Die Schweiz wappnet sich für den Angriff aus dem Silicon Valley
Recherchen zeigen: Facebooks «I’m a Voter»-Button hat Wahlen und Abstimmungen in 66 Ländern beeinflusst. Jetzt plant der Konzern, das umstrittene Instrument auch bei den eidgenössischen Wahlen einzusetzen. Bern ist alarmiert.
Von Adrienne Fichter, 16.05.2018
Der Termin liegt noch weit weg: 20. Oktober 2019. An diesem Tag wählt die Schweiz ein neues Parlament.
Die Parteien rüsten sich, Kandidaten bringen sich in Stellung. Selbst in Berlin sind die eidgenössischen Wahlen ein Thema. Jedoch nicht im Bundeskanzleramt, sondern im Sony Center am Kemperplatz 1. Dort residiert die Public-Policy-Abteilung von Facebook.
Deren Politics & Government Outreach Managerin, Anika Geisel, war am 11. April in Zürich. Sie empfing zwanzig Politikerinnen und Politiker aus allen Parteien, wie die «Schweiz am Wochenende» vermeldete. Das Thema des Treffens: Wie die Kandidaten von Facebooks Kampagnen-Werkzeugen profitieren können. Es soll eine Werbeveranstaltung für das Technologieunternehmen sein, das schon in der Vergangenheit den Nationalrat Bastien Girod bei seiner Kandidatur beraten hatte (und dies in seinen digitalen Broschüren anpries).
Ein Teilnehmer stellte eine Frage, die keinen Bezug zu den Marketing-Tools hatte. Ob Facebook denn auch in der Schweiz den berühmten «I’m a Voter»-Button einführen werde? Geisels Antwort: Ja, man arbeite daran.
Facebooks umstrittenstes Politik-Angebot kommt also voraussichtlich in die Schweiz. Kein anderes Angebot stellte einen derart krassen Eingriff in einen nationalen Wahlakt dar.
Kein anderes Symbol hatte einen grösseren Ansteckungseffekt im Netz ausgelöst. Und keine andere Funktion sorgte für mehr Verwirrung in der Netzgemeinschaft.
Es handelt sich um ein kleines blaues Symbol, das uns an unsere staatsbürgerliche Pflicht erinnert. Das anzeigt, welche unserer Facebook-Freunde auch wählen gehen. Das plötzlich aus dem Nichts erscheint, aber genauso schnell wieder verschwindet.
Das Symbol sieht dabei immer etwas anders aus: Mal ist es ein Megafon. Mal eine Hand, die ein Briefcouvert in eine Urne schmeisst. Mal ein Banner mit grossen Buchstaben.
Der Konzern hat damit immer wieder «experimentiert». Sich damit in Wahlen eingemischt. Am offenen Herzen verwundbarer Demokratien operiert. Und damit auch die nationale Souveränität unterwandert.
Lange hat das Unternehmen zu dieser umstrittenen Funktion geschwiegen. Es gab kaum offizielle Mitteilungen zur Anwendung der Wahlerinnerung. Eine Liste von Facebook, die der Republik exklusiv vorliegt, zeigt: Das soziale Netzwerk hat den «election reminder» in 66 Staaten eingesetzt. Darunter Länder wie Kenia, Sierra Leone, Tunesien, Frankreich, Island, Malta, Australien und Kolumbien.
Und jetzt soll also der «I’m a Voter»-Button 2019 die knapp vier Millionen Schweizer Facebook-Nutzerinnen darauf hinweisen, wählen zu gehen. Bundesbern ist alarmiert. Eine Gruppe um den Eidgenössischen Datenschützer Adrian Lobsiger wird sich dieser Tage treffen, um sich über Manipulationspotenziale im Netz auszutauschen. Das Ziel: den grossen Angriff auf die direkte Demokratie abzuwenden. Und die Politikerinnen sowie die Gesellschaft über die Gefahren aufzuklären.
Doch weshalb ist eine digitale Wahlerinnerung überhaupt eine Bedrohung für die Demokratie?
