Das Ende der Sozialdemokratie
Die sozialdemokratischen Parteien sind fast überall im Niedergang. Dafür gibt es zwei konkurrierende Erklärungen. Das Problem ist nur: Sie greifen beide viel zu kurz.
Von Nils Markwardt, 20.11.2018
Als Andrea Nahles, die Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, jüngst der «Süddeutschen Zeitung» ein Interview gab, wollte sie wohl eigentlich die Scherben der katastrophalen Wahlniederlagen in Bayern und Hessen auffegen und sich kämpferisch zeigen. Was von dem Gespräch jedoch in Erinnerung blieb, war eine eher beiläufig gemachte Aussage, die dann aber vielfach in den sozialen Netzwerken geteilt wurde und alles nur noch schlimmer machte. Gefragt, was die Menschen in ihrem Heimatort in der Vulkaneifel über den Zustand der SPD sagten, antwortete sie: «Die Leute in Weiler reden mit mir über das Wetter, dass die Strasse repariert werden muss, die Schule. Über Politik reden sie nicht oft mit mir.»
Nun ahnt man, wie Nahles das meinte. Dass die Aussage dennoch so gelesen wurde, dass marode Schulen und Strassen für die SPD-Vorsitzende nichts mit Politik zu tun haben, ist indes symptomatisch für den Zustand der Sozialdemokratie: Selbst im Versuch der Wiederbelebung wirkt sie todessehnsüchtig. Und das gilt nicht nur in Deutschland. Auch in vielen anderen europäischen Ländern, etwa in Frankreich oder den Niederlanden, befinden sich die sozialdemokratischen Parteien dank Ideen-, Plan- und Konturlosigkeit im Prozess der Selbstabschaffung.
Das erscheint umso dramatischer, weil zur gleichen Zeit der Aufstieg des Rechtspopulismus kein Ende findet. Es vergeht kaum ein Tag ohne die mediale Druckbetankung durch Trump, Gauland & Co., deren hasspumpendes Politainment alle anderen Parteien vor sich hertreibt. Die Debatte über den Uno-Migrationspakt ist dafür nur das jüngste Beispiel. Folglich überrascht es auch kaum, dass die AfD in aktuellen Wahlumfragen bei 14 Prozent gleichauf mit der SPD liegt.
Auch wenn viele Genossen nun fassungslos auf die rapide Umwälzung der europäischen Parteiensysteme starren, im Zuge derer sich der Aufstieg des Rechtspopulismus bei gleichzeitiger Pulverisierung der Sozialdemokratie vollzieht, hat man es hier keineswegs mit einem plötzlichen Fallout der Vernunft zu tun. Vielmehr handelt es sich um einen Ausdruck langfristiger Strukturveränderungen und politischer Kursverschiebungen. Die Frage ist nur: Welche sind es genau?
Klassen- oder Freiheitsproblem?
Hierzu firmieren vor allem zwei miteinander konkurrierende Hypothesen. Die eine könnte man die Verlierer-Hypothese nennen. Sie besagt, dass der Rechtspopulismus vor allem von der weissen, abgehängten Arbeiterklasse getragen wird, die sich von einer neoliberal gewendeten Linken nicht mehr vertreten fühle. Trump, AfD & Co. wären damit eine Art ideologischer Lückenfüller für Modernisierungsverlierer; die Folge eines Vakuums, das eine klassenkämpferisch kastrierte und sich vermeintlich nur noch auf Identitätspolitik kaprizierende Linke geschaffen habe. Die andere beliebte Erklärung könnte man die Backlash-Hypothese nennen. Sie diagnostiziert einen Rollback, bei dem weniger die wirtschaftlichen Aspekte entscheidend seien. Vielmehr handle es sich um eine regressive Reaktion auf die gesellschaftliche Liberalisierung.
