Wer hat den grünsten neuen Deal?
Die marode Infrastruktur erneuern und das Klima retten: Das verspricht der Green New Deal. Teil 2 einer Serie über die Wirtschaftspolitik der neuen amerikanischen Linken.
Von Gabriel Züllig, 02.07.2019
Warten. Im Land der konstanten Beschleunigung ist das schon fast Sünde.
Ein Lautsprecher murmelt etwas Unverständliches durch den fast leeren Bahnhof, eine gesprächige Mitpassagierin übersetzt: «signal delay». Die Signaltechnologie der New Yorker U-Bahn stammt aus den 1930er-Jahren, der Zeit des New Deal, genauso wie ein guter Teil des gesamten Subway-Systems, geliebt und gehasst von täglich über fünf Millionen Menschen.
Das Infrastrukturproblem betrifft nicht nur die Stadt New York, sondern das ganze Land. Laut der American Society of Civil Engineers sind mehr als 4,5 Billionen US-Dollar nötig, knapp ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung eines Jahres, um die Strassen, Dämme und Brücken des Landes zu modernisieren.
Mittlerweile gewinnt das Thema an Bedeutung: Einerseits hat der Präsident, der sich als «builder» verewigen will, mit der neuen demokratischen Mehrheit ausgabenfreudigere Partner im Kongress. Andererseits bauen demokratische Abgeordnete Druck von links auf. Sie wollen mehr als ein paar Beläge flicken: Sie wollen eine grüne Generalüberholung der USA – einen Green New Deal.
Wirtschaftswunder oder Wunschtraum?
Die Primaries, die parteiinternen Vorwahlen zur US-Präsidentschaftskampagne 2020, haben Fahrt aufgenommen. Die Demokratische Partei ist nach links gerückt. Ihre wirtschaftspolitischen Konzepte sind ebenso hip und unkonventionell wie der Instagram-Auftritt von Alexandria Ocasio-Cortez. Doch wie Erfolg versprechend, utopisch oder gefährlich sind sie? In einem Dreiteiler machen wir uns auf Spurensuche – und zwar im Zentrum des US-Kapitalismus: New York City. Teil 1 handelt von progressiven Einkommenssteuern, Teil 2 vom Green New Deal und Teil 3 von einer neuen geldpolitischen Theorie.
Es soll ein grosser Wurf werden. Ed Markey, ein 72-jähriger Senator aus Massachusetts, und Alexandria Ocasio-Cortez, die 29-jährige Abgeordnete aus der Bronx, inszenieren ihn wirkungsvoll. Sie wollen Amerika in den nächsten zehn Jahren nicht nur ein Infrastruktur-Update fürs 21. Jahrhundert geben, sondern auch gleich noch den Klimawandel aufhalten.
Das Pathos ist herzerwärmend: Zwei Volksvertreter – er seit 43 Jahren im Parlament, sie seit ein paar Monaten – schwärmen von einer neuen Wirtschaft mit zu 100 Prozent erneuerbarer Energie, von Elektroautos und einem nationalen Netz von Hochgeschwindigkeitszügen. Die USA, die heute zu einem Zehntel mit erneuerbarer Energie laufen und für ein Viertel der akkumulierten CO2-Emissionen in der Atmosphäre verantwortlich sind, sollen vollständig emissionsfrei werden.
Doch nicht nur das. Nationale Ressourcen sollen für einen ganzen Katalog von Forderungen mobilisiert werden: eine öffentliche Krankenversicherung, eine Bildungsoffensive und eine staatliche Arbeitsplatzgarantie. Der Green New Deal, den die neue Linke propagiert, ist auch ein Red New Deal.
Der New Deal als Vorbild
Saikat Chakrabarti, Ocasio-Cortez’ Stabschef, ist ein ungeduldiger Mann. Die Eliteuniversität Harvard und das Silicon Valley haben ihn zum schnellen Denker und Redner gemacht; die Jahre der Arbeit für Bernie Sanders, der bereits 2016 bei den Vorwahlen der Demokraten antrat und Hillary Clinton unterlag, und die Justice Democrats, eine linke Lobbygruppe, politisches Stamina gelehrt.
