Steuer rauf, Schere zu
70 Prozent Spitzensteuern: Damit soll die Ungleichheit in den USA bekämpft werden. Eine schlaue Idee? Teil 1 einer Serie über die Wirtschaftspolitik der neuen amerikanischen Linken.
Von Gabriel Züllig, 26.06.2019
Willkommen in New York! Fast eine Million Millionäre wohnen hier, arbeiten bei Anwaltskanzleien oder im Showgeschäft, besitzen ein Penthouse mit mehr Badezimmern als Bewohnern, schreiben ihren Namen mit goldenen Lettern an die Front ihres eigenen Wolkenkratzers.
Gleichzeitig sind 40 Prozent der Haushalte finanziell so unter Druck, dass sie unerwartete Ausgaben von 400 Dollar nicht alleine stemmen können.
Privilegiert und prekär, Wall Street und working poor, Cosmopolitan und Fluglärm, Privatschule und Nachtschicht: Die Ungleichheiten des ganzen Landes finden sich destilliert hier auf einer Fläche, so gross wie der Kanton Solothurn. Deshalb erstaunt es nicht, dass die populärste Stimme für mehr steuerliche Umverteilung auch aus den New Yorker boroughs kommt.
Alexandria Ocasio-Cortez aus der Bronx warb bereits vor ihrer Vereidigung als jüngste Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus für eine Steuer von 70 Prozent auf Einkommen über 10 Millionen Dollar. Damit gibt sie den Takt an für die anstehenden Vorwahlen der Demokratischen Partei, die erkennbar nach links rückt und in der sich ideologische Gräben auftun in der Frage, wie sich der amerikanische Kapitalismus entwickeln soll: weiter wie bisher – zum Vorteil einiger Superreicher und zum Nachteil der Natur – oder radikal anders.
Wirtschaftswunder oder Wunschtraum?
Diese Woche nehmen die Primaries, die parteiinternen Vorwahlen zur US-Präsidentschaftskampagne 2020, Fahrt auf. Die Demokraten sind nach links gerückt. Ihre wirtschaftspolitischen Konzepte sind ebenso hip und unkonventionell wie der Instagram-Auftritt von Alexandria Ocasio-Cortez. Doch wie Erfolg versprechend, utopisch oder gefährlich sind sie? In einem Dreiteiler machen wir uns auf Spurensuche – und zwar im Zentrum des US-Kapitalismus: New York City. Teil 1 handelt von progressiven Einkommenssteuern, Teil 2 vom Green New Deal und Teil 3 von einer neuen geldpolitischen Theorie.
Forderungen zum Umbau des Steuersystems kommen dabei nicht nur von Ocasio-Cortez. Senatorin Elizabeth Warren, eine chancenreiche Anwärterin auf die Präsidentschaftskandidatur, weibelt etwa für eine Vermögenssteuer von 2 Prozent auf Vermögen über 50 Millionen Dollar. Das setzt auch jenen Politiker unter Druck, der derzeit die Meinungsumfragen für 2020 anführt: Ex-Vizepräsident Joe Biden. Auch er macht sich inzwischen für eine wenn auch deutlich schwächere Superreichen-Steuer stark. Auf der Gegenseite warnen Marktliberale wie Larry Summers, wirtschaftspolitischer Berater von zwei ehemaligen demokratischen Regierungen, vor solchen Experimenten.
Sollen die Vereinigten Staaten ihre Topverdiener stärker zur Kasse bitten? Ein genauer Blick auf die wirtschaftspolitischen Implikationen lohnt sich.
Lehren aus der Vergangenheit
Eine goldene Regel der Volkswirtschaftslehre lautet: Entscheidungen werden an der Grenze gefällt, also dort, wo es um einen Dollar mehr oder weniger geht. Verdient jemand unter 20’000 Dollar, wird ein zusätzliches Einkommen wenig besteuert – mehr zu arbeiten hat somit einen grossen Reiz. Wer hingegen bereits Einkommensmillionär ist, liefert von einem weiteren Dollar nach heutigem Stand 37 Prozent an den US-amerikanischen Bundesstaat ab.