Registrierungsexplosion bei den US-Wahlen
Wir schreiben den 22. September 2016. Es ist die heisse Phase im Wahlkampf in den USA. Gerüchte um Hillary Clinton kursieren im Netz. Sie sei krank, habe FBI-Agenten ermorden lassen, sei an einem Pädophilen-Ring beteiligt.
Fake News hatten Hochkonjunktur. Dennoch: Das Interesse an den Wahlen war gering. Die Zahl der Registrierungen stieg kaum. Im Bundesstaat Colorado etwa waren es knapp 3000 Personen, die sich am 22. September eintragen liessen. In Washington 2170, in Minnesota 1839.
Ein Tag später, am 23. September, tauchte in allen amerikanischen Facebook-Profilen prominent platziert ein Fenster auf. «Hast du dich schon registriert? Registriere dich jetzt und stelle sicher, dass du eine relevante Stimme sein wirst in dieser Wahl.»
21 einfache Wörter. Auf farbigem Hintergrund. Was danach passierte, hätten sich die Wahlleiter in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Die Zahl der Registrierungen explodierte. In Colorado sprang die Zahl an jenem Tag auf 20’172 Personen. In Minnesota auf 26’742, in Washington auf 12’985 Personen. Ausnahmslos alle Bundesstaaten vermeldeten einen Ausreisser nach oben.
Am 24. September war das Fenster wieder verschwunden. Die Registrierungskurve flachte ab. Der Facebook-Effekt war vorbei.
Die Zivilgesellschaft jubelte. Brian Kemp, der Staatssekretär von Georgia, war begeistert: «Ich applaudiere Facebook dafür, dass es unsere Bemühungen für die Erhöhung der Wählerregistrierungen unterstützt.»
Wähler waren Laborratten
Doch bei einigen Beobachtern blieb ein ungutes Gefühl zurück. Beispielsweise bei Micah Sifry. Er ist ein Demokratie-Aktivist und redaktioneller Leiter von «Civic Hall», einem Medienportal, das täglich Analysen über Politik und Technologien publizierte. Er war der Erste, der vor Facebooks Demokratie-Experimenten warnte und dem eine derart massive Beeinflussung eines Wahlakts durch eine private Firma nicht geheuer war.
Mit gutem Recht, denn in der Vergangenheit waren die Wähler «Laborratten». Facebook teilte die Wahlbevölkerung in drei Gruppen ein. Einige haben die Wahlerinnerung samt Freundesnetzwerk erhalten, andere haben nichts gesehen, wiederum andere haben nur die Funktion zu Gesicht bekommen, ohne Angabe über das Verhalten ihrer Freunde.
Facebook machte also pausenlos Tests bei laufenden Wahlen.
Genau das war schon 2010 bei den Kongresswahlen geschehen. Man testete simple Sozialpsychologie. Etwa so: Was tun Sie, wenn Sie erfahren, dass Ihre Facebook-Freunde politisch aktiv sind? Wenn ein soziales Netzwerk dazu aufruft: «Mach es wie deine Freunde. Geh wählen.» Genau, auch Sie möchten dabei sein, Ihre Staatsbürgerpflicht wahrnehmen, sich als Vorbild präsentieren.
Gruppendruck ist massgebend für unsere Entscheidungen. Das war auch der Hauptbefund der Kongresswahlen-Studie, deren Ergebnisse 2012 im Fachmagazin «Nature» erschienen sind: Nicht die Erinnerung per se war ausschlaggebend. Sondern das Gefühl, dass meine Facebook-Freunde auch wählen werden. Der Netzwerkeffekt war damit bestätigt.
61 Millionen amerikanische Nutzer haben somit 2010, ohne es zu wissen, bei der Versuchsanlage teilgenommen. 340’000 von ihnen seien sogar nur «deswegen» wählen gegangen, behauptet der Politikwissenschaftler Robert M. Bond von der University of California. Er leitete das Experiment in Zusammenarbeit mit Facebook. Und: Er wiederholte es in den Präsidentschaftswahlen vom November 2012.
Als dieses zweite Experiment im Jahr 2014 publik wurde, gab Bond sogar zu, es könne durchaus möglich sein, dass in jenem Jahr die Mobilisierung leicht zugunsten von Barack Obama ausgefallen sei. Denn Facebook sei zu diesem Zeitpunkt mehr von Frauen und von jüngeren Wählern genutzt worden, die zu den Stammwählern von Obama zählten.
