Wie anders ist Deutschlands Osten?

An diesem Wochenende sind Landtags­wahlen in Ostdeutschland. Es droht ein gravierender Rechtsruck. 30 Jahre nach dem Mauerfall rätselt Deutschland weiter über die Spaltung zwischen Ost und West. Ein Erklärungsversuch.

Von Nils Markwardt, 31.08.2019

Der Stolz der sozialistischen Arbeiterschaft: Auszubildende vor dem «Jugendobjekt» des Wellpappenwerks Arnstadt in der damaligen DDR. akg-images/Keystone

Seit Wochen steht Ostdeutschland medial im Mittelpunkt der Bundesrepublik. Und zwar aus doppeltem Anlass. Weil das Jubiläum von 30 Jahren Mauerfall am 9. November bereits die Debatten prägt. Vor allem aber auch, weil in drei östlichen Bundes­ländern Landtags­wahlen anstehen – und vieles dabei gegenüber der letzten Legislatur auf eine gewaltige Verschiebung nach rechts deutet.

An diesem Wochenende wird in Brandenburg und Sachsen gewählt, am 27. Oktober in Thüringen. In allen drei Ländern lassen die Umfragen seit Monaten einen Wahlerfolg der AfD jenseits der 20-Prozent-Marke erwarten; möglicher­weise steht sie in Brandenburg morgen Abend gar als stärkste Fraktion da.

Zwar ist die Ausgangslage durchaus unterschiedlich: Während in Brandenburg der Minister­präsident seit der deutschen Einheit durchgehend von der SPD gestellt wird, aktuell in Koalition mit der Linkspartei, wird Sachsen wiederum seit 1990 konstant von der CDU regiert, derzeit in Koalition mit den Sozialdemokraten. In Thüringen wiederum sitzt seit 2014 der erste Landeschef der Linken in der Staatskanzlei, getragen von einem rot-grün-roten Bündnis von Linkspartei, Grünen und SPD. Und zur Ausgangslage gehört, dass neben der AfD auch die in Ostdeutschland historisch eher schwachen Grünen deutliche Stimmen­zuwächse erwarten.

Dennoch stehen alle drei Landtags­wahlen unter dem Vorzeichen, dass sich die AfD in Ostdeutschland als Quasi-Volkspartei etablieren könnte.

Auch deshalb zieht die deutsche Öffentlichkeit dieser Tage eine Art psychopolitische Zwischen­bilanz über 30 Jahre Mauerfall und den Zustand «des» Ostens. Die zugrunde liegenden Fragen sind dabei fast so alt wie die «neuen» Bundesländer selbst: Wie weit sind die ehemaligen DDR-Bürger «in der Demokratie angekommen»? Warum hinkt Ostdeutschland ökonomisch immer noch so hinterher? Weshalb findet sich hier überproportional viel Rassismus und Fremdenfeindlichkeit?

Falsche Fragen, richtige Fragen

Dabei birgt schon die Art der Fragen ein erstes Problem. Denn immer wenn von «dem» Osten die Rede ist, und zwar unabhängig vom inhaltlichen oder geografischen Debatten­standpunkt, verdeckt das die ökonomischen, politischen und sozio­strukturellen Differenzen zwischen Ostsee und Erzgebirge. Es unterstellt, dass es von Anklam bis Zwickau eine mentale Einheit gäbe, eine «Seele des Ostens», die man ergründen, kritisieren oder verteidigen könnte.

Tatsächlich liegen jedoch beispiels­weise Welten zwischen Städten wie Rostock, Leipzig oder Jena, wo bei den jüngsten Europawahlen jeweils die Grünen die stärkste Partei wurden, und der sächsischen Schweiz oder dem Märkisch-Oderland, wo wiederum die AfD zur führenden Kraft avancierte. Ebenso haben die touristisch boomenden Landstriche an der mecklenburgischen Küste nur wenig mit den demografisch verödeten Gegenden, etwa der branden­burgischen Uckermark, gemein.

