf den gesamten Kanton aus – und stösst auf den bislang grössten Fall von Preisabsprachen im Schweizer Baugewerbe. Im vergangenen Jahr kamen die ersten Entscheide. Vor allem jener zum Fall Münstertal illustriert eindrücklich, wie das Kartell funktionierte. In den nächsten Monaten, bis Sommer 2018, wird die Weko auch die grossen Untersuchungen abschliessen. Schon jetzt ist klar: Alle grossen Firmen in Graubünden haben mitgemacht.
In einem anderen Leben, in einem anderen Land, vielleicht auch nur in einem anderen Kanton wäre Adam Quadroni ein Held. Ein Bürger, der den Steuerzahlern seiner Heimat enorm viel Geld gespart hat. Der Rückgrat beweist – und nicht wenig Mut. Man müsste ihm danken. Doch stattdessen wird er schikaniert, zuerst von seinen Konkurrenten, dann von den Ämtern. Der Arm der Baumeister reicht weit, man kennt sich in Graubünden. Bei den Mächtigen des Kantons in Ungnade zu fallen, ist eine gefährliche Sache.
Schon beginnt die Lawine zu rollen. Zuerst kommt ein Kiesel ins Rutschen, dann noch einer, bald donnert alles ins Tal. Und aus Getuschel und Gerede entsteht ein böser Ruf, der ihn nicht nur als seltsam erscheinen lässt, sondern als verrückt und bedrohlich. Als eine Gefahr für seine Kinder.
Sein Aufbegehren hat Adam Quadroni alles gekostet, seine Firma, seine Ehe, seinen Platz im Dorf. Aber nicht seinen Stolz. Noch steht er aufrecht und kann sich wehren – mit Zahlen, Dokumenten, Notizen, die seine Geschichte belegen.
Es ist die Geschichte darüber, wie das Kartell funktionierte, wie die Bauunternehmer, mutmasslich unter Duldung der Behörden, die öffentliche Hand und die privaten Bauherren während Jahrzehnten über Hunderte Millionen Franken betrogen haben sollen.
Die Geschichte darüber, wie Polizisten, Richter und Amtspersonen das Recht zum Vorteil des Kartells gebeugt haben.
Die Geschichte darüber, wer alles mit am Tisch sass, als die Aufträge verteilt und die Preise festgelegt wurden. Mutmasslich Andreas Felix, seit 2008 Geschäftsführer des Graubündner Baumeisterverbandes und Präsident der BDP im Kanton. Mutmasslich soll Jon Domenic Parolini, damals Gemeindepräsident in Scuol und heute Regierungsrat, ebenfalls BDP, von den Preisabsprachen gewusst haben – und habe nicht durchgegriffen. (Wir werden in Teil 3 darauf zurückkommen)
Beide bestreiten diesen Vorwurf. Kein Wunder – beide wollen im Juni in den Regierungsrat gewählt werden: Parolini erneut, Felix zum ersten Mal.
Donnerstag, 15. Juni 2017, gegen 15 Uhr
Die Männer, die hinter dem Bus hervorstürmen, tragen Kampfmontur: kugelsichere Westen, Helme, darunter Sturmhauben. Mit gezückten Waffen stürmen sie auf ihn zu.
So erinnert es Adam Quadroni. Die Kantonspolizei äussert sich auf Anfrage nicht zu dem Polizeieinsatz, da «das Vorgehen der Kantonspolizei Graubünden in der Angelegenheit Adam Quadroni Gegenstand sowohl eines Straf- als auch eines Verwaltungsverfahrens» ist.
«Polizei! Raus!», schreien sie durcheinander.
Eine Nebelpetarde zischt. Dann eine zweite.
Er hört ein klackendes Geräusch, etwas trifft auf die Frontscheibe, sie hat einen Sprung. Das Fenster auf der Fahrerseite ist offen, ein Schlag trifft Adam Quadroni ins Gesicht, er kippt auf den Sitz nebenan.
Die Beifahrertür wird aufgerissen, ein Vermummter zieht ihn an den Haaren, von der Fahrerseite reisst jemand an seiner Hose, dann wird auch die Fahrertür aufgerissen, und sie ziehen ihn, halb an den Haaren, aus dem Auto und drücken ihn zu Boden. Drei Männer knien sich auf ihn, auf die Brust, auf die Beine, auf den Kopf. Der Kies der Strasse bohrt sich in seine Wange.
«Was soll das? Ihr tut mir weh!», schreit er.
«Seien Sie still!», hört er.
Einer fesselt ihm mit Kabelbinder die Hände auf dem Rücken und zieht ihm dann den Kopf in den Nacken, um ihm die Augen mit einem Tuch zu verbinden. Quadroni, noch immer am Boden, zieht die Beine an, zum Schutz. Ein Polizist tritt ihm in die Waden. Er lässt die Beine gerade.
Zehn Minuten, schätzt Quadroni, haben sie auf ihm gekniet.
Zehn weitere Minuten, schätzt Quadroni, musste er am Boden sitzen, gefesselt und mit verbundenen Augen. Einer schneidet die Kabelbinder auf und legt ihm Handschellen an, ersetzt die Augenbinde mit einer geschwärzten Skibrille.
Quadroni hört, was die Männer miteinander sprechen: Anweisungen, die Strasse zu sperren, der Befehl, ihn in den Wagen zu bringen. Dann erst wendet sich jemand an ihn: Wir bringen Sie jetzt auf den Polizeiposten in Scuol.
Er darf aufstehen und wird am Bus vorbeigeführt und läuft mit dem Gesicht gegen den Seitenspiegel.
«Ich sehe doch nichts!», protestiert er.
«Dann ziehen Sie den Kopf ein!»
Sie fahren los. Neben ihm sitzt ein Polizist, vorne sitzen zwei. Der Beifahrer funkt: Zielperson gesichert, Ankunft in circa zehn Minuten.