Öffentlichkeit lässt es kalt
Vielleicht war das ein auf den ersten Blick unspektakuläres Ergebnis. Vielleicht war es die gleichzeitig publik gewordene Enthüllung über das Manipulationsexperiment, bei dem der Konzern die Gefühle von 700’000 Nutzerinnen anhand von guten und schlechten Nachrichten beeinflusste. Vielleicht war es auch einfach das Sommerloch im Juni 2014.
Jedenfalls schienen Bonds Forschungsergebnisse die breite Öffentlichkeit kaltzulassen.
Doch Sifry war besorgt. «Weshalb Facebooks ‹Megafon-Funktion› das wahre Problem ist, worüber wir uns Sorgen machten sollten», schrieb der Politik-Experte in einem Essay. Wenn ein TV-Sender einen Wahlappell nur männlichen Zuschauern über vierzig Jahren anzeigen würde, wäre die Empörung gross. Bei Facebook hingegen nehme man es einfach hin.
Diese Wahlerinnerung sei die grösste Manipulationsgefahr, warnte Sifry. Weil sie angeboten wird von einem Konzern, der keine Rechenschaft über seine Demokratie-Experimente ablegen musste.
Verkauft wird die Wahlerinnerung bis heute als staatspolitische Dienstleistung. «Wir denken, dass Demokratie von Engagement und Bürgerbeteiligung lebt. Deshalb zeigen wir Menschen auf Facebook eine Erinnerung zur Wahl», sagt eine Facebook-Sprecherin auf Anfrage der Republik.
Und weil der Konzern das wichtig findet, handelte er einfach. Ohne Absprache. Ohne die Behörden zu informieren. Oder Wahlforscher einzubeziehen. «Move fast and break things.» So hiess das langjährige Firmencredo des Technologie-Riesen. Es gilt auch in der Politik.
Nur wenige nahmen Micah Sifry 2014 ernst, als er seinen Essay publizierte. Einige Forscher drängten auf eine Überprüfung des Facebook-Experiments.
Der Konzern reagierte darauf. Doch nicht so, wie man es erwartet hätte.
Facebook schloss die Schleusen seines Forschungszentrums. Die Forschungsabteilung wurde zu einer Blackbox. Ob die Zahl der 340’000 mobilisierten Stimmberechtigten stimmt, konnte nicht wissenschaftlich erhärtet werden. Facebook verweigerte die Herausgabe der Datensätze.
«Der ‹I’m a Voter›-Button wäre eigentlich ein gutes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement, wenn Facebook doch einfach nur den Prozess dahinter transparent machen würde», sagt Sifry.
Staatspolitische Gratis-Dienstleistung
Es folgte ein cleverer PR-Schachzug. Facebook verkündete im Sommer 2014, es werde den «I’m a Voter»-Button allen Ländern anbieten. Bei allen Wahlen, in allen Sprachen, allen Nutzern. Ohne Ausnahme, ohne Experimente. Facebook änderte sein Firmenmotto in: «Move fast with stable infrastructure.»
Trotz dieser Charmeoffensive wuchs die Kritik an Facebooks politischen Ambitionen. Das Geschäftsmodell geriet in den letzten Jahren immer mehr unter Druck. Medien deckten Datenabflüsse unbeteiligter Nutzerinnen wie im Fall Cambridge Analytica auf. Immer mehr scheint der Konzern die Kontrolle über seinen eigenen Werbeapparat zu verlieren.
Sifry war nun nicht mehr der einsame Rufer.
Forschungsinstitute wie das Oxford Internet Institute klopften im Sommer 2017 bei Facebooks Experimental-Abteilung an. Ihr Anliegen: die Herausgabe der Daten zum britischen Wahlkampf der Jahre 2015 und 2017 sowie zum Brexit-Referendum 2016.
