Warum Amerika ein zerrissenes Land ist …
… und die Schweiz eine bemerkenswert stabile Entwicklung aufweist: Sechs Gründe, die den starken Kontrast bei der Einkommensungleichheit zwischen den Ländern erklären.
Von Isabel Martínez, 27.05.2019
Die USA und die Schweiz galten einst als Schwesterrepubliken. Doch im sozialen Gefüge sieht man ihnen die Verwandtschaft längst nicht mehr an.
Warum? Das zeigen wir in diesem Beitrag – dem dritten einer ausführlichen Serie über Ungleichheiten, die uns übers Jahr hinweg begleiten wird. Bisher haben wir darin die Schweiz für sich allein betrachtet. Nun wechseln wir auf die internationale Ebene. Und zwar mit einem klassischen Ländervergleich.
Im Fokus: die Topeinkommen in der Schweiz und den Vereinigten Staaten.
Die Situation
Wir stützen uns dazu auf Daten, die von den Steuerverwaltungen beider Länder bereitgestellt werden. Anhand von ihnen lässt sich die Entwicklung des Gesamteinkommens aller Steuerzahler – also des Einkommens aus der Arbeit, aus Renten und Transferleistungen sowie aus Vermögen und Investments – seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gut vergleichen.
Einkommensanteile der Top-1-Prozent
Die erste Metrik, die wir anschauen, ist der Anteil des obersten Prozents. Also das sprichwörtliche Kuchenstück, welches an die einkommensstärksten Steuersubjekte geht. Der Vorteil dieser Metrik ist: Sie erlaubt Vergleiche über Zeit und Länder, ohne dass wir um Dinge wie die Inflation und die Lebenshaltungskosten korrigieren müssen, die die Kaufkraft beeinflussen.
Hier sind sie also: die Einkommensanteile des obersten Prozents – von 1913 bis 2016 für die Vereinigten Staaten und von 1933 bis 2014 für die Schweiz.
Man sieht: In den USA ist die Ungleichheit nach einem Rückgang Mitte des 20. Jahrhunderts ab den 1980er-Jahren massiv angestiegen – viel stärker als in der Schweiz, wo diese, wie wir bereits wissen, ab 1990 ebenfalls zunahm.
Das einkommensstärkste Prozent der US-Steuerzahler nimmt mit rund 22 Prozent inzwischen also ein rund doppelt so grosses Kuchenstück mit nach Hause als das einkommensstärkste Prozent in der Schweiz. Dem war nicht immer so. Von den frühen 1950er- bis in die späten 1970er-Jahre war die Einkommenskonzentration in beiden Ländern ähnlich niedrig. Der Anteil des Top-1-Prozents pendelte in dieser Zeit jeweils zwischen 9 und 11 Prozent.
Ähnlich sieht die Entwicklung beim obersten Zehntelspromille aus. Während der 1950er- bis in die 1970er-Jahre war deren Einkommensanteil in beiden Ländern stabil. Doch ab 1980 zogen die Superverdiener in den USA davon.
Sie stammen von der frei zugänglichen World Inequality Database. Dies ist die umfangreichste Datensammlung zur historischen Entwicklung von Einkommens- und Vermögensungleichheit. Die verschieden Masse und Indizes beruhen auf Steuerdaten und Daten aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, zum Teil ergänzt durch Umfragedaten. Derzeit sind Daten aus 84 Ländern verfügbar. Gespeist wird die Datenbank von einem globalen Netzwerk von Forscherinnen und Forschern, die gemäss gemeinsamen Richtlinien die Daten aufbereiten.
Bezugseinheit der Daten sind Steuersubjeke. Teils handelt es sich dabei um Einzelpersonen, teils um verheiratete Paare. Das kann für die Messung der Ungleichheit ein Problem sein. Für unseren Fokus – die Topeinkommen – spielt dies jedoch keine Rolle, denn beim Top-1-Prozent der Steuerpflichtigen handelt es sich in beiden Ländern noch immer weitgehend um verheiratete Paare.
Eine zweite Metrik, die diese Entwicklung illustriert, ist die Schwelle, ab der man in den beiden Ländern überhaupt zu den Top-1-Prozent gehört.