Konservative Ökonomen sehen darin eine Bestrafung der Leistungsträger. Einsatz und Erfolg sollen belohnt, nicht bestraft werden, meinen sie. Dabei sind gerade die Vereinigten Staaten die Erfinder eines stark progressiven Steuersystems. 1917 wurde ein Spitzensteuersatz von 67 Prozent eingeführt, im Jahr darauf stieg er sogar auf 77 Prozent, und das aus gutem Grund: Hohe Grenzsteuern sind extrem effektiv darin, die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen zu reduzieren.
Das wird deutlich, wenn man im Rückblick über die letzten 100 Jahre die Anteile des reichsten Prozents am Gesamteinkommen und -vermögen sowie den jeweils geltenden Spitzensteuersatz übereinanderlegt. Das Bild zeigt: Nahmen die Steuersätze zu, sank die Ungleichheit – und umgekehrt.
Der Erste Weltkrieg wurde zu einem grossen Teil über Steuern auf hohe Einkommen finanziert; die Ungleichheit fiel in dieser Zeit. Mit der darauffolgenden Steuersenkung gingen die roaring twenties einher, auf deren Höhepunkt das reichste Prozent die Hälfte des Vermögens kontrollierte.
Im New Deal der 1930er-Jahre wurden die Steuern ein zweites Mal erhöht. Als sich in der Nachkriegszeit eine konsumorientierte Mittelklasse heranbildete, betrug der Spitzensteuersatz weiterhin 90 Prozent. Er griff bereits bei einem Einkommen, das heute ungefähr 350’000 Dollar entspricht.
Der internationale Vergleich
Im Licht der Vergangenheit ist die von Ocasio-Cortez vorgeschlagene Steuer ab 10 Millionen also gar nicht so revolutionär. Sie wäre bloss eine teilweise Rückkehr zum Regime, das bis zu den Steuersenkungen aller republikanischer Präsidenten seit Ronald Reagan galt. Ihnen ist nicht nur zu verdanken, dass die Wolkenkratzer Manhattans seit den 1980er-Jahren ungebremst in die Höhe wachsen, sondern auch, dass Firmenbesitzer und Manager es zu unermesslichem Reichtum gebracht haben, während die soziale Kluft steigt. Das US-Steuersystem kennt nicht nur tiefe Spitzensteuern, sondern auch eine Fülle von Ausnahmen und Schlupflöchern.
Ein progressives Steuersystem verhindert dagegen die Konzentration von Einkommen, Vermögen und Macht in den Händen von wenigen. Nicht umsonst auferlegten die USA den Japanern während der Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg eine Grenzsteuer von 85 Prozent. Sie wollten damit verhindern, dass im Land wieder eine Machtelite entsteht, die militärische Expansionsgelüste entwickelt.
Auch heute zeigt sich: In Ländern mit stark progressiven Steuersystemen wie Belgien (Punkt unten rechts, mit hohem Grenzsteuersatz und tiefem Anteil der Top-1-Prozent) oder den skandinavischen Ländern sind die Einkommen tendenziell weniger konzentriert als in den Vereinigten Staaten (Punkt oben links, mit tiefem Grenzsteuersatz und hohem Anteil der Top-1-Prozent).
Eine Mehrheit der US-Amerikaner befürwortet Ocasio-Cortez’ Forderung nach einer stärkeren Steuerprogression. Doch ihre Vorstellung eines gerechten Steuersystems ruft auch Kritiker auf den Plan, gerade in ihrer Heimatstadt. Dann nämlich, wenn es darum geht, was Amerika in seinem Innersten zusammenhält: der Glaube an Zukunft und Fortschritt – daran, dass ein Kind aus ärmlichen Verhältnissen es an die Spitze schaffen kann.
Auf der anderen Flussseite
Eine fünfminütige Metro-Fahrt unter dem East River hindurch offenbart dieses weniger glamouröse New York. Auf einem stillgelegten Industriegelände werden gelbe Taxis mit Hochdruck gereinigt, um danach zu jeder Tages- und Nachtzeit dorthin zurückzufahren, wo es saust und braust. Ein alter Schuppen dient als Beiz für Alteingesessene und Touristen, die sich hier, im Anable Basin von Queens, den besten Winkel auf die Skyline erhoffen. An der Fassade zeigt eine grosse LED-Installation über einem Haufen rostigem Gerümpel die Anzahl Tage an, die Donald Trump noch Präsident ist.