Mal abgesehen davon, dass Bevölkerungs­schwund, infrastrukturelle Unter­versorgung oder ein hoher Anteil rechts­populistischer Wähler keine exklusiven Probleme Ostdeutschlands sind (sondern so mancher Landkreis im Westen der Republik mit ganz Ähnlichem zu kämpfen hat): Politisch, ökonomisch sowie weltanschaulich unterschiedlich entwickelte Regionen sind ein internationales Phänomen. Man denke nur an den Mezzogiorno in Italien, die Midlands in Grossbritannien oder jene im Vergleich zu den Städten ärmeren und konservativeren Gegenden in Polen, die dort auch «Polska B» genannt werden.

Ein Problem der Debatte um Ostdeutschland also besteht in ihrem Hang zur Pauschalisierung. Man konzentriert sich auf negative Entwicklungen wie Arbeits­losigkeit, Abwanderung und Rechts­populismus, sodass die gleichzeitigen Erfolgs­geschichten allzu oft unter die Tische fallen: die vielfach sanierten Innenstädte und Strassen, das wirtschaftliche Aufblühen ganzer Regionen, der Aufbau eines nicht zuletzt in Öko-Technologien innovativen Mittelstands, das tagtägliche Engagement von Ehrenamtlichen für Initiativen und Kommunen sowie die mittlerweile tatsächlich relativ niedrige Arbeitslosen­quote von durchschnittlich 6 Prozent.

Trotzdem lässt es sich nicht wegrelativieren: Vergleicht man den Osten Deutschlands mit dem Westen der Republik, so ist Ersterer nicht nur ökonomisch struktur­schwächer und ärmer. Auch der Organisationsgrad demokratischer Parteien ist wesentlich geringer – CDU und SPD verfügen im vier Millionen Einwohner starken Sachsen zusammen lediglich über etwa 15’000 Mitglieder. Nicht zuletzt: Die Wahlerfolge der rechts­populistischen AfD sind signifikant grösser.

So stellt sich tatsächlich die Frage: Warum ist Ostdeutschland – tendenziell – anders?

Wer verstehen will, warum das so ist – und warum wahrscheinlich auch dieser Wahlsonntag wieder eine Ost-West-Differenz sichtbar machen wird –, muss keine politische Volksseelen­kunde betreiben. Vielmehr lassen sich die unterschiedlichen Entwicklungen aus der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte begreifen und auf drei wesentlichen Gesellschafts­ebenen nachverfolgen: auf der Ebene der Sozial­struktur, der Kultur und der Wirtschaft.

Auf diesen drei Ebenen verlaufen die Bruchstellen. Sie ergeben sich daraus, dass sich Ostdeutschland nicht nur einen Staat lang unter komplett anderen Umständen entwickelte – sondern sich auch in der darauf­folgenden Transformations­phase in einer spezifischen Situation befand. Im Ergebnis ist die heutige Bundesrepublik tendenziell immer noch in unterschiedliche Erfahrungs­welten geteilt. Diese Bruchstellen sind der Grund, warum die gegenseitigen Vorwürfe von «Jammerossis» und «Besserwessis» auch 30 Jahre nach der Wende latent nachwirken; und warum, mit Heiner Müller gesprochen, in gegenwärtigen Debatten noch immer auf beiden Seiten der einstigen Grenze viel «Vergangenheit angeschwemmt» wird.

Das so sanft klingende Wort von der «Wende» verdeckt, dass es nach dem Mauerfall in Ostdeutschland gleich einen dreifachen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse gab.

Diese Dreifach-Wende in der jüngeren Vergangenheit gilt es zu verstehen, wenn man begreifen will, warum die ostdeutsche Gegenwart unter vermeintlichem Zukunfts­mangel leidet. Dann lässt sich in einem vierten Schritt auch zeigen, worin sich Ost und West dann doch aufeinander zubewegen – im Guten wie im Schlechten.