Einkommensschwelle zu den Top-1-Prozent
Diese Schwelle hat sich in der Schweiz kaum verändert. Real, also bereinigt um die Teuerung, bewegt sie sich seit 1970 um rund 300’000 Franken. Wobei seit dem Tiefstwert zur Mitte der 1990er-Jahre (260’000 Franken) allerdings ein Aufwärtstrend einsetzte, 2014 lag die Schwelle bei 340’000 Franken.
In den USA ist dieser Betrag dagegen stetig gestiegen: von rund 200’000 Dollar in den 1960er-Jahren auf 460’000 Dollar im Jahr 2015. Das bedeutet: Heute benötigt man teuerungsbereinigt ein über doppelt so hohes Einkommen als in den 1960er-Jahren, um zum Club des obersten Prozents zu gehören.
Zum einkommensstärksten Zehntelspromille, also den Top-0,01-Prozent, zählen 16’700 US-Steuerpflichtige bzw. knapp 500 Steuerpflichtige in der Schweiz. Die Eintrittsschwelle zu ihnen hat sich in Amerika sogar mehr als vervierfacht: auf über 10 Millionen Dollar. In der Schweiz liegt diese Schwelle mit rund 5 Millionen Franken real nur knapp doppelt so hoch wie früher.
Die Superreichen sind in den USA also allen davongezogen. Ihre Einkommen sind viel rasanter gewachsen als jene der reichen Steuerzahler in der Schweiz.
Die Gründe
Die Ursachen für diesen Trend werden in der ökonomischen Literatur breit, aber auch kontrovers diskutiert. Klar ist: Alles begann in den 1980er-Jahren.
1. Steuersenkungen
In den 1980er-Jahren ging die Steuerprogression in den Vereinigten Staaten stark zurück.
Erstens sanken die Spitzensteuersätze unter Präsident Ronald Reagan massiv. In den 1960er-Jahren hatten diese Sätze noch über 70 Prozent betragen – Reagan ging auf 30 Prozent. Heute liegen sie bei 37 Prozent. Am meisten davon profitiert hat das Top-1-Prozent der Steuerpflichtigen.
Auch Kapitalgewinnsteuern und Erbschaftssteuern sind in den USA gesunken. Dies hat reiche Personen zusätzlich entlastet. Für die Gesamtbevölkerung ist die Steuerlast seit 1960 dagegen sogar um ein paar Prozentpunkte gestiegen.
Zweitens sind die Einnahmen aus Firmensteuern von 4 auf 2 Prozent des US-BIP gesunken, während die Firmengewinne nicht abgenommen haben. Dies kam den Kapitaleignern, die im obersten Einkommensprozent übervertreten sind, in Form von höheren Dividenden oder Kapitalgewinnen zugute (würde man Letztere neben den Kapitalerträgen ebenfalls in der Statistik berücksichtigen, läge der Top-1-Prozent-Einkommensanteil um 2 bis 3 weitere Punkte höher).
Drittens wurden die Lohnabzüge für Erwerbstätige von 3 Prozent im Jahr 1960 auf bis zu 6,2 Prozent im Jahr 1990 erhöht. Die Beiträge sind jedoch plafoniert, Einkommen über 118’500 Dollar sind nicht abgabepflichtig (Stand 2015). Somit wurde vor allem der Mittelstand durch diese Steuern belastet.
In der Schweiz sind die Spitzensteuersätze in vielen Kantonen schon seit Jahrzehnten niedriger als in den Vereinigten Staaten – eine Entlastung der Gutverdienenden im ähnlichen Umfang hat deshalb nicht stattgefunden.
Doch auch hierzulande hat der interkantonale Steuerwettbewerb dafür gesorgt, dass die Spitzenverdiener vielerorts weniger Geld an den Fiskus abliefern mussten. Zudem wurden die Erbschaftssteuern innerhalb der Familie weitgehend abgeschafft. Diese Tiefsteuerpolitik fand besonders seit den 1990er-Jahren Verbreitung – just zu dem Zeitpunkt, als auch in der Schweiz die Einkommen der Topverdiener zu steigen begannen.
2. Steigende Spitzenlöhne
Bei den Topverdienern hat der Einkommensanteil aus der Arbeit zugenommen. Dieser Trend ist sowohl in den USA wie auch in der Schweiz zu beobachten. Er scheint zunächst erstaunlich, lässt sich aber gut erklären.