Doch die Chefetage stellte sich taub. Rob Sherman, Facebooks Privacy Chief, gab den Forschern zu verstehen, man verrate kein Geschäftsgeheimnis. Helen Margetts, Leiterin des Oxford Internet Institute, war brüskiert durch diese Aussage: «Wir brauchen unbedingt die Daten von den Technologiekonzernen, denn die politische Meinungsbildung findet vor allem auf den sozialen Netzwerken statt.» James Grimmelmann, ein Rechtsprofessor und Computerwissenschaftler, forderte bereits 2015 einen Ethikrat für alle Arten von Experimenten durch Plattformbetreiber.
Ein paar Wochen später gab Facebook dann doch sein Geschäftsgeheimnis preis. Die eigenen Untersuchungen über die russische Einflussnahme während der US-Wahlen von 2016 sorgten für dermassen viel Empörung in Washington, dass die Chefjuristen aller Technologiekonzerne persönlich antraben mussten: Plötzlich zeigte sich Facebook kooperativ.
Gerüchte und Mythen zum «I’m a Voter»-Button
21. September 2017. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg verlas in einem Live-Video einen Massnahmenplan. Bei Punkt 6 kam er auf die Zusammenarbeit mit den Behörden zu sprechen.
«Sechstens: Wir werden unsere Partnerschaften mit Wahlkommissionen auf der ganzen Welt ausbauen und alle heiklen Themen angehen.»
Es schien, als ob im kalifornischen Menlo Park endlich Einsicht eingekehrt sei. Endlich ist sich der Konzern seiner Verantwortung bewusst. Endlich arbeitet der Konzern mit Behörden zusammen.
Doch: In Zuckerbergs Rede fiel kein Wort zum «I’m a Voter»-Knopf. Seit der Mitteilung von 2014 wurde er von Facebook nie wieder offiziell erwähnt. Um keine andere Funktion machte der Konzern ein grösseres Geheimnis.
Wenn Sie Ihre deutschen und österreichischen Freunde danach fragen, werden Ihnen einige antworten, dass sie ihn bei den Bundestags- oder Nationalratswahlen gesehen haben, andere nicht.
Genährt wird der Knopf-Mythos durch seinen flüchtigen Charakter. Denn bei manchen ist die Wahlerinnerung nach einem Klick wieder verschwunden. In hauseigenen Foren spekulieren Facebook-Nutzerinnen aus allen Ländern darüber, was es mit diesem Knopf auf sich hat. Sie wollten ihren Freunden mitteilen, dass sie wählen gehen. Aber plötzlich war die Funktion unauffindbar.
Ein User namens Mark Smith fragte: «Wie bringe ich den Button wieder hin? Er ist plötzlich weg.»
Vielen schien es gleich zu gehen. Ein User namens Joe Gillespie schrieb: «Epic fail. THIS IS RIDICULOUS.» Ein anderer User namens Ali Hüseyin Rüstem fragte: «Mr. Zuckerberg where are you?» Die Diskussion wurde von Facebook unkommentiert geschlossen.
Allen Nutzerinnen werde die Funktion angezeigt, insistiert die Facebook-Sprecherin. «Der Button wird überall eingeblendet, es sei denn, Sie verfügen über eine veraltete App-Version oder Sie sprechen eine exotische Sprache.»
Es sind also technische Einschränkungen schuld.
Sifry glaubt das erst, wenn er die Zahlen schwarz auf weiss hat. Auf Papier. Und wenn sämtliche Wahlforscher auf der Welt diese Daten erhalten.
Solange nicht mit externen Instanzen zusammengearbeitet werde, könne man das nie mit Sicherheit wissen, kritisiert Sifry. Zu Recht: Wir wissen nämlich aus Bonds Forschung, dass unterschiedliche Varianten dieses «election reminder» zu einer unterschiedlichen Mobilisierung bei der Basis führten.
Wo bleibt der Aufschrei?
Politisches Micro-Targeting, Fake News, Troll-Armeen. Alle diese Themen erhielten in den letzten Jahren viel Medienpräsenz – obwohl über ihre Wirkung unter Politologen nach wie vor heftig diskutiert wird. Doch bei keinem anderen Facebook-Phänomen sind die Auswirkungen derart gut belegt wie beim «I’m a Voter»-Button. Dies zeigte der Registrierungs-Tsunami vom September 2016. Weil die Wahlknöpfe zu den richtigen Websites der Wahlbehörden verlinkten, erhöhte sich die Zahl der Registrierungen um den Faktor 10, teilweise um 20.