In diesem Anable Basin, einem künstlichen, kleinen Seitenarm des East River, plante Amazon eine solche Investition in Zukunft und Fortschritt. Kleingewerbler und Künstlerszene sollten einem Glastempel mit 25'000 gut bezahlten Angestellten weichen.
Ausgerechnet Amazon. 11 Milliarden Gewinn machte der Konzern letztes Jahr. Die Steuerrechnung: null – dank Trumps Unternehmenssteuerreform, aber noch mehr dank einem (durch Bill Clinton eingeführten) Steuerrecht, das stark wachsende Aktiengesellschaften entlastet. Um das profitable Unternehmen nach New York zu locken, offerierte die Stadt – angeführt von Bürgermeister Bill de Blasio, ebenfalls ein demokratischer Präsidentschaftskandidat – der Firma drei Milliarden US-Dollar an Steuervergünstigungen und Subventionen.
Jeff Bezos, Chef von Amazon, zahlt sich fast seinen gesamten Lohn in Aktien aus, zahlt also kaum Einkommenssteuern. Verkauft er seine Aktien, schuldet er Kapitalgewinnsteuern von gerade einmal 24 Prozent. Der reichste Mann der Welt, dessen Vermögen auf knapp 154 Milliarden Dollar geschätzt wird und der kürzlich ein 1500-Quadratmeter-Penthouse an der Fifth Avenue für 80 Millionen Dollar erwarb, zahlt damit den gleichen Durchschnittssteuersatz wie seine unteren Kader. Ausgerechnet Bezos sollte zusätzliches Staatsgeld erhalten?
Amazon ist nach lokalen Protesten vom Queens-Deal zurückgetreten. Belegt dies, dass die wirtschaftspolitischen Konzepte der Linken die Wirtschaft abwürgen, so wie es ihre konservativen Gegner in der Folge behaupteten?
Wie die Wirtschaft wächst
Gemäss der traditionellen Sicht wachsen Volkswirtschaften dadurch, dass ihre Haushalte sparen – also auf Konsum verzichten – und das angesparte Kapital in Maschinen, Ideen und neue Technologien investieren. Da reiche Haushalte überproportional viel sparen, liegt das Argument nahe, dass das Wachstum leidet, wenn der Staat ihnen zu viel Geld aus der Tasche zieht.
Doch die Sichtweise, wonach zusätzliche Arbeitsplätze nur dann entstehen, wenn Vielverdiener von Steuern entlastet werden und deren Gewinne über den Wirtschaftskreislauf schliesslich nach unten «tröpfeln», greift zu kurz.
Erstens ist die Steuerprogression per se kein Anreiz, weniger zu sparen und zu investieren. Muss ein Unternehmer wie Bezos 70 Prozent seiner Bezüge an den Staat abliefern, behält er das Kapital eher in seiner Firma, statt es sich auszuzahlen. Dort steht es für produktive Investitionen zur Verfügung.
Ein Land, in dem Ultrareiche stärker zur Kasse gebeten werden, investiert insgesamt also nicht weniger. Das zeigt auch die Geschichte: In jenen Nachkriegsjahren, in denen die oberen Steuersätze am höchsten waren, waren auch die Investitionsquoten am höchsten. Japan verwandelte sich mit der aufgezwungenen Steuerprogression zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt.
Zweitens gibt es weitere Faktoren, die für robustes Wirtschaftswachstum zentral sind: gut ausgebildete Arbeitskräfte, ebenso ein intelligenter Patentschutz, der Forschung und Entwicklung belohnt und gleichzeitig das erforschte Wissen öffentlich zur Verfügung stellt. Oder freier Handel, der einem findigen Unternehmer grosse Absatzmärkte eröffnet. Hohe Grenzsteuern haben keinen Einfluss auf diese institutionellen Faktoren.