Und zwar mit zwei Faktoren: einerseits mit den tieferen Steuern und andererseits mit der Verhandlungsmacht von Arbeitnehmenden aus verschiedenen Schichten.
Am besten bekannt ist dieser Mechanismus aus der Welt der Topmanager. Ihr direkter Einfluss auf den Firmenerfolg ist oft schwierig zu messen – ihr Gehalt wird über Bonusmodelle festgelegt, die seit den 1990er-Jahren auch in der Schweiz immer grössere Verbreitung fanden. Die Forschung hat jedoch gezeigt, dass CEOs im Rahmen dieser komplizierten Modelle oft für glückliche Zufälle entschädigt werden, die nicht ihr Verdienst waren – und dass viele variable Lohnsysteme obendrein keinen Malus kennen. Das führt dazu, dass Managerlöhne im Vergleich zu früher nach oben verzerrt sind.
Mit anderen Worten: Tiefere Steuern spornen Manager zudem dazu an, mehr Effort in die Lohnverhandlungen zu stecken. Es erstaunt nicht, dass CEOs die Gruppe mit dem grössten Lohnanstieg seit den 1960er-Jahren sind.
Eine weitere solche Berufsgruppe sind Anwälte. Bei ihnen wird das Honorar oft als Prozentsatz von Klagesummen berechnet. Diese Summen sind in den USA bedeutend höher als in der Schweiz, wo Zivilklagen in Millionenhöhe unüblich sind. Sie tragen zum höheren Lohnwachstum der Topverdiener in den USA bei. Unterschiede gibt es auch bei Ärzten: Das kaum regulierte US-Gesundheitswesen lässt ihnen viel Freiraum, um teure Behandlungen durchzuführen, an denen sie verdienen. Ähnlich wie die Anwälte sind auch Ärzte im Top-1-Prozent gut vertreten.
3. Superstar-Firmen
Unter den höchstkapitalisierten Unternehmen der Welt finden sich heute vorwiegend US-amerikanische Technologiefirmen wie Google, Amazon oder Facebook. Diese Plattformen werden für Konsumenten umso attraktiver, je mehr Leute sie nutzen, und tendieren so auf natürliche Weise dazu, eine marktbeherrschende Stellung einzunehmen. Ihre Marktmacht nimmt zu.
Viele Technologien, wie etwa Streamingdienste, weisen zudem Grenzkosten von null auf: Eine weitere Abonnentin führt bei Netflix nicht zu zusätzlichen Kosten – anders als ein weiteres Auto, das bei Ford vom Band rollt. Auch dies führt häufig zu höherer Marktkonzentration einzelner Anbieter, denn sie können jegliche Konkurrenz durch aggressiven Preiswettbewerb ausschalten.
Steigt die Marktkonzentration, so steigen in der Folge auch die Profite der Superstar-Firmen, die an der Spitze stehen. Über Dividenden und andere Ausschüttungen entstanden so auch höhere Einkommen bei den Firmen- beziehungsweise Aktieninhabern – einer verhältnismässig kleinen Personengruppe. Ein Grossteil dieser hochprofitablen Firmen (die zudem aus Steuerschlupflöchern zusätzlichen Profit schlagen) befindet sich in den Vereinigten Staaten und ist in amerikanischen Händen.
4. Technologischer Wandel
Vom technologischen Wandel profitieren besonders die gut ausgebildeten Arbeitskräfte. Ihre Fähigkeiten ergänzen sich gut mit neuen Maschinen und Computern: Sie werden durch diese Technologien produktiver, ihre Löhne steigen. Wenig gebildeten Arbeitskräften dagegen droht, dass Teile ihrer Arbeit durch Maschinen ersetzt wird – ihre Löhne fallen. Auch der internationale Handel und die Verlagerung gering qualifizierter Tätigkeiten kann diesen Effekt haben. In den USA war davon besonders die untere Mittelschicht betroffen, beispielsweise Fabrikarbeiter in der Autoindustrie.
Gestiegen sind einzig die Löhne für persönliche Dienstleistungen mit sehr niedrigem Qualifikationsniveau, beispielsweise für Haushaltshilfen, für Reinigungspersonal oder für Service- und Hotellerieangestellte. Diese sogenannte Jobpolarisierung ist unter dem Strich ein wichtiger Grund, warum sich die Einkommensschere in den USA geöffnet hat.