Adam Quadroni schweigt die ganze Zeit und sagt sich immer wieder – ihr könnt mir nichts anhaben. Er wiederholt innerlich Psalm 23, den Lieblingspsalm seiner Grossmutter, den Konfirmationsspruch seiner Mutter, den Beerdigungsspruch seiner Eltern:
«Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.»
Im Kartell
Adam Quadroni ist das jüngste von fünf Geschwistern. Als er geboren wird, haben die Eltern schon so lange gebüezt und gekrampft, dass sie zu einem kleinen Wohlstand gekommen sind, von dem er als Nachzügler profitiert. Das kommt nicht bei allen gut an. Überhaupt ist er ein Einzelgänger.
Später, im Ausgang, ist er beliebt, schliesslich kann er sich vom Geld, das er im Betrieb des Vaters verdient, schon mit Anfang zwanzig seinen ersten Mercedes leisten. Mit dem er die Bekannten in die Bars und Clubs im naheliegenden Österreich kutschiert. Dass manche ihn ausgenutzt haben, habe er damals schon geahnt, aber das ärgert ihn nicht. «Barun da Tschanüff» ist nun sein Spitzname. Tschanüff, eine Burgruine ausserhalb des Dorfs.
Er ist sowieso am liebsten für sich, liest sich durch Stapel von Büchern über den Zweiten Weltkrieg und baut mehrere hundert Modelle von Kriegsfahrzeugen nach, getrieben von der Frage, wie es zu so etwas Schrecklichem wie der Naziherrschaft kommen konnte. Heute sagt er, dass er wisse: Es braucht nur eine Handvoll böser Menschen und eine Mehrheit ohne Rückgrat, schon beginnt es mit Ausgrenzung und Hass.
Ehe ihm der Vater das Familienunternehmen übergibt, bereist Quadroni die Welt. Einen Monat lang ist er in den USA, eine Woche lang durchquert er zu Fuss das damals noch raue New York, läuft von Manhattan nach Hempstead. Es ist ein Schock nach seiner Jugend in den Bergen: die Nachbarschaft von Reichtum und Bettlern, oft nicht mal einen Meter voneinander entfernt. Er sagt, die Reise habe seinen Gerechtigkeitssinn geschärft und ihn dankbar gemacht.
Der Vater Linard Quadroni, der immer nur in Ramosch war, der eine kleine Baufirma ebenfalls von seinem Vater übernahm und sich von morgens bis abends auf den Baustellen die Hände rau und den Rücken kaputt gearbeitet hat, der, wenn schon im Ausland, dann nur in Österreich oder Italien war – Vater Linard ist stolz auf die Reisen seines Sohnes, weil der dort Dinge lernt, die er ihm nicht beibringen kann. Alles aber, was den Bau betrifft, bringt er ihm bei. Auch die schmutzigen Sachen.
Im Frühling 1995 nimmt ihn der Vater erstmals auf eine «Vorversammlung» mit. Eingeladen hat wie immer Roland Conrad, der mächtige Strippenzieher aus Zernez – ihm gehört mit der Foffa Conrad AG nicht nur die grösste Baufirma im Unterengadin, er präsidiert auch die dortige Sektion des Baumeisterverbandes. Und lädt darum zu den Sitzungen ein, wahlweise mit dem Briefkopf seiner Firma, wahlweise mit demjenigen des Verbands, immer mit Bitte um «vollständige und kompetente Beteiligung der angeschriebenen Unternehmungen».
Zu zweit fahren sie also an diesem Frühlingstag 1995 hinunter nach Scuol, nach dem Mittagessen, Quadroni ist 28 Jahre alt. Er erinnert sich noch genau an den Satz, den ihm sein Vater sagt, kurz bevor sie die schwere Holztür des Restaurants Crusch Alba aufstossen. Der Vater sagt ihm in eindringlichem Ton: «Ich lehre dich jetzt etwas, das man nicht lernen sollte, denn es ist nicht gerecht. Aber wir brauchen es, um zu überleben.»
Sie gehen in einen Nebenraum, wo schon die anderen Baumeister sitzen, eine der gemütlichen Engadiner Stuben mit Holztäfer, Kachelofen und langen polierten Tischen. Jeder kann die Baumeister dort sehen, ihre Autos parkieren vor dem Eingang, die Tür zum Nebenraum steht offen, eigentlich weiss jeder, warum die Männer, die sich sonst hinter dem Rücken alle Schande sagen, an einem Tisch zusammensitzen. Und manchmal scherzt einer, der vorübergeht: «Seid ihr wieder am Mischeln?»
Die Sitzordnung ist zugleich die Hackordnung. In der Mitte sitzen die grossen Bosse, am Rand die Chefs der kleinen Firmen und die Abtrünnigen, also die Quadronis und der alte Koch; beide gehören nicht dem Baumeisterverband an. Adam Quadroni selbst würdigen die Männer keines Blickes. Wie meist, wenn jemand Neues in die Runde eingeführt wird. Beinahe feindselig empfangen ihn die Alteingesessenen dann, als wollten sie ihr Revier markieren.
Zuerst gibt es Kaffee und Mineral. Die Anwesenden schmeicheln einander: «Schön hast du da gebaut. Ein neuer Bagger, gell?» Über die Abwesenden wird gelästert. «Hast du gesehen, was dieser Sauhund gemacht hat? Dieser Sauhund von …»
Dann eröffnet ein «Berechnungsleiter» die Sitzung. Der Baumeisterverband hat ihn abgestellt und zahlt ihm Honorar und Spesen. Danach geht es los. Nun zetern und fluchen und schimpfen und jammern die Baumeister, dass es eine Art hat, um ein möglichst grosses Stück vom Kuchen zu bekommen. Manchmal zieht sich das stundenlang hin. Und wieder ist es meist Roland Conrad, der das grosse Wort führt, sich mal jovial gibt, dann an die Decke geht. Mehr als einmal wird er Adam Quadroni in den nächsten Jahren an den Kopf werfen: «Tumma Siech, Arschloch, bei deiner Grösse steht dir dieser Auftrag nicht zu, was fällt dir ein!»
