Als die Topverdiener davonzogen
An der Spitze gab es den grössten Einkommenszuwachs. Das zeigen AHV-Statistiken aus den letzten drei Jahrzehnten. Immerhin: Seit der Finanzkrise ist das Gefüge wieder stabil.
Von Ursina Kuhn, 22.04.2019
Woran Sie sich in dieser Serie über Ungleichheit gewöhnen müssen: nuancierte Aussagen, einen zurückhaltenden Umgang mit Verallgemeinerungen sowie Botschaften, die auf den ersten Blick widersprüchlich scheinen können.
Vor einem Monat haben wir aufgezeigt, dass es bei den Einkommen nicht eine Ungleichheit gibt, sondern viele: Die Verteilung erscheint in anderem Licht, je nachdem, an welcher Stelle man sie misst – bei den Stundenlöhnen, beim individuellen Gesamteinkommen oder auf der Ebene von Haushalten.
Dabei haben wir auch festgestellt: Im grossen Ganzen gab es zuletzt relativ wenige Veränderungen. Die Ungleichheit in der Schweiz war in etwa konstant.
Diesen Befund relativieren wir heute. Und zwar, indem wir an einen ganz bestimmten Ort in der Verteilung blicken: ganz zuoberst, an die Spitze.
Wir sind dazu in der Lage, weil wir uns auf eine andere Datenquelle stützen: auf die Statistik der Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV). Darin sind alle Einkommen erfasst, die bei der Sozialversicherung offiziell gemeldet werden. Im Vergleich zu Umfragedaten ist dies eine wesentlich breitere Quelle: Sie enthält aktuell Angaben zu über 4,3 Millionen Angestellten in der Schweiz (die Selbständigen klammern wir zur besseren Vergleichbarkeit aus).
Das heisst, es gibt keine Verzerrungen durch Antwortverweigerungen, und die Topeinkommen sind besser abgebildet. Ein weiterer Vorteil ist: Die Daten gehen bis 1982 zurück, decken also mehr als 30 Jahre ab.
1. Gini-Index
Wir beginnen mit einer Masszahl, die wir bereits kennen: dem Gini-Index. Es ist das wohl am häufigsten verwendete Ungleichheitsmass überhaupt. Wir wenden es hier auf die Erwerbseinkommen an – anderweitige Einkommen wie etwa Renten oder Vermögenserträge werden also nicht mitgezählt.
Wie die Datenreihe zeigt, ist die Ungleichheit gemessen am Gini-Index über die letzten gut drei Jahrzehnte gestiegen. 1982 lag der Index noch bei 0,34 Zählern. Im aktuellsten Jahr, zu dem Daten vorliegen – 2017 –, betrug er 0,38.
Die Jahreseinkommen aller registrierten AHV-pflichtigen Personen in der Schweiz sind heute also etwas ungleicher verteilt als früher (wobei dies in der folgenden Grafik wegen der gekürzten Achse etwas überzeichnet wird).
Die Abbildung macht aber auch deutlich, dass die Ungleichheit nicht stetig zugenommen hat. Bis 1992 war der Gini-Index mehr oder weniger konstant. Zwischen 1993 und 2007 stieg der Index dann in mehreren Schüben – um ungefähr ab 2008 wiederum konstant auf demselben Niveau zu verharren.
Im Nachhinein zeigt sich, dass die Ungleichheit tendenziell der Konjunktur folgt: In Phasen starken Wirtschaftswachstums pro Kopf (etwa von 1981 bis 1991, 1997 und 1998, 2000 und 2001 sowie 2004 bis 2008) nahm die Ungleichheit zu. Bei negativem Wirtschaftswachstum pro Kopf (2002, 2009, 2012, 2015 und 2016) ging die Ungleichheit leicht zurück.
Dieses Muster ist bemerkenswert und verlangt nach einer Erklärung.
Um sie zu geben, hilft der Gini-Koeffizient allein jedoch nicht weiter. Hinter seinem Anstieg könnten verschiedene Gründe stecken: ein Absinken des Lohnniveaus am unteren Ende der Verteilung, ein überproportionaler Anstieg der höchsten Löhne oder auch eine Abnahme der Anzahl Personen mit mittlerem Einkommen. Wir wissen nicht, welcher Faktor überwiegt.