Das lässt sich auch an den Zahlen ablesen. Gemäss Steuerstatistiken lag der Anteil der unteren 50 Prozent in den 1960er-Jahren noch bei 20 Prozent. Inzwischen ist er auf 12,5 Prozent gesunken. Dies, während das Top-1-Prozent seinen Anteil am Gesamteinkommen von 12,5 auf 20 Prozent steigern konnte.
In der Schweiz war diese Entwicklung deutlich weniger dramatisch. Hier sank der Anteil der unteren 50 Prozent nur um ein paar Punkte: von 27,5 auf 25,5 Prozent. Die einkommensschwächere Hälfte der Steuerpflichtigen hat noch immer einen deutlich höheren Einkommensanteil als das Top-1-Prozent.
In der Schweiz zogen die Spitzenverdiener also auch deshalb weniger davon, weil hier ein Absinken der unteren Einkommen weitgehend vermieden werden konnte.
5. Das Bildungssystem
Ein wichtiger Grund dafür ist auch das Schweizer Bildungssystem. Dank der hohen Qualität, der Akzeptanz und der weiten Verbreitung der Berufsbildung ist es hierzulande auch ohne Universitätsabschluss möglich, ein solides Einkommen zu erzielen. Fach- und Führungskarrieren stehen auch Personen mit Berufsabschluss offen, besonders in KMU.
Zwar ist auch hierzulande eine Tendenz zur Tertiarisierung spürbar, aber dank höheren Fachschulen, der Berufsmaturität und den Fachhochschulen ist ein tertiärer Abschluss auch zu einem späteren Zeitpunkt noch möglich. Über die Passerelle stehen Berufsmaturanden sogar die Türen zur Universität offen. Lebenslanges Lernen wird so gefördert. Das zahlt sich in Zeiten des raschen technologischen Wandels aus. Nicht umsonst preist die Schweiz ihre Fachkräfte, die gleichzeitig ihr grösstes wirtschaftliches Potenzial sind.
6. Abgefederte Migration
Debattiert wird in den Vereinigten Staaten zudem, ob die Einwanderung gering gebildeter Arbeitskräfte seit den 1960er-Jahren die Löhne der einheimischen Geringverdiener zusätzlich nach unten gedrückt hat. Eine Mehrheit der Studien kommt jedoch zum Schluss, dass dies nicht der Fall war.
Für die Schweiz gibt es keine eindeutigen Befunde, wonach die Zuwanderung systematisch die tiefen Löhne unter Druck gesetzt hat. Dies dürfte einerseits dem Profil der Zuwanderer zuzuschreiben sein – viele von ihnen sind gut qualifiziert – und andererseits den flankierenden Massnahmen, die in Branchen wie dem Bau einem Absacken der Löhne entgegengewirkt haben.
Mit diversen Mindestlohnkampagnen seit dem Ende der 1990er-Jahre haben die Gewerkschaften zudem Tieflöhne ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Anders als etwa in Deutschland wurde in der Schweiz in den vergangenen Jahren kein Tieflohnsektor mit Minijobs und ähnlichen Massnahmen aufgebaut.
Schluss
Wieder mal ein Ländervergleich – wieder eine Statistik, bei der die Schweiz gut abschneidet – wieder ein Anlass, all die hiesigen Vorzüge aufzuzählen. Fast scheint es so, als sei in der Schweiz bei Verteilungsfragen alles in Ordnung.
Doch dieser Eindruck täuscht. Die USA sind zwar das Extrembeispiel bei den Topeinkommen – doch auch in der Schweiz sind die allerhöchsten Löhne in den vergangenen 20 Jahren deutlich gestiegen. Diese Entwicklung wirft gesellschaftliche Fragen rund um Fairness und Umverteilung auf. Und sie birgt das Potenzial, demokratische Prozesse zu verzerren.
Ausserdem haben wir in diesem Beitrag bloss die Einkommen analysiert. Betrachten wir auch die Vermögen des obersten Prozents, steht die Schweiz den USA in nichts nach. Mehr dazu in einem späteren Beitrag.
Isabel Martínez ist promovierte Ökonomin und forscht an der Universität St. Gallen zu Einkommens- und Vermögensungleichheit. Als Fellow der World Inequality Database bereitet sie regelmässig die Daten zur Schweiz auf. Sie arbeitet zudem als Ökonomin beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund und ist Mitglied der Wettbewerbskommission.
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