1. Die demografische Wende oder: Warum der Osten heute zu alt und zu männlich ist

Wie grundlegend anders die DDR gesellschaftlich strukturiert war, hat der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Soziologe Steffen Mau in einem jüngst erschienenen und überaus lesenswerten Buch pointiert beschrieben. Offenbarte sich die alte Bundes­republik als eine Gesellschaft des Mittelstands, die sich durch zunehmende Individualisierung und Einwanderung auszeichnete, war die DDR ebenso kollektivistisch geprägt wie ethnisch homogen. Planwirtschaftliche Vollbeschäftigung bedeutete dabei zweierlei: erstens einen De-facto-Arbeitszwang, da «Arbeits­scheu» mit einer Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet wurde. Zweitens, dass ein Grossteil der DDR-Bürgerinnen in sogenannten volkseigenen Betrieben arbeitete, über die sich auch ein erhebliches Mass an sozialer Integration bewerkstelligen liess.

Plaste und Elaste aus heimischer Produktion: Ein Geschäft für Haushalts­waren in der DDR in den 60er-Jahren. akg-images/Keystone

Während Geld im DDR-Alltag nur eine untergeordnete Rolle spielte, weil das Waren­angebot bekanntlich überschaubar war und Wohnungen, Urlaubs- und Bildungs­möglichkeiten staatlich zugeteilt wurden, war die eigene Stellung innerhalb des betrieblichen Netzwerks ein wesentlicher Faktor für den Zugang zu Ressourcen. In den Betrieben führte das nicht nur zu blossem Konformismus, sondern hatte, im Gegenteil, oft ein starkes Selbst­bewusstsein der Belegschaft zur Folge. Denn solange man sich nicht gegen Partei und System auflehnte, gab es aufgrund der praktischen Unkündbarkeit zahlreiche Räume des Widerstands gegen die Vorgesetzten. Diese konnten sich, wie Steffen Mau beschreibt, in einem überaus robusten Auftreten gegenüber den Chefs oder auch im «selbst gewählten Feierabend» äussern.

Soziologisch gesprochen war die DDR eine nach unten nivellierte, also auf niedrigem Niveau angeglichene Werktätigen­gesellschaft. Zwar gab es enorme Privilegien für systemtreue Kader, die sozialen Unterschiede blieben in der Breite aber relativ klein. Eine wesentliche Kehrseite dieses Modells – das selbstverständlich auch durch einen autoritären Überwachungs­staat zusammen­gehalten wurde – war, dass es Aufstiegs­möglichkeiten zunehmend blockierte. Während in der Anfangs­phase der DDR noch eine hohe Aufwärts­mobilität herrschte, verkleinerte sich diese im Laufe der Zeit, was immer mehr Frustration erzeugte. Ab Mitte der 70er-Jahre war die DDR vermutlich das einzige entwickelte Land, in dem die Quote der Studierenden sank. Der Grund war das sozialistische Selbst­verständnis als «Arbeiter- und Bauernstaat», der zur ideologischen Selbst­legitimation die heroisch aufgeladene Stellung des «einfachen» Werktätigen zu halten versuchte.

Warum ist dieser historische Hintergrund so wichtig?

Weil erst vor ihm die volle Wucht der ostdeutschen Transformation nach 1990 deutlich wird. Aus einer kollektivistisch organisierten, sozial ausgeglichenen und industrie­proletarisch durchaus selbstbewussten Vollbeschäftigungs­gesellschaft sollte nun in kürzester Zeit eine marktwirtschaftliche, konkurrenz­orientierte und prekarisierte Dienstleistungs­gesellschaft werden – bei schlagartiger Massenarbeitslosigkeit von über einer Million Menschen. Zeitgleich vollzog sich durch die ökonomische Unsicherheit ein massiver Geburten­einbruch, und eine enorme Abwanderungswelle von rund 10 Prozent der Bevölkerung setzte ein.