Lange hat der Konzern geschwiegen. Doch seit der Ankündigung, enger mit externen Forscherinnen zusammenzuarbeiten, zeigt er sich auch in diesem Punkt transparenter. Auf Nachfrage der Republik stellte Facebook eine exklusive Liste aller Staaten zusammen. Darauf ist ersichtlich, dass Facebook den «election reminder» in insgesamt 66 Ländern eingesetzt hat. Unter anderem beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum, bei den Parlamentswahlen in Brasilien, Indien und Indonesien. Mit Ausnahme von Russland hat Facebook damit die Wahlbeteiligung sämtlicher Demokratien beeinflusst.
Länder, in denen Facebook den «I’m a Voter»-Button einsetzte
Afrika
Kenia, Malawi, Nigeria, Sierra Leone, Südafrika, Tansania, Tunesien
Asien
Hongkong, Indien, Indonesien, Israel, Japan,
Korea, Malaysia, Myanmar, Nepal, Philippinen,
Singapur, Sri Lanka, Taiwan
Australien
Australien, Neuseeland
Quelle: Facebook Germany Public Team
Europa
Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Irland, Island, Italien,
Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Nordzypern, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Türkei, Ungarn, Zypern
Lateinamerika
Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica,
Ecuador, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Peru
Nordamerika
Kanada, USA
Länder, in denen Facebook den «I’m a Voter»-Button einsetzte
Afrika
Kenia, Malawi, Nigeria, Sierra Leone, Südafrika, Tansania, Tunesien
Asien
Hongkong, Indien, Indonesien, Israel, Japan, Korea, Malaysia, Myanmar, Nepal, Philippinen, Singapur, Sri Lanka, Taiwan
Australien
Australien, Neuseeland
Europa
Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Irland, Island, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Nordzypern, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Serbien, Spanien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Türkei, Ungarn, Zypern
Lateinamerika
Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Ecuador, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Peru
Nordamerika
Kanada, USA
Quelle: Facebook Germany Public Team
Der grosse Aufschrei ist bisher ausgeblieben. Die internationale Staatengemeinschaft hat bislang keinen Druck ausgeübt in dieser Frage. Washington hat das Thema nicht auf dem Radar. Keiner der Senatoren fragte Zuckerberg am Hearing vom 10. April, ob und in welcher Form diese umstrittene Funktion nochmals angeboten werde.
Nationalstaaten müssen fordern
Die Nationalstaaten lassen sich gemäss ihren Reaktionen in drei Typen einteilen. Sie verhielten sich entweder devot, indifferent oder waren ahnungslos.
Devot, weil sie erfreut waren über Facebooks Sensibilisierungs-Kampagne.
Etwa der ehemalige britische Premierminister David Cameron, der 2016 um Zuckerbergs Gunst weibelte und hoffte, der «election reminder» werde jüngere Wähler zum Urnengang und zu einem Nein zum Brexit motivieren.
Oder die brasilianische Ex-Präsidentin Dilma Roussef, die 2015 mit Facebook Infrastrukturprojekte für den Breitband-Ausbau abschloss, in der Hoffnung, ihre Präsidentschaft damit noch zu retten.
Indifferent, weil sie trotz Information nicht reagierten. Wie die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung. Zwar hat Facebook die Bildungsinstitution benachrichtigt. Doch es gab keine weitere Zusammenarbeit bei diesem Projekt. Begründung: Man wisse nicht, was mit den Daten anzufangen sei.
Ahnungslos, weil sie nie von Facebook kontaktiert worden sind. Wie die isländische Wahlbehörde.*
Schweizer Bundeskanzlei ist nicht informiert
Nun soll also dieser Wahl-Knopf in der Wahlwoche im Oktober 2019 die Eidgenossen daran erinnern, wählen zu gehen. Doch auch Bundesbern ist offiziell nicht informiert.
«Die Bundeskanzlei hat keine Kenntnis davon, dass Facebook allenfalls einen ‹I’m voter›-Button in der Schweiz einsetzen möchte. Facebook hat uns in dieser Sache nicht kontaktiert», sagt René Lenzin von der Schweizer Bundeskanzlei zur Republik.