Roland Conrad sagt dazu auf Anfrage, er wisse nicht mehr, wie genau er Quadroni genannt habe. Was er sagen könne: Dass Quadroni unvernünftig grosse Arbeiten ausführen und die Preise in die Höhe habe treiben wollen.
Unter den Firmen werden nicht nur Objekte verteilt, die bereits ausgeschrieben sind. Sondern auch solche, die erst noch in Planung sind. Das, weil man gute Kontakte hat. In die örtlichen Banken, wo künftige Bauherren ihre Kredite beantragen – die Baumeister wissen manchmal noch vor dem Bauherren, dass gebaut werden wird. Und dann natürlich in die Gemeinderäte und ins Kantonsparlament, wo neue Strassen und Mehrzweckhallen beschlossen werden.
Nachdem alles verteilt und alles geregelt ist – die Fahrt hat sich gelohnt, die Quadronis und der alte Koch haben gemeinsam einen grossen Auftrag ergattert, einen Teil der Umgehungsstrasse von Strada –, trinken die anderen Baumeister zusammen ein Bier. Adam Quadroni mag kein Bier, sein Vater will kein Bier mit diesen Männern trinken, so gehen sie nach einem Kaffee nach Hause. Auf der Heimfahrt wiederholt der Vater die Worte, die er vor dem Betreten des Restaurants gesagt hat, dieses Mal ruhiger, aber nicht weniger nachdrücklich. «Es ist nicht gerecht. Que es fos. Aber wir müssen.»
Das Kartell arbeitet mit einem einfachen Trick. Die Behörden haben bei Ausschreibungen einen Ermessensspielraum von 4 Prozent. Weshalb die Verabredung auf den Versammlungen ist: Das zweitplatzierte Angebot sollte mindestens 7 Prozent höher sein, damit die Firma, die sich den Auftrag auf der Sitzung erkämpft hat, ihn auch bekommt. Wobei das nicht ganz immer, nicht ganz für alle gilt. Bei Adams erstem Besuch gehen die Quadronis, trotz Zusage an der Versammlung, am Ende leer aus: Ausgerechnet Roland Conrad, der Strippenzieher des Kartells, hintergeht sie: Mit seiner Foffa Conrad AG überbietet er nur um 3 Prozent. Und kriegt den Zuschlag.
«Nie wieder!», flucht danach Linard Quadroni, nie wieder an den Tisch mit den Gronds, den Grossen.
Roland Conrad sagt dazu auf Anfrage: Erstens gab es damals noch kein Kartellgesetz. Zweitens könne er sich nicht daran erinnern. Seine Firma gebe im Schnitt zwei Offerten pro Tag heraus.
Zwei Jahre lang gehen sie nicht mehr an die Sitzung. Die Geschäfte laufen nicht gut, aber man überlebt. Die Kleinen stehen zusammen. Im Frühling 1997 fährt der nun 30-jährige Adam Quadroni doch wieder auf eine Vorversammlung, dieses Mal allein. Es muss sein. Wer nicht hingeht, riskiert, kein Baumaterial mehr zu kriegen: keinen Kies, keinen Beton.
Er ist unsicher. Bevor er in seinen Jeep steigt, sagt der Vater: «Sei nicht gierig.» Der Rest des Tages liegt hinter einer Nebelbank. Adam Quadroni schaltet während der Preisabsprache auf Autopilot. Was er mit nach Hause nimmt: einen Strassenabschnitt in Tarasp, einen Auftrag vom Kanton für 450’000 Franken. Adam Quadroni beherzigt den Rat des Vaters: Der Preisaufschlag beträgt nur 5 Prozent. 22’500 Franken Steuergelder zusätzlich in die Tasche der Linard Quadroni SA.
Donnerstag, 15. Juni 2017, gegen 16 Uhr
Sie fahren ihn auf den Polizeiposten in Scuol, in der Tiefgarage zerren ihn die Polizisten aus dem Auto, noch immer sieht er nichts. Er erinnert sich, dass nun ein Polizist zu ihm sagt: «Wir gehen jetzt in den Lift.» So erinnert er es.
«Das müssen Sie mir nicht sagen, ich kenne dieses Gebäude.»
Adam Quadroni zählt die Stockwerke, erster Stock, zweiter Stock, dann hinaus, ein Polizist an jeder Seite, einen Gang entlang, dann rechts. Dort, in einer Arrestzelle, nehmen sie ihm die Augenbinde ab. Vor ihm stehen vier vermummte Männer.
«Verhalten Sie sich ruhig», sagt einer streng.
«Das bin ich doch schon längst.»
«Ausziehen.»
«Alles?»
«Alles.»
Er zieht sich nackt aus.
«Bücken.»
«Als ob ich im Arsch eine Waffe hätte!», protestiert er. «Das wäre mir wohl unangenehm, denken Sie nicht?»
Er muss gehorchen.
Dann nehmen sie die Kleider und Schuhe mit und geben ihm einen schmutzigen, stinkenden Trainingsanzug.
Da sitzt er nun, barfuss auf der Pritsche. Vielleicht eine Viertel-, vielleicht eine halbe Stunde lang, er weiss es nicht, auch die Uhr haben sie ihm abgenommen. Immer wieder sagt er sich: Ihr könnt mir nichts anhaben. Sagt zu sich: Mein Gott, was seid ihr für kleine Leute.
Die Kriegserklärung
Auch in den folgenden Jahren geht Adam Quadroni zu den Kartellsitzungen: Zwischen 1998 und 2004 nimmt er an rund zehn Vorversammlungen teil. Meist geht er leer aus. Und mit jedem Jahr wird ihm klarer: Die Absprachen nützen den Grossen. Sie dienen nicht nur dazu, die Preise hochzutreiben. Sondern auch dazu, sich die kleinen Firmen einzuverleiben.