Chakrabarti ist es, der am linken Flügel eine Partei innerhalb der Demokratischen Partei koordiniert, wie sie einst die Tea Party bei den Republikanern war. Und er ist es, der als policy hack von Ocasio-Cortez den Green New Deal erfand. «Wir wollen das Energiesystem der grössten Volkswirtschaft auf den Kopf stellen», sagt Chakrabarti am Telefon. «Eine solche Transformation ist ein umfassendes politisches Projekt von historischer Grössenordnung.»
New Deal: Bei diesem Namen schwingt tatsächlich Geschichte mit.
Franklin D. Roosevelt nannte in den 1930er-Jahren seine Wirtschaftspolitik so, die ihn zum beliebtesten Politiker seit dem Bürgerkrieg machte. 1933 übernahm er als Präsident die Geschicke eines Landes in tiefer Depression. Banken waren kollabiert, die Industrie um die Hälfte eingebrochen, die Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent geklettert. FDRs Rezept: Wenn der private Wirtschaftsmotor stockt, muss ihm der Staat neuen Schub verleihen.
Roosevelts Regierung sprach grosszügig Subventionen und Kredite für Bauvorhaben, die nicht nur den angeheuerten Firmen und Arbeitern ein Einkommen gaben, sondern in der gesamten Wirtschaft die Nachfrage nach Gütern ankurbelte. Das wiederum schuf Stellen. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang auch vom sogenannten Multiplikatoreffekt.
Wie gross dieser Multiplikator ist, darüber streiten Volkswirte gerne. Sicher sind drei Dinge. Erstens: Die Arbeitslosigkeit ging um 10 Prozent zurück – gänzlich erholte sie sich erst mit der Kriegswirtschaft ab 1941. Zweitens: Die Schuldenlast der US-Regierung stieg zwischen 1933 und 1939 nur gering an, weil die Wirtschaft so kräftig expandierte, dass auch die Steuereinnahmen wieder anstiegen. Und drittens: Die New-Deal-Projekte prägen Stadt und Land bis heute. New Yorks drittgrösster Flughafen, LaGuardia Airport, diverse Gärten im Central Park oder das Brooklyn College, in dem der demokratische Senator Bernie Sanders zur Schule ging: Alles geht auf den New Deal zurück. Sogar Roosevelt Island, eine Insel im East River zwischen Manhattan und der alten Industrie von Queens, wurde nach dem Vater des New Deal benannt.
Könnte der Green New Deal dereinst als ähnliches Jahrhundertprojekt in die Wirtschaftsgeschichte eingehen? Und wenn ja, zu welchem Preis?
Von Steuern und Subventionen
Dass Amerikas Infrastrukturdefizit auch ein Umweltproblem ist, wurde in New York spätestens 2012 klar. Ein tropischer Sturm, Sandy, wurde durch die warmen Gewässer des Atlantiks zu einem tödlichen Hurrikan aufgepeitscht. Für zwei Millionen Menschen fiel damals der Strom aus. U-Bahn-Tunnel wurden überflutet, mit Folgen bis heute: Regelmässig lässt die Subway Passagiere hängen, die sich in der verstopften Stadt fortbewegen wollen.
Die amerikanischen CO2-Emissionen sind pro Kopf dreimal so hoch wie jene der Schweiz. Dafür verantwortlich sind ein Energiemix mit 80 Prozent fossilen Brennstoffen, der ineffiziente Transportsektor sowie die lausige Umweltbilanz von Wolkenkratzern und schlecht isolierten Wohnungen.
Um dies zu ändern, stehen mehrere Möglichkeiten im Raum. Unter der Federführung der früheren Zentralbank-Chefin Janet Yellen propagieren Ökonomen derzeit die sogenannte CO2-Dividende. Sie soll einen Kern des Problems adressieren: die quasi kostenlose Verschmutzung der Umwelt.
Ähnlich wie bei der Schweizer CO2-Abgabe sollen fossile Energien besteuert werden, damit saubere Alternativen attraktiver werden. Der Markt findet innerhalb des vorgegebenen Regulierungsrahmens die effizienteste Lösung.
In jenen Ländern, die ein solches marktbasiertes System kennen, sind die Emissionen zuletzt am schnellsten gesunken – beispielsweise in Schweden, Grossbritannien oder in der Schweiz. Deutschland hingegen ging den Weg der Subventionierung der Erneuerbaren und hat bis heute kein effektives CO2-Handelssystem (der europäische Emissionshandel ist zu löchrig, um die Fehler aus Deutschland aufzufangen). Die deutsche Regierung verfehlt ihre Klimaziele bei weitem und zahlt dafür obendrein den höchsten Preis.