Für ein differenziertes Bild brauchen wir also eine andere Methode. Eine, die konkret auf die einzelnen Punkte in der Einkommensverteilung eingeht.
2. Einkommenshöhe nach Perzentilen
Diese Methode stützt auf den sogenannten Perzentilen der Verteilung ab.
Stellen Sie sich dazu vor, sämtliche 4,3 Millionen Personen in der AHV-Datenbank würden sich in eine Reihe stellen. Ganz links steht die Person mit dem tiefsten, ganz rechts steht die Person mit dem höchsten Einkommen.
Nun werden diese Personen in 100 Gruppen geteilt: Die 43’000 Personen mit den tiefsten Einkommen kommen in die erste Gruppe, die 43’000 Personen mit den zweittiefsten Einkommen in die zweite Gruppe, und so weiter – bis zu den bestverdienenden 43’000 Personen in der letzten Gruppe.
Überall dort, wo eine Gruppe an eine andere grenzt: Dort sind die Perzentile.
Jedes Perzentil gibt also eine Stelle in der Einkommensverteilung an. Das 1. Perzentil ist zum Beispiel der Ort, an dem 1 Prozent der Personen ein niedrigeres und 99 Prozent der Personen ein höheres Einkommen erzielen. Das 25. Perzentil ist der Ort, an dem 25 Prozent der Personen weniger und 75 Prozent mehr verdienen. Und so weiter. Es gibt insgesamt 100 Perzentile.
In der folgenden Grafik zeigen wir, wie sich die Jahreseinkommen an einigen dieser Perzentile entwickelt haben. Wir picken also ein paar interessante Stellen aus der Einkommensverteilung heraus: zum Beispiel das 10. Perzentil (wo die Geringverdiener sind), das 50. Perzentil (den sogenannten Median) oder auch das 99. Perzentil (die Grenze zum obersten Prozent der Verteilung).
Gut zu wissen: Die Einkommen wurden (zu Preisen von 2011) um die Inflation bereinigt, und Personen, die weniger als 8870 Franken pro Jahr verdienen, wurden für die bessere Vergleichbarkeit ausgeschlossen.
Die Grafik legt nahe, dass sich am obersten Ende der Einkommensverteilung einiges getan hat: Wir sehen einen starken Anstieg der obersten Kurve, beim 99. Perzentil, also an der Grenze zum höchsten Prozent der Einkommen.
Allerdings ist bei der Interpretation der Daten Vorsicht angebracht. Denn die AHV-Statistik zeigt die Einkommen auf Jahresbasis – aber erfasst nicht, wie viele Stunden jeweils dafür gearbeitet wurden. Wie wir im ersten Beitrag gesehen haben, ist dieser Unterschied wichtig. Denn in den letzten Jahrzenten hat die Teilzeitarbeit zugenommen. Dieser Trend verzerrt das Bild, und zwar besonders bei den tieferen Einkommen.
Dort sieht es auf den ersten Blick nach einem schwachen Wachstum aus:
Im 10. Perzentil sind die Einkommen von 1982 nur um 53 Prozent auf zuletzt gut 18’000 Franken gestiegen. Allerdings sind an dieser Stelle der Verteilung vor allem Lehrlinge und Praktikantinnen oder Personen mit Teilzeitjobs anzutreffen – ihre Zahl steigt tendenziell.
Im 25. Perzentil nahm das Einkommen um 126 Prozent auf zuletzt knapp 37’000 Franken zu. Hier kann es sich um Vollzeit- oder Teilzeitarbeit handeln – der Faktor Arbeitspensum verzerrt noch immer das Bild.
Im 50. Perzentil betrug der Anstieg schliesslich 173 Prozent. Zuletzt lag das Medianeinkommen bei rund 62’000 Franken. Auch hier gilt: Die zunehmende Arbeitsmarktbeteiligung funkt in die Zahlen hinein.