Um die Jahrtausendwende ruft Roland Conrad alle Firmen zusammen, offiziell, um die Lage im Baugewerbe zu besprechen. Tatsächlich plant er, alle Baufirmen im Unterengadin zu einer einzigen zusammenzuführen. Alle sollen ihre Namen behalten, um vor der Kundschaft den Eindruck eines harten Wettbewerbs zu wahren, aber dahinter sollen sie, über wechselseitige Beteiligungen, zu einem einzigen Konzern verstrickt werden. Adam Quadroni schlägt seine Mappe zusammen. «Sicher nicht», sagt er, stürmt hinaus und geht in ein Café.
Robert Hüberli, Geschäftsführer von Bezzola & Cie, rennt ihm nach. Der Ton ist freundlich. Adam, wir müssen zusammenstehen, anders geht es nicht. Doch Quadroni bleibt stur. Er fährt nach Hause und berät mit dem Vater. Sie sind sich einig: Ein Zusammenschluss kommt nicht infrage.
Robert Hüberli sagt dazu auf Anfrage, er wisse nichts von einer solchen Sitzung. Auch sei er Adam Quadroni nie nachgelaufen.
Roland Conrad bestreitet, dass es eine solche Sitzung je gegeben habe. Rückfrage: Hat Adam Quadroni diese Sitzung früher verlassen? Antwort: «Das weiss ich nicht mehr.»
In den Monaten darauf überlegen die beiden Quadronis, wie man die faulen Geschäfte der Baumeister umgehen kann, ohne unterzugehen. Denn nur wer mitmacht, kriegt Baumaterialien und Transporte. Kurz darauf stirbt der alte Koch – neben ihnen der letzte Unabhängige –, der sie bis dahin mit Beton versorgt hat.
Privat ist Adam Quadroni im Hoch: 2002 heiratet er. Seit langem kennt er Annamaria, eine Ungarin, sie lernen sich in einer Bar in Ischgl kennen, sie bedient dort. Er ist entzückt von ihr, von ihrer Energie, ihrem frechen Charme, ihrer Lebensfreude, ganz anders als die Mädchen im Engadin. Schon nach dem ersten Gespräch weiss er, dass sie die Richtige ist. Manchmal sehen sie sich monatelang nicht, weil sie auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet, dann verbringt sie ihre Ferien bei ihm in Engadin. Sie mag seine Geduld, seine Beständigkeit. Und weil auch sie sich nach einer Familie sehnt, bleibt sie irgendwann da.
Sie sind ein ungleiches Paar. Sie, die lebendige, rastlose, vom Fernweh geplagte Ungarin, die sich selbst im Scherz als Zigeunerin bezeichnet. Er, der ruhige, beständige Engadiner, der so tief in Ramosch verwurzelt ist, dass ein Wegzug nie infrage kommt.
Adam Quadroni ist wohlhabend, ein Bauunternehmer mit Mercedes. Sie lassen es sich gutgehen, fahren in die Oper nach Verona, Milano und Florenz. Dinieren in Sterne-Restaurants, legen sich einen Weinkeller zu. Oder sie sitzen daheim auf dem Sofa, hören Sinfonien und lesen, sie Romane oder Reisemagazine, er ein Sachbuch zum Zweiten Weltkrieg. Während er arbeitet, geht sie einkaufen. Ihre Jugend war arm, so erklärt sich Adam Quadroni ihren ewigen Kauf von Kleidern und Krimskrams. Wie wichtig ihr die Shoppingtouren in Österreich und St. Moritz sind, merkt er erst, als sie nicht mehr möglich sind.
Für seine Familie baut Quadroni ein neues Haus an das alte seiner Eltern. Ein Haus mit viel Arve und einem grossen Kamin. Darüber, an die Wand gemalt, ein Sgraffito mit dem Wappen der Quadronis: ein Adler über drei Steinquadern, italienisch: quadroni. Die grosse Eingangstüre hat kein Schlüsselloch, weil ohnehin niemand die Türen abschliesst in Ramosch im Engadin, wo der Winter ewig dauert und die Welt langsamer dreht.
Beruflich steht er unter Druck. Immer kleiner werden die Brocken, die man ihm und den anderen kleinen Baufirmen auf den Vorversammlungen zuwirft. Die Besprechungsleiter drücken die Offertenpreise: je kleiner eine Firma, desto kleiner der Aufschlag, um den der Kunde betrogen wird. Zuletzt wird gar nicht mehr geschmeichelt auf den Vorversammlungen, auch kaum mehr gejammert und geschachert – nur noch der Tarif durchgegeben. Schluck oder stirb. Stirb sofort. Oder stirb langsam.
Derweil, sagt Adam Quadroni, geriet bei den Grossen die Gier ausser Kontrolle. Bis dahin waren Aufschläge von fünf, manchmal zehn Prozent üblich. Nun werden es dreissig Prozent und mehr. Die Behörden lassen es sich gefallen, obwohl sie es besser wissen müssten. Private Bauherren sind ohnehin kein Problem – spielen ihre Architekten mit, und viele spielen mit, blicken sie nicht durch.
«Der Respekt», sagt Adam Quadroni heute, «war weg, die Kunden waren nur noch Freiwild.»
Er beginnt, örtliche Politiker durch die Blume auf das Kartell hinzuweisen. Zeigt Listen herum. Alle geben sich empört. Aber keiner will handeln. Immer klarer wird ihm: Die Behörden wissen es. Sie dulden es.
Also handelt Quadroni. Er plant ein Betonwerk, um unabhängig von den anderen Baufirmen geschäften zu können. Im Frühling 2004 gibt er sein Bauvorhaben ein. Es ist eine Kriegserklärung.
Die Nachfolger des alten Kochs sprechen zuerst bei ihm vor. Quadronis Schwester ist dabei, als sie ihm zu dritt in frostigem Ton sagen: «Blas die Sache ab, sonst wirst du die Konsequenzen tragen müssen.» Quadroni wirft sie raus.