Die makroökonomische Philosophie hinter der Subventionspolitik à la Green New Deal ist genau umgekehrt. Bei dieser «nationalen Mobilisierung» lenkt der Staat aktiv Mittel in gewünschte Projekte. Er steuert direkt statt indirekt und schiesst Geld in die Wirtschaft ein, statt es ihr mit Abgaben zu entziehen.
«Man muss die Firmen bei der grünen Transformation unterstützen», sagt Chakrabarti. «Mit einer reinen CO2-Steuer ohne gleichzeitige staatliche Investitionsbeihilfen radiert man ganze Industrien aus oder überwälzt die Kosten der Steuer auf den Konsumenten. Die Gilets-jaunes-Proteste in Frankreich zeigen, dass diese Politik sozial nicht akzeptiert wird.»
Die Green New Dealer messen dem Staat, ganz in Roosevelts Tradition, also eine grosse Rolle bei der grünen Verwandlung der Wirtschaft bei. Nur wegen einer CO2-Abgabe alleine fährt noch kein Hochgeschwindigkeitszug von New York nach Washington, sagen sie: Es muss gleichzeitig investiert werden.
Die Effizienzfrage
Grundsätzlich anerkennen die meisten Ökonomen die Idee, dass öffentliche Investitionen eine wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig stehen Vorhaben der Grössenordnung eines Green New Deal bei ihnen stets im Verdacht, ineffizient zu sein: Geld könnte in allerlei unproduktive Projekte investiert oder an Leute verteilt werden, die es gar nicht benötigen. Besonders schwer wiegt aus ihrer Sicht, dass die US-Wirtschaft aktuell gar nicht in der Krise ist: Sie hat keine Impulse nötig, braucht also keine staatliche Unterstützung.
2008, während der Finanzkrise, war dies anders. Die Industrie brach damals um ein Fünftel ein, die Arbeitslosigkeit kletterte auf 10 Prozent. Als Barack Obama damals Präsident wurde, initiierte er in der Logik des New Deal den American Recovery and Reinvestment Act, der gegen 90 Milliarden für den grünen Sektor vorsah – ein Zuschuss von über 100’000 Dollar pro Stelle und Jahr. Das Engagement stellte sich als wenig kosteneffizient heraus, gleichzeitig stiegen die Schulden der Regierung um ein Drittel.
In der heutigen, guten wirtschaftlichen Situation fiele die Bilanz punkto Stellenwachstum wohl noch schlechter aus. Die US-Wirtschaft läuft auf Hochtouren, die Arbeitslosigkeit ist so tief wie seit 50 Jahren nicht mehr.
Ist es also reines Wunschdenken, dass der Green New Deal vor diesem Hintergrund zu «Millionen von gut bezahlten Jobs» führen würde?
«Genügend Arbeitskräfte für die grüne Transformation zu finden, ist tatsächlich unser grösstes Problem», sagt Chakrabarti. «Aber solange die Löhne nicht schneller wachsen, wir Millionen Männer für kleine Vergehen hinter Gitter sperren, die Immigranten vergraulen und ein ungenügendes Gesundheits- und Schulsystem haben, akzeptiere ich dieses Argument nicht. Deshalb braucht es einen ganzheitlichen Ansatz wie im Green New Deal.»
Die Worte des Politstrategen machen klar: Der Green New Deal betrachtet den sozialen Umbau des Kapitalismus als integralen Bestandteil einer grünen Wende – und stösst damit auf erstaunliche Zustimmung. Die Jobgarantie, die er vorsieht, erfreut sich in Umfragen durchaus hoher Beliebtheitswerte.
Fraglich ist, ob in diesen Umfragen auch die Kosten zur Sprache kamen. Denn diese nehmen, je nach Schätzung, ein beträchtliches Ausmass an.
Edward Barbier, Ökonomieprofessor an der Colorado State University, hat für den Green New Deal einen Finanzierungsaufwand von ungefähr einer Billion Dollar berechnet. Das entspricht etwa dem aktuellen Defizit. Dieser Kostenvoranschlag ist allerdings klar zu tief. Er übersteigt die Kosten des Obama-Plans von 2009 nur minim, welcher weder an der Infrastruktur- noch an der Umweltfront den Effekt hatte, den ein Green New Deal verspricht.