Es ist daher schwierig, aus den AHV-Zahlen Schlüsse über die Entwicklung der Lohnunterschiede im unteren Teil der Verteilung zu ziehen. Das ergibt auch der Vergleich mit anderen Quellen wie etwa der Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik, bei denen das Einkommen um die Anzahl der Arbeitsstunden korrigiert wird. Hier zeigt sich bei den tiefen Löhnen ein ähnlicher Anstieg wie bei den mittleren Löhnen. Mit anderen Worten: Nicht die Lohnpolitik der Unternehmen ist verantwortlich für den schwachen Anstieg der Einkommen im unteren Bereich, sondern die Teilzeitarbeit.
Anders sieht es in der oberen Hälfte aus. Hier ist durchs Band ein grösserer Einkommensanstieg erkennbar. Besonders die Spitze ist davongezogen:
Im 75. Perzentil sind die Einkommen um 198 Prozent auf zuletzt rund 89’000 Franken gewachsen. Der Anstieg erfolgte hauptsächlich bis 2011, seither stagnieren die Einkommen in diesem Bereich.
Im 90. Perzentil nahmen die Einkommen um 220 Prozent auf zuletzt 127’000 Franken zu – wobei die zeitliche Dynamik sehr ähnlich ist wie im 75. Perzentil.
Im 95. Perzentil wuchsen die Einkommen um 228 Prozent auf 161’000 Franken. Wieder nach demselben zeitlichen Muster.
Im 99. Perzentil belief sich das Wachstum schliesslich auf 284 Prozent, was beinahe einer Vervierfachung entspricht. Um zum obersten Prozent zu gehören, war zuletzt ein Einkommen von 300’001 Franken notwendig.
Wie gesagt: Die Zahlen haben ihre Tücken. Alles in allem ergibt sich aber doch ein klares Bild über die Einkommensentwicklung in der Schweiz.
Einerseits zeigt sich, dass die Löhne über die ganze Verteilung hinweg zugenommen haben – auch im tiefsten Bereich gab es einen Anstieg. Alle Einkommensklassen vermochten vom Wirtschaftswachstum zu profitieren.
Andererseits haben die oberen Einkommensklassen systematisch besser abgeschnitten: je höher die Klasse, desto höher der Zuwachs. Dies gilt für den oberen Teil der Verteilung, für den wir die Einkommenszunahme hier noch einmal gesondert darstellen – inklusive 99,5. und 99,9. Perzentil.
Damit haben wir einen starken Hinweis darauf, warum die Ungleichheit ausgerechnet in Zeiten der Hochkonjunktur steigt. Es liegt auf der Hand, dass der Anstieg der Top-Einkommen etwas damit zu tun hat. Dieser Anstieg setzte beim obersten Prozent schon in den 1980er-Jahren ein und erfasste ab den 1990er-Jahren auch die Top-5- und die Top-10-Prozent. Als Gründe gelten die Boni für Topmanager, die in erfolgreichen Jahren grosszügiger ausfallen. Wenn ein Teil des Lohns als Aktien ausbezahlt wird, wirkt sich auch der Aktienkurs direkt auf das Jahreseinkommen aus. Hinter der sich öffnenden Schere zwischen Löhnen von Managern und Angestellten steht auch der Einfluss der angelsächsischen Kultur bei multinationalen Konzernen.
Wie ausgeprägt der Einkommensanstieg bei den Topverdienern im Vergleich zum Rest ausfiel, lässt sich auch auf andere Weise darstellen. Und zwar, indem man die Anteile verschiedener Gruppen am Gesamteinkommen nebeneinanderstellt. Wir sind damit bei unserer dritten Metrik angelangt.
3. Anteil am Gesamteinkommen
Ähnlich wie zuvor teilen wir die Bevölkerung dabei in Gruppen ein. Diesmal allerdings nicht in 100, sondern nur in 20: Wir gruppieren also jeweils 5 Prozent der in der Statistik vertretenen Einkommen zusammen.
Die folgende Grafik zeigt, welchen Anteil diese einzelnen Gruppen jeweils am Gesamteinkommen der ganzen Gesellschaft auf sich vereinen. Bei einer hypothetischen, vollständigen Gleichverteilung müsste dieser Anteil exakt 5 Prozent betragen, und zwar für jede der 20 Gruppen. In der Realität ist dies natürlich nicht so: Die Geringverdiener summieren einen kleineren, die Topverdiener einen grösseren Anteil des Gesamteinkommens auf sich.