Je nachdem, wo die Hauptmotivation rechtspopulistischer Wähler vermutet wird, variieren auch die politischen Therapieangebote an die Linke. Im ersten Fall sollte sich diese von ihrem «Neue Mitte»-Kurs verabschieden, sich von ihrer vermeintlichen Fixierung auf Minderheiten lösen und das am besten noch mit einer Prise Patriotismus würzen, um die abgehängten Blue-Collar-Worker wieder zurückzugewinnen. Im zweiten Fall solle sie sich wiederum möglichst stark vom Rechtspopulismus abgrenzen, indem sie aktiv für Liberalität und Vielfalt wirbt, um nicht das urbane, linksliberale Milieu zu verlieren.
Ökonomischer Hintergrund als relevanter Faktor
Das Problem ist nur: Genau besehen, stimmt keine der beiden Hypothesen. Das hat der in Bremen lehrende Politikwissenschaftler Philip Manow noch einmal ausführlich in seinem gerade erschienenen, überaus lesenswerten Buch «Die Politische Ökonomie des Populismus» aufgezeigt. Manows Kernthese besagt zunächst, dass populistische Reaktionen auf die Globalisierung – verkörpert durch den internationalen Handel einerseits und die Migration andererseits – sich darin unterscheiden, in welchem Wirtschaftsmodell sie stattfinden.
Konkreter: Werden in Südeuropa vor allem Konsumgüter für den Binnenmarkt produziert, gilt die Globalisierung des Handels hier tendenziell als Bedrohung, da diese Produkte im Zweifelsfall in China billiger hergestellt werden. Gleichzeitig wird die Migration als weniger problematisch empfunden, da niedrigqualifizierte Einwanderer schnell Arbeit in der Landwirtschaft finden und zudem kaum Zugang zum klientelistisch organisierten, also an bestimmte Unterstützungsnetzwerke und Berufsgruppen gebundenen Sozialstaat haben.
Dass mit Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland eher links- statt rechtspopulistische Parteien erfolgreich sind, hat also nichts damit zu tun – wie es die Cultural-Backlash-Hypothese behaupten müsste –, dass Griechen und Spanier an sich weniger fremdenfeindlich wären als Schweden oder Deutsche. Es ergibt sich schlicht daraus, dass hier der internationale Handel und nicht die Migration als bedrohlich empfunden wird.
In Kontinental- und Nordeuropa ist es jedoch genau andersherum. Werden in Deutschland oder Schweden vor allem exportgetriebene Investitionsgüter hergestellt, die man beispielsweise in China braucht, wirkt sich der Güterverkehr tendenziell positiv aus. Da aber dieses Wirtschaftsmodell vor allem auf hochqualifizierte Fachkräfte setzt, besitzt es zum sozialen Ausgleich gegenüber Niedrigqualifizierten einen – vergleichsweise – umfassenden und leicht zugänglichen Sozialstaat. Deshalb wird hier eher die Migration als problematisch empfunden.
Abstiegsangst nährt Populismus
Die Frage allerdings lautet: Wer genau empfindet die Migration als problematisch? Nimmt man das Beispiel der AfD, sind es eben nicht die klassischen Modernisierungsverlierer. Die Partei schneidet nämlich gerade in Wohlstandsregionen wie Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg besonders gut ab. So folgert Manow denn auch in seinem Buch: «Nicht in den strukturschwachen Gebieten, sondern gerade dort, wo das traditionelle deutsche industrielle Modell noch intakt ist, scheinen die Rechtspopulisten überdurchschnittliche Erfolge zu feiern – und das nicht bei den benachteiligten Arbeitsmarktgruppen, sondern eher bei denen in regulärer Beschäftigung.»
Offenbart sich damit in Deutschland also kein erkennbarer Zusammenhang zwischen aktueller Arbeitslosigkeit und AfD-Präferenz, zeigt sich jedoch insbesondere in Ostdeutschland eine Verbindung mit früherer Arbeitslosigkeit. Dort, wo die Arbeitslosigkeit im Jahr 2000 besonders hoch war, haben die Rechtspopulisten 2017 überproportionale Erfolge gefeiert. Das legt den Befund nahe, dass sich im Votum für die AfD keine gegenwärtige Abgehängtheit, sondern vielmehr die Angst vor einer zukünftigen spiegelt – eine Angst, die durch bereits erlebte Erwerbslosigkeit angetrieben wird.