Kurz darauf geht er zu einer Versammlung des Baumeisterverbands. Die Stimmung ist feindselig. Ausfällig wird aber nur einer: Berechnungsleiter Armin Dürst. Quadroni sagt, er habe ihm geradeheraus und vor aller Ohren mit Boykott gedroht: kein Kies fürs Betonwerk.
Armin Dürst bestätigt, dass er solche Sitzungen geleitet hat. An eine solche Boykottdrohung könne er sich aber nicht erinnern. Zitat: «Ich bin ja auch kein Kieshändler.»
Also muss Quadroni den Kies aus Österreich importieren. Ein halbes Jahr liegt der Antrag beim Kanton, Anfang 2005 wird er bewilligt. Wenig später steht das Betonwerk. Das ist der Bruch.
Denn nun ist allen klar, dass das Kartell plötzlich auf der Kippe steht. Und mit ihm die sicheren Aufträge und fetten Margen, verhandelt bei Kaffee und Kuchen. Es droht nichts anderes als der Totengräber der guten Zeiten und überhöhten Preise: der Wettbewerb. Und die Drohungen bleiben keine Drohungen mehr. Sie beginnen, sich zu bewahrheiten.
Im Sommer 2005 stirbt Vater Linard an einer Magenblutung. Kurz davor sagt er zum Sohn noch einmal, ruhig, fast flüsternd: «Wir müssen überleben, aber lass das Betrügen. Bitte lass es. Que nu’s fa.»
Nun steht der Sohn allein gegen alle.
Wobei es die anderen Baumeister auch weiter im Guten probieren. Sie laden ihn immer noch ein zu den Kartellsitzungen, schicken freundliche Faxe, einmal besuchen ihn sogar Roland Conrad und Andreas Felix, damals stellvertretender Geschäftsführer des Baumeisterverbandes, um ihn zum Eintritt in den Verband zu bewegen. Er weist ihnen die Tür. 2006 nimmt Quadroni zum letzten Mal an einer Vorversammlung teil. Das war es mit dem Zuckerbrot. Nun kommt die Peitsche.
Bei Bauherren, bei Konkurrenten, am Stammtisch – überall schwärzen ihn die anderen Baumeister an. Er hört es über Bekannte, von seinen dreissig Arbeitern, über Angehörige. Er sei ein mieser Baumeister, unpünktlich, schlampig, er habe Schulden. Im Dorf, in der Beiz, im Dorfladen wird getuschelt: Das ist einer, der seinen Kies lieber im Ausland kauft, statt einheimische Firmen zu unterstützen.
Nicht lange, da werden Auftraggeber gewarnt, die mit Quadroni bauen wollen. Es sind Anrufe oder Schreiben, in denen ihm Steuerhinterziehung, Lohndumping, schlechte Arbeit, Betrug nachgesagt wird. Beispiele dafür kann Quadroni viele nennen. Nur will das kaum einer der damaligen Auftraggeber bestätigen – zumindest nicht öffentlich. Und das ist verständlich: Wer hier lebt und arbeitet, will keinen Ärger mit der Bauwirtschaft.
Der Druck ist hoch in diesen Jahren. Quadroni schläft schlecht. Seit längerem verschreibt ihm sein Hausarzt Dr. Büsing Beruhigungsmittel; erst eine, dann zwei, dann vier Temesta pro Tag. Wie stark die Benzodiazepine abhängig machen, hat ihm der Arzt nicht gesagt. Erst Jahre später wird Adam Quadroni darauf aufmerksam gemacht, bei einem Routinecheck im Krankenhaus. Und er setzt die Temesta nach und nach ab. Und zahlt den Preis, bald wieder nur eine Stunde pro Nacht zu schlafen.
Donnerstag, 15. Juni 2017, gegen 17 Uhr
Schliesslich kommt ein unvermummter Polizist in Uniform, holt ihn aus der Zelle und bringt ihn nach nebenan, ins Untersuchungszimmer. Dort sitzt ein alter Bekannter: Dr. Martin Büsing, Quadronis ehemaliger Hausarzt und pensionierter Bezirksarzt. Es ist ein seltsames Wiedersehen. Quadroni barfuss im schäbigen Trainingsanzug, Dr. Büsing wie immer in Cordhosen, Hemd und Pullover.
Dr. Büsing streckt Quadroni seine Hand entgegen. Quadroni ignoriert sie.
«Oder, Herr Quadroni, oder, oder, wir machen uns Sorgen um Sie, oder», sagt Büsing
«Sie machen sich keine Sorgen um niemanden», entgegnet er schroff.
«Oder, Ihre Kinder, oder, oder machen sich Sorgen, oder.»
«Dann rufen Sie meine Kinder an und fragen Sie sie.»
[Das zwanghafte Oder des Doktors ist unter seinen Patienten Legende. Auch im Gespräch mit der Republik fällt es ständig. Zur Sache will Dr. Büsing auch auf erneute Nachfrage hin keine Stellung nehmen.]
Büsing: «Herr Quadroni, sind Sie verletzt?»
«Meine Lippe blutet. Sehen Sie das nicht?»
Der Arzt untersucht Quadroni und stellt Schürfungen, Hämatome und eine geplatzte Unterlippe fest. Er notiert sie nicht.
Zu einem Bluterguss sagt er: «Der sieht schon älter aus. Hat Sie Ihre Frau geschlagen?»
«Nicht dorthin.»
«Herr Quadroni, es wäre zu Ihrem Vorteil, wenn Sie sagen würden, dass es Ihre Frau gewesen sei.»
«Sie hat mich geschlagen, aber nicht dorthin. Punkt.»