Ganze Regionen wurden so nachhaltig demografisch ausgedünnt. Das wirkt bis heute nicht nur in einer Überalterung Ostdeutschlands nach, sondern auch in einer Vermännlichung. Weil überproportional viele Frauen in den Westen gezogen sind – Anfang der 90er-Jahre waren es doppelt so viele wie Männer –, herrscht heute ein Männer­überschuss in Ostdeutschland.

Es mag paradox klingen, aber nicht zuletzt dieser Bevölkerungs­schwund hat den Boden für fremden­feindliche Populisten bereitet.

Wie der bulgarische Politologe Ivan Krastev vor einiger Zeit in einem «Spiegel»-Interview bemerkte, zeigt sich in ehemaligen Ostblock-Staaten – ganz gleich, ob Polen, Rumänien oder DDR – stets das gleiche Bild: In jenen Gegenden, wo die Abwanderung besonders gross war, haben Rechte heute hohe Wahlergebnisse. Denn die demografische Verödung vergrösserte für die Dagebliebenen nicht nur das Gefühl der Deklassierung; sie erhöhte auch die Anschluss­fähigkeit von rechtsextremen Phantasmen wie dem «Bevölkerungs­austausch», der verstärkt im Zuge der Flüchtlingskrise aufkam. Wo Landstriche sich entvölkern, bekommt das verschwörungs­theoretische Geraune vom politisch gewollten «Identitäts­verlust» einen mitunter beängstigend grossen Resonanzraum.

Für Ostdeutschland kam allerdings noch eine Besonderheit hinzu, die im Vergleich zu anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks einzigartig war.

Die ostdeutschen Eliten wurden im grossen Stil gegen westdeutsche ausgetauscht. Richter, Behörden­leiter und Kultur­funktionäre aus der Bundesrepublik, die eine informell als «Buschprämie» bezeichnete Zulage bekamen, strömten in den Osten, um Marktwirtschaft und Demokratie aufzubauen – und Karriere zu machen. Darin liegt nicht zuletzt der Grund, warum gemäss einer Studie bundesweit bis heute nur 1,7 Prozent der gesellschaftlichen Spitzen­positionen von Ostdeutschen besetzt werden. Selbst innerhalb Ostdeutschlands sind es nur 23 Prozent. Zudem wird nicht eine der 81 öffentlichen Universitäten im heutigen Deutschland von einem Ostdeutschen geleitet. Das erzeugt nicht nur Repräsentations- und Anerkennungs­lücken. Es erhöhte auch bei zahlreichen Bürgern die Anschluss­fähigkeit eines ebenso amorphen wie dumpfen Anti-Eliten-Ressentiments gegen «die da oben», wie es heute insbesondere von den Rechtspopulisten bewirtschaftet wird.

2. Die kulturelle Wende oder: Ein Wertesystem wird ausgetauscht

So heftig der demografische Faktor im Osten Deutschlands wirkt: Die ostdeutschen Transformations­prozesse sind ohne ihre kulturelle Dimension nicht zu verstehen.

Denn auch das normative Wertesystem unterlag nun in vielen Bereichen einem radikalen Wandel – bis hin zu ästhetischen Vorstellungen. Galten beispielsweise die Neubau­gebiete in der DDR als durchaus begehrte Wohnlagen, firmierten sie in den Augen vieler Westdeutscher nun als graue «Plattenbauten». Auch sonst vollzog sich direkt nach der Wende eine umfassende Abwertung der DDR-Kultur. Im Vergleich zur enormen soft power westlicher Musik, Literatur und Filme, die man nun nicht mehr nur als «Bückware» kaufen musste, hatten ihre ostdeutschen Pendants wenig Reiz. Was sich nicht zuletzt auch daran zeigte, dass die Besucher­zahlen in ostdeutschen Museen und der Absatz von in der DDR gedruckten Büchern rapide sanken.

Kinderspielplatz in Rostock, 1976: Aus begehrten Wohnanlagen in der DDR der 70er-Jahre wurden nach dem Mauerfall von Westdeutschen verspottete «Plattenbauten». Caro/Keystone

Auch die politische Kultur befand sich in der Wendezeit in einem gleich doppelten Wandel.