Nun darf man freilich nicht vergessen, dass die reaktionäre Sehnsucht nach einer autoritär-homogenen Gesellschaft ebenfalls ein rechtspopulistischer Erfolgsfaktor ist. Das zeigt sich schon daran, dass AfD & Co. ja nicht nur das Thema Migration mit fremdenfeindlichen Ressentiments besetzen, sondern auch Stimmung gegen den Islam, Feministinnen und Klimaschutz machen. Dennoch verweist der Aspekt der Abstiegsangst auf einen wichtigen Punkt, bei dem auch die Sozialdemokratie wieder ins Spiel kommt. Wenn es nämlich vor allem die Furcht vor zukünftiger Abgehängtheit ist, vor deren Hintergrund die AfD Wähler aktivieren kann, ist das nicht zuletzt ein Effekt der einstigen Agenda-Politik von Rot-Grün unter Gerhard Schröder.
Der Kern der sogenannten Hartz-Reformen bestand schliesslich darin, dass durch die drastische Verkürzung des Arbeitslosengeldes (ALG I) vom Prinzip des Statuserhalts auf das der Grundversorgung umgestellt wurde. Das heisst: Von nun an brauchte es in der Regel nur zwölf Monate, bis man vom Arbeitsmarkt-Insider zum ALG-II-beziehenden Outsider wurde. «Es scheint nun sehr wahrscheinlich», konstatiert Manow, «dass im Zuge der Flüchtlingskrise dieser ‹Agenda-Effekt› zum Tragen gekommen ist. Jetzt war klar, dass man im Falle der Arbeitslosigkeit nach nur einem Jahr in einer sozialstaatlichen Absicherung faktisch Flüchtlingen gleichgestellt wäre, und das völlig unabhängig vom Ausbildungsstand, vorherigen Verdienst (und damit der Beitragshöhe) und der vorherigen Betriebsdauer.»
Mit anderen Worten: Es war ein Kardinalfehler der SPD, mit ihrer Agenda-Politik Zukunftsangst geradezu produziert zu haben. Doch es gibt für den sozialdemokratischen Bedeutungsverlust auch noch weitere Gründe. Begann dieser nämlich bereits schleichend in den 1980er-Jahren, um sich dann nach dem kurzen Hoch der Blair-Schröder-Ära noch rapider fortzusetzen, hängt das auch mit dem Dreiklang aus Globalisierung, Pluralisierung und Deindustrialisierung zusammen. Dank diesem befindet sich das vormals relativ homogene Milieu der sozialdemokratischen Kernwählerschaft, allen voran gewerkschaftlich organisierte (Fach-)Arbeiter und Angestellte, in einem fortlaufenden Auflösungsprozess.
Pluralisierung versus Pauschalurlaub
Stellt die soziale Fragmentierung alle Volksparteien vor Probleme, so gilt das für die Sozialdemokratie ganz besonders. Und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens, weil Letztere sich historisch nie nur als Sammelbecken politischer Interessen verstand, sondern immer auch als Verteidigerin des industriell-standardisierten Lebensstils. In dem Moment aber, wo sich durch die Pluralisierung immer stärker eine – wie der Soziologe Andreas Reckwitz es nennt – «Gesellschaft der Singularitäten» herausbildet, in der Currywurst und Pauschalurlaub nicht mehr zum lebensweltlichen Identitätskern gehören; in dem Moment, in dem sich quer durch alle Schichten jenes Bedürfnis nach individueller Besonderheit offenbart, verliert die Sozialdemokratie ihren ästhetischen Resonanzraum. Exemplarisch zeigt sich dies im Werbeslogan «Du bist, was du erlebst» von Jochen Schweizer, der erfolgreich individuell angepasste Reisen und Geschenke anbietet.