Vor seinen Augen unterzeichnet der Arzt die fürsorgliche Unterbringung, die Zwangseinlieferung in die Psychiatrie. Dr. Büsing vergisst dabei, das Kästchen «Vollzugsauftrag» anzukreuzen. Damit besteht kein Auftrag an die Kantonspolizei, Quadroni in die Klinik einzuweisen. So gesehen ist alles, was nun kommt, formal widerrechtlich.
Glaubt man Quadroni, dann hat ihn Dr. Büsing eine Woche später angerufen, sich bei ihm entschuldigt und einen «grossen Fehler» eingeräumt. Man habe ihn dort «hinbestellt», er habe «unter Druck» gehandelt. Dr. Büsing wollte das auf Anfrage nicht kommentieren.
Es gibt eine Notiz von Quadronis Hausärztin Dr. Iris Zürcher nach einem Telefonat mit Dr. Büsing vom 12. Juli. Darin schreibt sie: «Kein Anhalt für eine Psychose oder akute Suizidalität, allerdings war angesichts der eskalierten Lage und der Umstände der Ingewahrsamnahme des Patienten eine FU zu diesem Zeitpunkt unumgänglich, was Dr. Büsing ausdrücklich bedauert.»
Mit anderen Worten: Sollte eine Psychose vorliegen, habe der Einsatz des Sonderkommandos sie ausgelöst.
Zurück in der Zelle, erhält Adam Quadroni seine Kleider. Nach einer Viertelstunde legen sie ihm erneut Handschellen an, verbinden ihm die Augen wieder mit der verdunkelten Skibrille, setzen ihn in ein Auto und fahren ihn die 87 Kilometer via Vereina nach Chur zur Klinik Waldhaus. In die Kantonspsychiatrie.
Konsequenzen
Zunächst scheint es, als ginge Quadronis Plan auf, ausserhalb des Kartells zu bestehen. Die Firma wächst, Quadroni landet seine drei grössten Aufträge: den Skilift Motta Naluns, das @Center und die Jugendherberge, alles in Scuol. Millionenaufträge, bei denen seine Offerten um über zehn Prozent günstiger sind als die der anderen.
Die Jugendherberge, ein auffälliger Kubus, prägt heute das Ortsbild von Scuol. Errichtet hat sie die Schweizer Stiftung für Sozialtourismus. Im Frühjahr 2007 schreibt sie die Bauarbeiten aus, im Wert von über einer Million Franken. Auch Adam Quadroni wird angefragt und macht sich daran, eine Offerte zu erstellen.
Doch am Abend vor dem Stichtag klingelt sein Telefon. Roland Conrad ist dran und kommt ohne grosse Vorrede zur Sache. Du weisst genau, wer das baut, habe er gesagt. Das gehöre ihnen. Er wisse, was die Konsequenzen seien. Wenn er eine Offerte einreiche, werde er von ihnen hören.
Roland Conrad bestreitet, ein solches Telefonat geführt zu haben.
Adam Quadroni denkt nicht daran, klein beizugeben. Er reicht seine Offerte ein – und bekommt den Zuschlag.
Kurz darauf erhält die Stiftung für Sozialtourismus Post. Auf dem Briefkopf das Signet der beiden Firmen Bezzola Denoth AG und Foffa Conrad SA, der Platzhirsche, denen der Auftrag gemäss alter Hackordnung offenbar zugestanden hätte. Quadroni sei nicht geeignet, die Jugendherberge zu bauen, steht in dem Brief. Er sei mit den Sozialversicherungsbeiträgen im Rückstand, habe ungenügende Kapazitäten und keine Referenzobjekte.
Roland Conrad bestätigt, diesen Brief geschrieben zu haben: «Jeder auf der Strasse im Unterengadin wusste, dass Quadroni grosse Ausstände hat und viel Unsinn erzählt.»
René Dobler, der die Ausschreibung für die Stiftung betreut, lässt sich nicht beirren. Er schreibt der Foffa Conrad AG zurück, man sei «nicht auf Hinweise Dritter» angewiesen. So etwas kläre man selbst ab. Er leitet den Brief an Adam Quadroni weiter.
René Dobler, bis heute Geschäftsführer der Stiftung, erinnert sich gut an den Vorgang. «Dass sich jemand so weit vorwagt, um einen anderen anzuschwärzen – das kam nicht gut an bei uns im Haus», sagt er heute. «Unsere Stiftung baut permanent und in der ganzen Schweiz. In den bald zwanzig Jahren, in denen ich als Geschäftsleiter amte, war dies ein Einzelfall.»
Die nächste Retourkutsche lässt nicht lange auf sich warten. Ein Jahr später, im Frühling 2008, hängen eines Morgens auf der Passerelle, der Hauptstrasse von Scuol, am Bauzaun des @Centers sechs laminierte Betreibungsregisterauszüge von Quadroni – eine Liste von Schulden, mit denen er betrieben wurde. Ein öffentlicher Pranger. Quadroni ist einer der Ersten auf der Baustelle und hängt sie schweigend ab, bevor das ganze Dorf über seine Finanzen Bescheid weiss.
Später erfährt er, dass es offenbar Roland Conrad war, der beim Konkurs- und Betreibungsamt in Sent angerufen hat, sich als «Chef der Bauunternehmer» vorstellte und die Betreibungsauszüge von Adam Quadroni verlangte. Und bekam. Eine Verletzung des Amtsgeheimnisses und des Datenschutzes.
Roland Conrad bestreitet, dass er dahintersteckt. Auch würde er sich nie als «Chef der Bauunternehmer» präsentieren. Im Gespräch mit der Republik wird er aber unversehens einen Betreibungsregisterauszug von Adam Quadroni aus dem Jahr 2012 präsentieren – und sich voll Nostalgie daran erinnern, dass man früher bei dem Amt einfach anrufen und solche Dokumente verlangen konnte.
Beim Betreibungsamt Sent erinnert man sich nicht daran, an Roland Conrad jemals solche Dokumente herausgegeben zu haben.
Und nun geht es ans Lebendige.