Zwar hatten viele Ostdeutsche durch die Montags­demonstrationen und die «friedliche Revolution» gerade zum ersten Mal in grossem Stil ihre kollektiv-demokratische Handlungs­macht gespürt. Auf eine so umfassende und schnelle Organisation demokratischer Mitbestimmung, wie sie aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse nötig war, war die ostdeutsche Gesellschaft jedoch nicht vorbereitet. Denn auch wenn es im Kleinen, etwa in kirchlichen Kreisen, schon vor der Wende zivil­gesellschaftliches Engagement in der DDR gab, lagen die «politischen» Spielräume in der Regel nur im Privaten oder in den Betrieben.

In diese Lücke stiessen deshalb die westdeutschen Parteien.

So, wie die Wieder­vereinigung Deutschlands formal eine Erweiterung der Bundesrepublik um Ostdeutschland war, wurde die ehemalige DDR auch parteipolitisch aufgesogen. Schon bei der letzten – und ersten freien – Wahl der DDR-Volkskammer 1990 hatten CDU, SPD, FDP und Grüne de facto das Ruder übernommen.

Der demokratische Aufbruch der ostdeutschen Bürger­bewegung bekam dadurch sofort wieder einen Dämpfer. In einer Formulierung wiederum von Steffen Mau: Die DDR-Bürger wurden zur «Verschiebe­masse des westdeutschen Parteien­systems». Man mag auch in dieser Erfahrung eine Erklärung – keine Rechtfertigung – sehen, dass heute nur 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie als beste Staatsform betrachten.

In kultureller Hinsicht spielte schliesslich noch ein dritter Aspekt eine Rolle.

Denn trotz der ständig beschworenen «Solidarität» mit den sozialistischen «Bruderstaaten» und dem offiziellen «Antifaschismus» und «Inter­nationalismus» der Arbeiterklasse hatte die DDR einen «sozialistischen Patriotismus» kultiviert. Unter diesem Denkmantel wuchsen besonders in den 70er- und 80er-Jahren fremden­feindliche und rassistische Ressentiments, die es offiziell nicht geben durfte – und die deshalb meist auch runtergespielt wurden. Dass im Sommer 1975 in Erfurt algerische Vertrags­arbeiter tagelang durch die Stadt gehetzt wurden, hielten die Behörden unter dem Deckel. Ebenso blieb eine Reaktion der Polizei aus, als ein ostdeutscher Neonazi-Mob im Herbst 1987 ein linkes Konzert in der Berliner Zionskirche stürmte und auf die Zuschauer einprügelte.

Rassistische Ausschreitungen im Osten Deutschlands sind kein neues Phänomen: Applaus in Hoyerswerda für Ausländer, die von der Polizei abtransportiert werden (1991). Detlev Konnerth/Imago

Insofern kamen die neonazistischen Gewalt­ausbrüche kurz nach der Wende, etwa die pogromartigen Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 oder Rostock-Lichtenhagen 1992, keineswegs aus dem Nichts. Sie standen erstens in der Kontinuität historischer Vorläufer. Und sie waren zweitens auch das Ergebnis davon, dass die DDR insbesondere in den 80er-Jahren die Entwicklung von Neonazi-Netzwerken verharmloste oder gar ignorierte. Vor diesem Hintergrund verwundert es also nicht, dass es diesen Netzwerken schnell gelang, sich in Ostdeutschland festzusetzen.

3. Die ökonomische Wende oder: Neoliberale Schocktherapie

Will man die ostdeutsche Gegenwart verstehen, muss man schliesslich auf die ökonomischen Umwälzungen der 90er-Jahre blicken.

Hier griffen zwei entscheidende Entwicklungen ineinander: Erstens setzte in Ostdeutschland umgehend eine hohe Arbeits­losigkeit ein, sodass Menschen massenweise – meist als billigere Arbeitskräfte – nach Westdeutschland abwanderten. Die ersehnte Aufwärts­mobilität vieler DDR-Bürger wurde somit nach dem Mauerfall ein zweites Mal enttäuscht, was umso grössere Frustration erzeugte.