Hier ist die Situation, wie sie sich 1982 präsentierte. Ganz links ist der Anteil der untersten 5 Einkommensprozent (der dazugehörige Balken ist mit «0» beschriftet), ganz rechts jener der obersten 5 Prozent (mit «95» beschriftet).
Man sieht, wie der Anteil am Einkommen asymmetrisch über die Schichten verteilt ist. 1982 bekamen die untersten 5 Prozent der Angestellten 1,9 Prozent aller Einkommen. Die Gruppe von 5 bis 10 Prozent erhielt 2,2 Prozent, die Gruppe von 10 bis 15 Prozent erhielt 2,5 Prozent und so weiter. Der Anstieg der Stufen verlief mehr oder weniger gleichmässig bis zur Gruppe der 80 bis 85 Prozent, die auf einen Anteil von 6,6 Prozent kamen. Danach schossen die Werte in die Höhe – die obersten 5 Prozent kamen bereits auf 13,8 Prozent.
Noch steiler verläuft dieser Anstieg allerdings in den aktuellsten Zahlen. Die Gruppe von 80 bis 85 Prozent kommt hier bereits auf 7 Prozent, und die obersten 5 Prozent vereinen sogar 18,8 Prozent der Einkommen auf sich.
Um die Veränderungen noch deutlicher hervorzuheben, können wir in einer weiteren Grafik die Differenz abbilden – zwischen dem Einkommensanteil, den eine Gruppe 2017 auf sich vereinte, und ihrem Anteil im Jahr 1982.
Stärker als alle bisherigen Abbildungen macht diese Grafik klar, wo in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten die Musik gespielt hat: in den obersten Prozenten der Einkommensverteilung, bei den Topverdienern.
Der Anteil der Topverdiener am Gesamteinkommen ist von 1982 bis 2017 um fast 5 Prozentpunkte gewachsen. Das ist nicht nur in sich ein grosser Sprung, sondern auch im Vergleich zur zweitstärksten Gruppe – jener von 90 bis 95 Prozent. Auch sie verzeichnete ein Plus. Allerdings fiel dieses mit 1,1 Prozentpunkten schon deutlich kleiner aus als jenes der obersten Gruppe.
Schluss
Ähnlich wie in anderen Ländern hat die Einkommensungleichheit also auch in der Schweiz zugenommen – vor allem in den 1990er- und 2000er-Jahren.
Allerdings ist diese Zunahme nicht auf einen allgemeinen Lohndruck bei den tiefen Löhnen oder eine Erosion der Mittelschicht zurückzuführen, wie auch weitere Datenquellen bestätigen. Vielmehr sind die obersten Löhne immens gestiegen. Diese Entwicklung am oberen Rand entspricht einem internationalen Trend. Die Schweiz konnte sich ihm nicht entziehen. Anhand der AHV-Daten, die wir hier verwendet haben, ist sie gut ersichtlich.
Leider ist auch die AHV-Statistik nicht perfekt. Sie wurde nicht erhoben, um die Einkommensungleichheit zu messen – sondern um die AHV-Renten zu berechnen. Deshalb sind darin nicht nur Einwohnerinnen der Schweiz, sondern auch Grenzgänger enthalten. Die Qualität ist nicht in allen Jahren gleich.
Zudem ist die Arbeitszeit nicht bekannt, und auch Schwarzarbeit wird nicht erfasst. Daher können wir hier keine Schlüsse über den unteren Rand ziehen. Auf dieses Thema kommen wir in einem späteren Beitrag noch zu sprechen.
Ursina Kuhn ist Forscherin am Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften FORS. Nach einem Doktorat in Politikwissenschaft hat sie sich in verschiedenen Projekten mit der Messung von Einkommen und Vermögen beschäftigt und dafür zahlreiche Datenquellen ausgewertet. Seit 2006 ist sie Teil des Teams des Schweizer Haushalt-Panels, wo sie Daten erhebt und für Forscher aufbereitet.
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