Allen, die mit Quadroni bauen, wird nun zugeraunt: Sie sollen einfach die Schlussrechnung nicht bezahlen, die letzte Tranche, wenn alle Arbeiten abgeschlossen sind. Üblicherweise macht sie zwanzig bis vierzig Prozent der Auftragssumme aus. Wehrt sich ein Schuldner gegen die Betreibung, landet der Fall vor dem Bezirksgericht Inn. Der Bezirksrichter heisst Georg Buchli. Er ist nicht nur der Einzige unter seinen Bündner Amtskollegen ohne juristische Ausbildung. Er ist auch Gesellschafter der Baufirma Frars Buchli. Und damit ein Mann des Kartells.
Quadroni hat ihn häufig auf den Vorversammlungen gesehen. Und wiederholt erlebt, wie Georg Buchli den Spruch gemacht hat: «Ihr wisst ja, dass ich offiziell nicht da bin.»
Nun ist es an Georg Buchli, über Adam Quadronis Schuldtitel zu entscheiden. Quadroni ist sich sicher, dass er keinen fairen Stand bei ihm hatte. Beweisen kann er es nicht.
Mal schlägt Richter Buchli eine «Halb-halb-Lösung» vor, bei der die Summe, die Quadroni zusteht, kurzerhand geteilt wird. Andere Betreibungsverfahren werden über Jahre verschleppt. Wie bei der Postautogarage in Scuol – dort muss Quadroni einen Abschreiber über 300’000 Franken hinnehmen. Er schätzt, dass ihm zwischen 2007 und 2010 rund 2 Millionen Franken entgehen, deren Bezahlung er vor dem Bezirksgericht einfordert.
Georg Buchli äussert sich nicht zur Sache. Am Telefon sagt er: «So, so, Sie sind Journalist und haben das Gefühl, Sie können einen ehemaligen Gerichtspräsidenten anrufen und Auskunft erhalten?» – und hängt kurz darauf einfach auf. Auf abermalige Anfrage hin bestreitet Buchli, je auf den Vorversammlungen gewesen zu sein. Er habe weder an Preisabsprachen teilgenommen, noch stehe sein Name auf irgendwelchen Listen.
Der ehemalige Gerichtspräsident irrt. Seine Firma ist fast immer mit dabei auf den Listen. Sogar namentlich genannt wird Georg Buchli, in einer Einladung zur Vorversammlung am 27. Februar 2006 beispielsweise.
Der Druck nimmt weiter zu. Im Sommer 2009 hat Adam Quadroni genug. Es kann so nicht weitergehen. Er muss etwas tun. Er ist überzeugt, im Recht zu sein. Schliesslich ist er der Ehrliche. Also muss doch der Staat auf seiner Seite stehen.
Er lässt sich einen Termin geben beim Tiefbauamt in Chur. Und steigt eines Tages in seinen schwarzen Mercedes, im Gepäck eine Plastikmappe mit gut achtzig Blättern: die handgeschriebenen Listen, mit denen auf den Vorversammlungen die Aufträge verteilt wurden, die Listen mit den vorab festgelegten Offertenpreisen, die Einladungsschreiben von Roland Conrad und dem Baumeisterverband.
Die Männer im Tiefbauamt wirken überrascht, ja empört, und sie gratulieren ihm zu seinem Mut, sagen wörtlich einen Satz, den Quadroni seither im Ohr hat: «Ich muss schon sagen, Chapeau.» Doch dann hört er lange nichts mehr, und als er nachfragt, sagen die Beamten, seine Unterlagen seien zu alt, um der Sache nachzugehen.
Er versucht es ein zweites Mal. Er zeigt die Unterlagen Jon Domenic Parolini, damals Gemeindepräsident in Scuol, heute Regierungsrat in Chur. Auch der greift nicht durch.
Die Vorgänge im Tiefbauamt, die Rolle von Jon Domenic Parolini – wir werden in einem weiteren Artikel darauf zurückkommen.
2012 gelangen Quadronis Unterlagen doch noch an die Öffentlichkeit. Er steht zu diesem Zeitpunkt bereits kurz vor der Pleite und will einen Unterstützungskredit für angeschlagene Unternehmer beantragen. Ein Luzerner Unternehmensberater steht ihm zur Seite. Quadroni legt offen, dass er früher Teil des Kartells war. Der Mann wird hellhörig – und sendet die Listen mit den Preisabsprachen ohne weitere Rückfrage an die Wettbewerbskommission in Bern.
Ende Oktober 2012 schwärmen Beamte der Wettbewerbskommission aus. Sie konfiszieren Computer und Aktenordner von 13 Baufirmen und privaten Büros im Unterengadin. Bereits nach kurzer Untersuchung wird den Ermittlern klar: Hier geht es nicht um Einzelfälle in einem Tal, hier geht es um einen der grössten Kartellfälle der Schweiz. Im April 2013 werden die Ermittlungen vom Engadin auf ganz Graubünden ausgedehnt.
«Es war wie bei einem Wollknäuel, an dem man zieht», sagt Rafael Corazza, Direktor der Wettbewerbskommission, im Juli 2017.
Untersucht werden rund vierzig Unternehmen, darunter die Alfred Laurent AG, die Bezzola Denoth AG, die Fabio Bau GmbH, die Foffa Conrad AG, die Implenia Bau AG, die Impraisa da fabrica Margadant, die Impraisa Mario GmbH, die Hew AG Bauunternehmung Chur, die Koch AG Ramosch, die Lazzarini AG, die Palatini AG Untervaz, die René Hohenegger Sarl, die Zeblas Bau AG, die Marcus Wetzel, die Rusena-Betun SA, die Sosa gera SA, die Uina SA, die Käppeli’s Söhne AG, die Catram AG, die Cellere AG Graubünden, die Kibag Bauleistungen AG, die Schlub AG Nordbünden, die Toldo Strassen- und Tiefbau AG, die Walo Bertschinger AG, die Zindel-Gruppe.