Auch der Geschäftsführer der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit, Matthias Stürmer, weiss von nichts: «Nein, wir wurden nicht an den Werbeanlass eingeladen, geschweige denn bezüglich Vote-Button informiert.» Man werde aber Facebooks Vorhaben sicherlich an der nächsten Session besprechen und den Handlungsbedarf abstecken.
Die Facebook-Sprecherin versichert, dass noch nichts entschieden sei und man zur gegebenen Zeit mit den zuständigen Behörden in den Dialog tritt. Von den Volksabstimmungen will der Konzern vorerst die Finger lassen.
So oder so: Nicht alle würden von diesem Angebot profitieren. Obwohl die Schweiz eines der Länder mit der grössten Facebook-Dichte ist – fast jede zweite Person verfügt über ein Profil –, ist die Altersverteilung divers. Die 20- bis 30-Jährigen sind mit rund einer Million Profilen am besten vertreten. Bei ihnen könnte die Wahlerinnerung zu einer höheren Wahlbeteiligung führen.
Facebook gehört zum täglichen Aufenthaltsort Nummer eins im Netz vieler Schweizerinnen und Schweizer. Keine vom Bund subventionierte Bildungskampagne, keine Jugendförderungs-Massnahme hätte auch nur ansatzweise eine derartige Hebelwirkung wie der «I’m a Voter»-Button.
Solange jedoch Facebook die Funktion nicht offiziell ankündigt, bleibt gemäss René Lenzin von der Bundeskanzlei nur eines: Abwarten und beobachten.
Handeln, bevor es zu spät ist
Der Eidgenössische Datenschützer Adrian Lobsiger mag nicht mehr warten. Zu viele Facebook-Traktanden bestimmen seine Agenda. «Es gibt einige digitale Datenbearbeitungs-Instrumente, die zwecks Beeinflussung des Abstimmungsverhaltens zum Einsatz gelangen können.» Über diese sollen Bürgerinnen aufgeklärt und Politiker sensibilisiert werden, sagt Lobsiger.
Er trommelte deswegen eine interdepartementale Expertengruppe zusammen, die Ende Mai zum ersten Mal tagen wird. Doch ein koordiniertes Vorgehen der Schweiz ist gar nicht so einfach, denn fast jedes Technologie-Problem – Fake News, Hassreden, Datenmissbrauch, «I’m a Voter»-Button, Hacking – fällt in die Zuständigkeit eines anderen Departments.
Facebook gibt aber vor allem dem Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten immer mehr zu tun. 30’000 Schweizer sind vom Datenleck der Firma Cambridge Analytica betroffen. Schweizer Politik-Kampagnen verstossen regelmässig gegen das Datenschutzgesetz. Und auch der «I’m a Voter»-Button wird früher oder später in der Domäne von Adrian Lobsiger landen.
Die Schweiz kann von den Fehlern und der Nachlässigkeit anderer Staaten nur lernen. Und Forderungen stellen. Beispielsweise, dass Facebook seine Daten an die Schweizer Politikwissenschafts-Institute aushändigen muss.
Das Digital Democracy Lab, das an der Universität Zürich derzeit aufgebaut wird, würde die Daten des «I’m a Voter»-Buttons jedenfalls gerne auswerten. «Es kommt auf die Details an, aber generell wären wir an einer Zusammenarbeit mit Facebook interessiert», sagt der Leiter Fabrizio Gilardi.
Politik-Experte Micah Sifry begrüsst die Vorkehrungen der Schweiz und rät den Behörden, auf externe Expertinnen zu insistieren. «Es ist wichtig, dass die Regierung mit unabhängigen Akteuren zusammenarbeitet. Und zwar vor, während und nach einer Wahl.»
Am besten lässt man sich das schriftlich geben, am besten auf Papier. Und am besten schon heute. Ansonsten droht der Schweiz, was andere Staaten bereits schon schmerzlich erfahren haben: Move fast, break democracy.
* In einer früheren Version haben wir geschrieben, dass die italienische Wahlbehörde nicht kontaktiert worden sei. Offenbar gab es jedoch einen Informationsaustausch zwischen dem Department des Innern und dem Konzern.
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