So verwundert es nicht, dass in der Forschung mehrfach bestätigt wurde, etwa von Thomas Piketty, Emmanuel Saez und Stefanie Stantcheva: Länder mit hohen Grenzsteuern wachsen weder langsamer noch schneller als Länder mit tiefen Grenzsteuern. Es existiert hier schlicht kein Zusammenhang.
Das illustriert auch eine Gegenüberstellung verschiedener Länder: Belgien (rechts), die Schweiz (links) und die USA (halblinks) wiesen in den vergangenen 17 Jahren praktisch identische Wachstumsraten auf – bei sehr unterschiedlichen Steuersätzen für die oberste Einkommenskategorie.
Die traditionelle Sicht aufs Wirtschaftswachstum, die sich die Republikaner in den USA zu eigen gemacht haben, ist wissenschaftlich also nicht haltbar. Wenn Leute wie Ocasio-Cortez hier Gegensteuer geben, macht dies Sinn.
Die grosse Frage ist, ob höhere Steuern für Topverdiener auch einen konkreten Nutzen einbringen – etwa in Form von höheren Steuereinnahmen, die man für Projekte zum ökologischen Umbau einsetzen könnte.
Finanzierungsfragen bleiben
Wer sich hier Hoffnungen macht, wird allerdings enttäuscht werden. Gerade einmal einer von 20’000 Amerikanern, insgesamt 16’000 Personen, verdient überhaupt mehr als 10 Millionen US-Dollar. Wendet man auf ihr addiertes Einkommen einen Steuersatz von 70 Prozent an, resultiert gerade einmal ein Zusatzertrag von 1,3 Prozent der US-amerikanischen Steuereinnahmen. Als finanzielle Wunderquelle taugt die Topverdienersteuer also nicht.
Heute ist der Spitzensteuersatz zwar viel tiefer als 70 Prozent, er greift aber viel früher: ab einem Haushaltseinkommen von einer halben Million Dollar. Über dieser Schwelle liegt immerhin bereits ein Prozent der Bevölkerung, also etwa 1,4 Millionen Haushalte. Wären all diese Personen vom neuen Spitzensteuersatz betroffen, dann sähe die Sache ganz anders aus – denn diese tragen bereits heute über ein Drittel zum Steueraufkommen bei. Die demokratische Linke dürfte in dieser Hinsicht also ruhig noch mutiger sein.
Insofern wird Alexandra Ocasio-Cortez’ vorgeschlagene 70-Prozent-Steuer das derzeitige, beängstigend grosse Staatsdefizit der Vereinigten Staaten nicht einmal ansatzweise decken – geschweige denn, Mittel zur Sanierung der maroden Subway oder der überholten Infrastruktur generieren.
Schluss
Aber sie dürfte eine Verhaltensänderung bei den Betroffenen bewirken. Steigt die Steuerprogression, so sinken typischerweise die Gehälter von Topmanagern. Das hat die Ungleichheitsforschung von Piketty und Saez bereits bewiesen: Diese gönnen sich dann tiefere Bezüge, damit die Steuer gar nicht erst fällig wird. Im Endeffekt bändigt eine Topverdienersteuer die Fliehkräfte des Kapitalismus und reduziert die Konzentration wirtschaftlicher Macht.
Und zwar ohne dass deswegen gleich der Kapitalismus zugrunde geht. Wenn die Boni in Manhattan sinken, so bricht im Anable Basin deshalb nicht die Depression aus. Im Gegenteil: Es ist ganz unabhängig von der Steuerprogression nur eine Frage der Zeit, bis auch die verlotterten Lagerhallen von Queens einem weiteren Büroturm weichen. Der amerikanische Gründergeist wird also weiterleben – auch mit Spitzensteuern von 70 Prozent.
Gabriel Züllig ist Ökonom. Er interessiert sich für die Makrofragen des Wirtschaftsgeschehens – Finanzkrisen, Arbeitsmärkte und Geldpolitik – und schreibt über globale Wirtschaftsentwicklungen. Er lebt in Kopenhagen und arbeitet an einem Doktorat an der Københavns Universitet.