Und nach und nach, aus Quadronis Schilderungen, aus den Selbstanzeigen und Aussagen der Baumeister, aus den Ermittlungen und Untersuchungsberichten der Weko schält sich heraus, wie das Kartell organisiert ist:
Im Mittelpunkt steht der Baumeisterverband, die Interessenvertretung der Baufirmen. Dort laufen alle Informationen zusammen. Alle Firmen sind angehalten, Bauvorhaben, von denen sie hören oder wissen, an den Verband zu melden. Ein Berechnungsleiter trägt sie handschriftlich ein in eine Liste, unterteilt nach Auftraggebern: zuerst der Kanton, dann die Gemeinden, dann grosse Unternehmen wie die Rhätische Bahn, zuletzt private Bauherren.
Auf der «Vorversammlung» verteilt er die Listen nun an die erschienenen Baumeister. Ein jeder kreuzt seine Wunschobjekte an. Und dann beginnt das Schachern.
Ungeschriebenes Gesetz: je grösser eine Firma, desto grösser der Anteil, der ihr zusteht. Und: Wird in der Nähe der eigenen Firma gebaut oder ist man mit dem Bauherren auf irgendeine Weise verbandelt, und sei es über den Cousin eines Maurers, müssen die anderen zurückstehen. Das ist dann quasi ein Heimspiel.
Wird einem Baumeister ein Auftrag zugesprochen, macht der Berechnungsleiter einen Kreis um das jeweilige Kreuz. Eigentlich soll er die kompromittierenden Listen am Ende der Vorversammlung wieder mitnehmen. Doch weil keiner dem anderen traut, alle Angst haben, am Ende doch zu kurz zu kommen, nehmen sie die Listen mit nach Hause (was der Weko die Arbeit sehr erleichtert).
Im zweiten Schritt geht es darum, die Preise festzulegen. Das geschieht auf den «Submittentenversammlungen», zu denen erneut der Baumeisterverband einlädt. Offiziell, um Fragen zu Ausschreibungen zu klären. Doch es gibt auch einen inoffiziellen Teil. Dort werden die Preise gemacht.
Ein fiktives Beispiel: Auf einer Vorversammlung hat Baumeister A ausgeklüngelt, dass er ein Ferienhaus bauen darf. In der Zwischenzeit hat er den realen Marktpreis auf 1 Million Franken berechnet. Den teilt er nun den anderen mit. Jetzt ist es an den versammelten Baumeistern, darüber zu diskutieren, wie hoch der zusätzliche Aufschlag sein darf. Das korrupte Premium. Sagen wir in diesem Fall: Baumeister A wird zugestanden, dass er 20 Prozent draufschlagen darf. Er darf also eine Offerte über 1,2 Millionen Franken abgeben.
Alle anderen müssen höher bieten, damit sie den Auftrag nicht bekommen. Wobei gilt: Das nächsthöhere Angebot muss mindestens 7 Prozent höher sein. Baumeister B muss also mindestens 1 Million 284’000 Franken bieten. Damit es nach aussen wie Wettbewerb aussieht.
Der Berechnungsleiter notiert auf kleinen Zetteln, welche Firma zu welchem Preis offerieren soll. Er verteilt sie an der Sitzung. Sogleich müssen alle Baumeister die Preise in ihre Offerten eintragen. Damit nicht auf den letzten Metern doch noch einer den anderen hintergeht. Damit alles seine Ordnung hat.
Bis 2004, bis zur Verschärfung des Kartellgesetzes, haben die Sitzungen in Restaurants stattgefunden. Danach wird man vorsichtiger und verlegt sie in die Büros der Baumeister. Bis 2008 lädt der Baumeisterverband ein. Danach organisieren die Firmen sich unter der Hand selbst.
Für Adam Quadroni bedeuten die Ermittlungen der Weko das endgültige soziale Aus. Auch öffentlich wird er nun angeschwärzt, auch hier spielt der Unterengadiner Baufürst Roland Conrad die erste Geige, und dies gern vor vollen Rängen. Bis ins Radio schaffen es seine Anschuldigungen. «Ich weiss aus verlässlicher Quelle: Die Hinweise, die zur Eröffnung der Untersuchung der Wettbewerbsbehörde führten, kamen von der Linard Quadroni SA in Ramosch», ist Conrad am Radiotelevisiun Svizra Rumantscha zu hören. Und seien damit «interessanterweise» von einer Firma gekommen, gegen die ebenfalls ermittelt werde. Und die wegen ausstehender Sozialversicherungsabgaben von öffentlichen Ausschreibungen gesperrt sei.
In jenen Jahren, sagt Adam Quadroni, hätten auch die Morddrohungen begonnen. Er habe sie über Jahre erhalten, mit unterdrückter Nummer, oft mehrmals pro Tag, oft in der Nacht. «Jetzt kommst du dran», raunt dann jemand, oder: «Wir kriegen dich.» Manche Anrufer meint er, an der Stimme zu erkennen. Manche verstecken sich hinter Musik – und lassen durchs Telefon die Titelmelodie von «Spiel mir das Lied vom Tod» ablaufen.
Bis dahin wurde er nur in der Baubranche verleumdet. Nun lassen seine Gegner die allgemeine Gerüchteküche brodeln, in den Beizen, in den Läden, im Postauto. Über die Familientische finden die Gerüchte ihren Weg bis in die Schule seiner Kinder. Bald hören Adam Quadronis Töchter auf dem Pausenplatz: «Dein Papa hinterzieht Steuern.»
Das Kartell – so geht es weiter
Lesen Sie morgen in Teil 2: Wie Adam Quadroni erst Pleite geht und dann ins Visier der Polizei gerät. Wie die Gerüchte weiter brodeln – und es plötzlich heisst, er wolle sich umbringen. Wie er bis heute um seine Kinder kämpft. Die Teile 3 und 4 folgen im weiteren Verlauf der Woche.