Ebenso wichtig aber ist zweitens die Art und Weise, wie die ökonomische Transformation ablief – nämlich in Form einer markt­wirtschaftlichen Schock­therapie unter dem Stichwort der «nachholenden Modernisierung».

Es handelte sich um einen Umbau der maroden DDR-Wirtschaft nach neoliberalen Vorgaben: Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung. Konkret bedeutete das zunächst, dass die Treuhandanstalt, zu deren Aktivitäten sowohl die Linkspartei als auch die AfD im Thüringer Landtag jüngst einen weiteren Untersuchungsausschuss beantragten, in Windeseile Abertausende Betriebe privatisierte. Aber auch die Ostdeutschen selbst sollten schnell marktwirtschaftlich flexibel werden. 75 Prozent der arbeits­fähigen Bevölkerung aus der ehemaligen DDR wurden deshalb in den ersten Nachwende­jahren in «arbeits­politische Massnahmen» gebracht, lernten also etwa in Umschulungen und Seminaren, wie man im Kapitalismus «performt». Dies wurde insbesondere von Älteren und Berufs­erfahrenen als demütigend empfunden – und führte oft auch nur zu einer Beschäftigung im Niedriglohn­sektor oder zur Frühverrentung.

Im Gegensatz zu manch anderen ex-sozialistischen Staaten, wo die Privatisierung mit Verzögerung eintrat oder, wie in Tschechien, Anteils­scheine an die Bevölkerung ausgegeben wurden, hat der neoliberale Umbau die DDR mit voller Wucht getroffen. Mittelfristig führte das sowohl auf ost- als auch auf westdeutscher Seite zu enormer Frustration. Denn während in Ostdeutschland der Lebens­standard und das Konsumniveau zwar stiegen, hatte man mit Massen­arbeitslosigkeit, relativem Status­verlust und kollektiven Deklassierungs­erfahrungen zu kämpfen. Im Westen der Republik wiederum sah man sich als Zahlmeister, dem vor allem Undank entgegenschlug.

Ins Abseits gestellt: Frauen an einer Montagsdemo in Leipzig 1991. Daniel Biskup/Laif/Keystone

Finanziell nämlich brachte die Bundes­republik für die oft maroden und unproduktiven Betriebe samt der herunter­gekommenen Infrastruktur tatsächlich enorme Summen auf. Bis heute flossen rund zwei Billionen Euro in die Wieder­vereinigung, davon allein 300 Milliarden in den Aufbau ostdeutscher Infrastruktur. Selbst die Treuhand machte Einzelne zwar reich, bilanzierte am Ende statt erwarteter Gewinne jedoch ein Defizit von über 200 Milliarden.

Diese historische Hintergrund­folie auf den Ebenen der Sozialstruktur, der Kultur und der Ökonomie kann womöglich nicht die komplette Gegenwart Ostdeutschlands erklären. Aber sie kann andeuten, warum die Debatte um Ostdeutschland 30 Jahre nach der Wende immer noch so komplex und vielschichtig ist. Zumal sich die tatsächlichen Deklassierungs­erfahrungen und fortbestehenden Anerkennungs­defizite im Osten der Republik bisweilen auch mit einer trotzigen Selbst­viktimisierung und reaktionären Ressentiments vermischen.

So bildet sich jener Nährboden, der von rechtsextremen AfD-Spitzen­kandidaten wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz momentan so erfolgreich bewirtschaftet wird. Höcke und Kalbitz sind übrigens beide Westdeutsche.

4. Und jetzt?

Bei all dem drohen zwei Dinge aus dem Blick zu geraten.

Das sind zunächst einmal die positiven Entwicklungen, die es eben auch gibt: von der mittlerweile relativ niedrigen Arbeits­losigkeit über die infrastrukturelle Instandsetzung ganzer Landstriche bis hin zu den oft ausgezeichneten Bildungs- und Kultur­institutionen.