Das ist sehr viel dramatischer, als es im ersten Moment klingen mag. Denn die ästhetische Verkörperung des standardisiert-industriellen Lebensstils war für die Sozialdemokratie stets mehr als nur blosses Beiwerk zum politischen Programm. Für eine Kultur des Durchschnitts einzustehen, diente ihr auch als eine Art vorpolitisches Bindemittel zum eigenen Kernmilieu. Insofern die Arbeiter- und untere Angestelltenkultur von ihrem grossbürgerlichen Pendant oft pikiert unter Proletenverdacht gestellt wurde, fungierte die SPD als identitätspolitische Schutzmacht der eigenen Leute. Als politischer Arm der Opel-Werke und parteigewordener Normcore war ihre Botschaft: Ganz gleich, was «die da oben» sagen, ihr könnt stolz auf euer Leben sein.
Ich versus die anderen
Doch geht es, zweitens, bei der voranschreitenden Pluralisierung nicht nur um den Attraktivitätsverlust der Normcore-Ästhetik. Denn Pluralisierung, so betont es die österreichische Philosophin Isolde Charim in ihrem Buch «Ich und die Anderen», meint nicht nur, dass die Gesellschaft ein bisschen ausdifferenzierter, diverser und religiös vielfältiger wird. Die unhintergehbare Anwesenheit der anderen kratzt vielmehr an der Selbstverständlichkeit jedweder Form von Identität. Durch die Präsenz von Judentum, Islam und Hinduismus kann beispielsweise auch kein Christ mehr selbstverständlich Christ sein, sondern sieht seinen Glauben neben anderen stehen, weshalb er sich viel aktiver für diesen – und eben keinen anderen – entscheiden muss. Das führt wiederum dazu, dass die eigene Ich-Geschichte an Bedeutung gewinnt. Identität entsteht immer weniger durch die Einbettung des Einzelnen in einen grösseren Sinnzusammenhang, sei es in Form der Religion, Nation oder einer geschlossenen Ideologie; sie entsteht durch das Storytelling der eigenen Biografie.
Ein Politiker, der das verstanden hat wie kaum ein zweiter, ist Emmanuel Macron. «Der Kern seines Wahlkampfs», konstatierte Charim jüngst in einem «Spiegel»-Interview, «waren Bürgerversammlungen, die im ganzen Land stattgefunden haben. Das waren keine normalen Parteiveranstaltungen. Die unterschiedlichsten Leute sind dort nach vorn gegangen und haben ihre Geschichte erzählt. Und ihnen wurde zugehört. Wie eine Sprechtherapie. Macron ist damit die Quadratur des Kreises gelungen – in einer Massengesellschaft den Einzelnen vorkommen zu lassen, ohne dass er sich unterordnen muss. Das ist das Begehren unserer Zeit.»
Die Sozialdemokratie, insbesondere die deutsche, verkörpert mit ihren Ortsvereinen und starren Strukturen hingegen das genaue Gegenteil. Sie ist der Inbegriff der politischen Organisation. Lange war sie das zwangsläufig. Ihr historisches Selbstverständnis bestand schliesslich darin, die verstreute Arbeiterklasse zu einem politischen Subjekt zu formen. Im Zuge der Pluralisierung wird dies zum Nachteil.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich dann auch, warum die Sozialdemokratie innerhalb des linken Lagers heute entweder an die Grünen verliert, so wie in Deutschland, oder an loser organisierte Sammelbewegungen wie in Frankreich an Jean-Luc Mélenchons «La France insoumise» oder an Macrons «En Marche». Wer besonders individuell Ich sein will, kommt zumindest nicht als Erstes auf die Sozialdemokratie.
Alte versus neue Gegensätze
Schliesslich besteht der dritte Effekt von Pluralisierung, Globalisierung und Deindustrialisierung im Schwinden altgedienter Gegensätze – die allerdings auch Orientierung gaben. «Cleavages» nannten die Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan Ende der 1960er-Jahre solche gesellschaftlichen Konfliktlinien, um die sich die Parteiensysteme formierten. Beispielsweise Arbeit gegen Kapital, Staat gegen Kirche oder Stadt gegen Land. Je nachdem, auf welcher Seite man stand, wählte man die entsprechende Partei.