Das rechte American Action Forum publizierte eine Schätzung, wonach die Kernanliegen der grünen Strategie – der Ausbau der Wind-, Solar- und Wasserkraft – Investitionen nicht etwa von einer, sondern von ungefähr 5,7 Billionen Dollar bedürfen, damit elektrischer Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammt.
Die energieeffiziente Renovation von Gebäuden rechnet schliesslich Noah Smith von Bloomberg vor: 100’000 Dollar pro Haus und durchschnittlich 500’000 Dollar pro Fabrik und Büroliegenschaft, macht unter dem Strich 17 Billionen. Noch polemischer geht es, wenn man die Gesundheitskosten sämtlicher Haushalte aufaddiert, die ein Green New Deal staatlich finanzieren würde, und dazu ein Einkommen für sämtliche Arbeitslosen addiert: Dann stiegen die Kosten des Programms ins Astronomische.
Politische Angriffspunkte
Egal, wie man es dreht und wendet: Die Kosten für den Green New Deal sind happig. Vor allem die Republikaner schlachten dies aus, um gegen den Deal Stimmung zu machen. Zu ihrer Fundamentalopposition gesellt sich der rechte Flügel der Demokraten, der vor allem den roten Teil des grünen Plans, also die Kosten und seine holzschnittartige Formulierung, kritisiert.
Tatsächlich war dessen Ankündigung dilettantisch: Die Kommunikation war unvorbereitet, im Internet kursierten verschiedene Versionen. Dabei geht vergessen, dass auch der New Deal Roosevelts keine perfekt durchgeplante, kohärente Strategie war, sondern mehr eine grosse Idee, die von 1933 bis 1937 in ein ausgehandeltes Sammelsurium von teils ambitionierten, teils sehr pragmatischen und oft auch kurzlebigen Programmen mündete. Manche, wie zum Beispiel die Aufspaltung der Banken, überlebten bis in die 1990er-Jahre.
Vordergründig steht es um den Green New Deal schlecht: Die Republikaner nutzten seine Unvollkommenheit aus und erzwangen eine kurzfristige Abstimmung im Senat, um die Demokraten vorzuführen. Diese weigerten sich, an der Abstimmung teilzunehmen, und verloren deshalb – mit 0 zu 57.
Andererseits ist das Klimathema nun gesetzt – und die demokratischen Präsidentschaftskandidaten überbieten sich derzeit mit grünen Plänen. Elizabeth Warren, Senatorin aus Massachussets, stellte kürzlich zwei Billionen Dollar in Aussicht für ein «grünes Apollo-Programm» zur Förderung sauberer Energie und für einen «grünen Marshallplan», der andere Länder dazu animieren soll, die sauberen Technologien von US-Unternehmen zu kaufen.
Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Suche nach historisch aufgeladenen Parallelen machen beim Green New Deal also Schule.
Schluss
Dieser Deal ist eine Mahnung an die amerikanischen Wähler, drei vernetzte Probleme auch vernetzt anzugehen: die umweltpolitische Rückständigkeit, die überalterte Infrastruktur und die grassierende Ungleichheit. Dass dies mit nur restriktiven Mitteln wie der Besteuerung fossiler Treibstoffe nicht funktioniert, dürfte in den vergangenen Jahren hinlänglich klar geworden sein. Der private Wirtschaftsmotor der USA bringt alleine nicht den Willen und auch nicht die Durchschlagskraft auf, welche die grüne Transformation erfordert.
Ob sich der amerikanische Staat, der ohnehin schon auf Pump wirtschaftet, den massiven Mitteleinsatz leisten will, muss sich weisen. Sicher ist: Auch Nichtstun wird beim Klimawandel teuer. Zeit ist Geld, Warten ist Gift – im Land der konstanten Beschleunigung müsste man das eigentlich verstehen.
Gabriel Züllig ist Ökonom. Er interessiert sich für die Makro-Fragen des Wirtschaftsgeschehens – Finanzkrisen, Arbeitsmärkte und Geldpolitik – und schreibt über globale Wirtschaftsentwicklungen. Er lebt in Kopenhagen und arbeitet an einem Doktorat an der Københavns Universitet.