Zu denken geben sollte allerdings auch der Umstand, dass Teile der einst spezifisch ostdeutschen Transformations­erfahrung mittlerweile zum bundesdeutschen Erfahrungs­schatz geworden sind. Denn so sehr die ehemalige DDR eine Art Experimentier­feld für die neoliberale Agenda wurde, so sehr breitete sich diese im Laufe der 2000er-Jahre auch im Westen der Republik aus. Der Historiker Philipp Ther hat das Phänomen bereits in seinem 2014 erschienenen Buch «Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent – Eine Geschichte des neoliberalen Europa» unter dem Begriff der Kotransformation beschrieben.

Aus heutiger Perspektive war die neoliberale Schock­therapie gewisser­massen «nur» der Vorlauf für den gesamt­deutschen Umbau des Sozialstaats. Wurden die Ostdeutschen schon in den 90er-Jahren bisweilen als «Pioniere der Prekarität» bezeichnet, beschrieb sie Gerhard Schröder 2004 als «leistungsbereit und flexibel». Durch die Betonung der Anpassungs- und Leistungs­fähigkeit der Ostdeutschen, so Ther, «wurde die diskursive Grundlage dafür geschaffen, um auch den Westdeutschen Reformen und soziale Einschnitte zuzumuten».

Und tatsächlich sollte es ja durch die sogenannten Hartz-Reformen genau so kommen. In deren Vorlauf galt nicht mehr nur der Osten als «rückständig», sondern der gesamt­deutschen Bundes­republik wurde nun die Notwendigkeit einer «nachholenden Modernisierung» attestiert, um fit für die Globalisierung zu werden.

Das waren, en gros, vor allem jene Massnahmen, die Ostdeutschland schon direkt nach der Wendezeit erlebt hatte: Privatisierung, Beschneidung des Sozialstaats, Ausweitung des Niedriglohn­sektors sowie arbeitsmarkt­politische Aktivierung des Einzelnen.

Ostdeutschland trafen die Hartz-Reformen durch die proportional höhere Arbeits­losigkeit zwar noch stärker als den Westen, weshalb in Leipzig und anderen Städten auch die Tradition der einstigen Montags­demonstrationen wieder aufgegriffen wurde. Doch auch der Westen der Republik wurde nun tendenziell prekarisiert. Oder wie Philipp Ther schreibt: «Nachdem die Angleichung nach oben, die Strategie des Jahres 1990, gescheitert war, erfolgte nun mit den Arbeitsmarkt­reformen und speziell der Schaffung des Niedriglohn­sektors eine Angleichung nach unten.»

Es gehört somit zur Ambivalenz von fast 30 Jahren deutscher Einheit, dass West- und Ostdeutschland trotz aller fortdauernden Unter­schiede gleichzeitig zusammen­gewachsen sind – im Positiven wie im Negativen.

Die drängende Frage aber ist, wie in Zukunft politisch damit umgegangen wird. Ob etwa die AfD weiterhin reüssiert, indem sie den sozialen, ökonomischen und demografischen Problemen der Gegenwart mit einer Art ideologischem Methadon aus Rassismus, Nationalismus und ostdeutschem Tribalismus begegnet? Oder ob sich daraus ein bundes­deutsches Bewusstsein entwickelt: für die Notwendigkeit, sich gegenseitig besser zuzuhören und die gemeinsamen Erfahrungen in ein soziales und demokratisches Zukunfts­projekt umzumünzen?

Die Antwort auf diese Fragen wird nicht an diesem Wochenende gegeben. Aber vielleicht zeigt «der» Osten schon bei dieser Wahl, dass er diverser ist, als es ihm oft attestiert wird.

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) geboren, studierte Literatur- und Sozial­wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redaktor des «Philosophie Magazins». Für die Republik schrieb er bereits über das drohende Ende der Sozialdemokratie und über den Mordfall Walter Lübcke.