Diese traditionellen Cleavages wurden in den vergangenen Jahrzehnten jedoch immer unsichtbarer. Nicht zuletzt dank der Sozialdemokratie. Das Versprechen vom «Dritten Weg» der Blair-Schröder-Ära bestand immerhin in der Überwindung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit. Gleichzeitig gewannen neue Cleavages an Bedeutung, vor allem entlang des Themas Ökologie und im Widerstreit von Kosmopolitismus und Kommunitarismus. Auch vor diesem Hintergrund wundert es kaum, dass die AfD und die Grünen momentan die grössten Zustimmungszuwächse verzeichnen. Als jeweilige ideologische Pole besetzen sie diese neuen Konfliktlinien am deutlichsten. Gleichzeitig erklärt es auch, warum die Sozialdemokratie kaum Profil gewinnen kann. Hat sie selbst massgeblich dazu beigetragen, ihre alte Konfliktlinie unsichtbar zu machen, steht sie bei den neuen ohne erkennbare Konturen irgendwo in der Mitte.
Die Sozialdemokratie der Zukunft
Gibt es vor diesem Hintergrund also überhaupt noch eine Chance für ein Comeback der Sozialdemokratie? Eine nicht unwahrscheinliche Prognose wäre: nein. Womöglich sind ihre Probleme einfach zu strukturell und der Kurswechsel der Blair-Schröder-Ära zu stark gewesen, als dass sie sich davon noch einmal erholen könnte. Zumal sich in vielen europäischen Mehrparteiensystemen eben schon andere Parteien, in Deutschland etwa die Grünen und die AfD, als jeweilige Alternativen anbieten.
Auf der anderen Seite scheint aber das Prinzip der Sozialdemokratie extrem aktuell. Tatsächlich ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ja keineswegs verschwunden, ganz im Gegenteil. Wurde dieser lediglich von der «Dritte Weg»-Ideologie überdeckt, bestünde die gegenwärtige Aufgabe darin, ihm neue Ausdrucksformen zu verleihen. Innerhalb einer pluralisierten Gesellschaft, in der sich zudem die völlige Entpolitisierung der Gewerkschaften vollzogen hat, lässt sich das aber nicht mit einem Drehbuch aus den 70er-Jahren machen.
Anstatt also bloss eine hemdsärmelige Arbeiterkultur der Vergangenheit zu beschwören und diese mitunter sogar gegen linke Identitätspolitik auszuspielen, müsste die Sozialdemokratie schlichtweg wieder eine Stimme für alle Unterprivilegierten werden. Und wie gleichermassen dramatisch und vielfältig dort die Probleme von Armut, prekärer Beschäftigung und Zukunftsangst sind, konnte man jüngst unter #unten bei Twitter lesen. Die Sozialdemokratie müsste endlich erkennen, dass Umverteilungs- und Anerkennungspolitik schon deshalb keine Gegensätze sind, weil einerseits rassistische Diskriminierung oft Ursache von Armut ist, andererseits Armut selbst wiederum zu Formen sozialer Ausgrenzung führt.
Um der pluralisierten Gesellschaft Rechnung zu tragen, müsste die Sozialdemokratie also einen Weg finden, ihre einstigen Kernprinzipien von Solidarität und Internationalismus für eine Welt upzudaten, in der die Ausbeutung nicht mehr nur in Fabriken, sondern auch im Co-Working-Space stattfindet. Kurz: Die europäische Sozialdemokratie müsste zurück zu ihren Wurzeln und diese gleichzeitig vergessen. Will sie nicht lautlos verschwinden, bleibt ihr eigentlich gar nichts anderes übrig, als das zu versuchen. Das Prinzip dahinter dürfte manchen Genossen immerhin noch vage bekannt sein. Es heisst Dialektik.
Nils Markwardt, 1986 in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) geboren, studierte Literatur- und Sozialwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redakteur des «Philosophie Magazins».
Dieser Beitrag fand breite Resonanz bei unseren Verlegerinnen – und provozierte Fragen. Auf die wichtigsten geht der Autor noch einmal ein. Lesen Sie auch «Das Ende der Sozialdemokratie – ein Nachtrag».