Rotieren, marschieren, deklamieren: Ulrich Rasches Inszenierung «Das grosse Heft». Sebastian Hoppe

Theater

Quotenstücke

Theatertreffen Berlin

Am Berliner Mai-Rendezvous des deutsch­sprachigen Theaters spiegelten die Stücke gesellschaftliche Fragen. Mehr als sonst. Und eine ganz besonders.

Von Christine Wahl, 24.05.2019

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Das Berliner Theatertreffen ist der Seismograf für die deutschsprachige Bühnen­landschaft. Es versammelt jedes Jahr im Mai die zehn «bemerkenswertesten» Inszenierungen der Saison. Getroffen wird die Auswahl von einer unabhängigen, siebenköpfigen Theater­kritiker-Jury – mit einem riesigen Reise­radius.

Insgesamt 418 Inszenierungen in 65 Städten Deutsch­lands, Österreichs und der Schweiz hat das Gremium dieses Jahr gesichtet. Wer sich in einem Crash­kurs über die Bühnen­trends informieren möchte, wird also nirgends so fündig wie hier. Und weil das Theater als Spiegel der Gesellschaft gilt, lässt sich darüber hinaus im Idealfall sogar etwas über das Leben erfahren.

Hier ist der Festival-Check in fünf Punkten.

1. Der spektakulärste Auftritt

Zum Top-Act des Berliner Theater­treffens kam es dieses Jahr ausser­gewöhnlich früh – nämlich bereits vor Festival­beginn. Und selbst, wenn man anschliessend auf der Bühne durchaus grandiose Darstellungs­leistungen bewundern konnte, waren es keine Schauspielerin und kein Schauspieler, die sich in dieser Kategorie in die Annalen einschrieben. Nein, der spektakulärste Auftritt gehörte diesmal der Festival­leiterin selbst: Yvonne Büdenhölzer verkündete wenige Tage vor dem Eröffnungs­abend auf einer Presse­konferenz, dass das Theater­treffen ab der kommenden Saison eine Frauen­quote einführen wird.

Seither existiert kein anderes Thema mehr in den Theater­foyers – womit ein wichtiges Ziel der Massnahme bereits erreicht wäre: Die Debatte um Geschlechter­ungerechtigkeit ist mit Verve im Branchen­bewusstsein angekommen. Das Theater gilt ja in diesem Punkt als über­durchschnittlich rückständig; gerade auch gemessen an seinem progressiven Selbst­verständnis und dem Furor, mit dem von der Bühne herab oft Missstände angeprangert werden.

Konkret bedeutet die Quoten­entscheidung, dass künftig mindestens fünfzig Prozent der zehn ausgewählten Inszenierungen von Regisseurinnen stammen müssen. Das gilt zunächst für zwei Jahre: eine Art Testlauf, um zu überprüfen, inwiefern der Geschlechter­ungleichheit im Theater­betrieb mit diesem Instrument tatsächlich beizukommen ist. Aktuell stammen etwa siebzig Prozent aller Inszenierungen an deutsch­sprachigen Bühnen von Männern. Sie erhoffe sich von der Quote vor allem auch einen Anreiz für Intendantinnen und Intendanten, Frauen häufiger für Produktionen auf der grossen Bühne zu engagieren als bisher, so die Festivalleiterin.

2. Die kontroverseste Pausen­foyer-Debatte

Logisch, dass man sich über dieses Thema mit immenser Ausdauer die Köpfe heissredete auf den Fluren, im Garten und in der Raucher­lounge des Berliner Fest­spiel­hauses, wo das Theater­treffen traditionell stattfindet: Die Quote zielt also mehr auf eine Kurs­korrektur an den Häusern selbst, für die eine Einladung zum Theater­treffen die allergrösste Branchen­ehre bedeutet, als auf die (ohnehin mehrheitlich weiblich besetzte) Jury.

Die Theatertreffen-Jury 2019: Dorothea Marcus, Christian Rakow, Shirin Sojitrawalla, Andreas Klaeui, Eva Behrendt, Wolfgang Höbel, Margarete Affenzeller (v. l. n. r.). Iko Freese/Drama Berlin

Aber wie legitim ist es, strukturelle Kategorien mit ästhetischen zu vermischen? Und vor allem: Welche Erfolgs­chancen hat dieses Modell, das Pferd gewissermassen von hinten aufzäumen und über das Instrument eines künstlerisch urteilenden Gremiums institutionelle Missstände beheben zu wollen? Darüber entspann sich bei Bier und Brezel im Pausen­foyer das mutmasslich kontroverseste Argumentations­pingpong seit vielen Jahren.

Ein gefragter junger Regisseur nannte die Quote alternativlos, weil er sich hundert­prozentig sicher sei, dass er als Frau nicht die gleichen Karriere­chancen bekommen hätte. Eine erfolgreiche Schauspielerin vertrieb sich die Wartezeit in der Getränke­schlange damit, alle «grotten­schlechten» Inszenierungen von Männern Revue passieren zu lassen, in denen sie schon auf der Bühne gestanden hat, um schliesslich in einem flammenden Plädoyer gleiches Recht auf Bühnen­mist-Verzapfung für Frauen zu fordern.

Schon klar, hielten die Skeptikerinnen und Skeptiker dagegen. Für Zugangs­gleichheit zu den Jobs – und damit zu den (finanziellen) Ressourcen – sind ausnahmslos alle! Aber ob es sich bei der Quote, die ein politisches Kriterium in die bis dato unabhängige ästhetische Auswahl einführt, auch um das ideale Mittel handele? Tatsächlich drohte man über diese heissen Pausen­diskussionen zu vergessen, dass es ja auch noch «bemerkenswertes» Theater zu sehen gab.

3. Das Bemerkenswerteste des Bemerkenswerten

Damit ist es jedes Jahr aufs Neue ein unterhaltsames Spiel: Kaum wird die Auswahl bekanntgegeben, tritt die Fachwelt zur Exegese an. Welche inhaltlichen und ästhetischen Linien lassen sich erkennen? Der augen­fälligste Trend besteht quasi jedes Mal darin, dass es keinen gibt.

Auch dieses Jahr stand der Rückgriff aufs antike Drama direkt neben Roman­adaptionen von Dostojewski bis zu David Foster Wallace, die Nebel­maschinen-Show neben dem Schauspiel im leeren Bühnen­raum.

Oder neben Ulrich Rasches grossartiger Kriegs­erzählung nach Agota Kristofs Roman «Das grosse Heft», wo zwei Kinder – Zwillings­jungen – sich selbst in martialischen Abhärtungs- und Verrohungs­übungen ergehen, um zu überleben. Rasche, der letztes Jahr schon mit dem Basler «Woyzeck»-Abend zum Theater­treffen eingeladen war, lässt den Text rhythmisch über die Rampe deklamieren, von mal zwei, mal sechzehn jungen Schauspielern, die dabei abendfüllend auf zwei riesigen, rotierenden Dreh­scheiben marschieren, knappe vier Stunden lang. Wie sich hier Text und Inszenierung kongenial ergänzen, ist ein seltenes und zeitloses Theater­glück.

Sprechchöre für den Umgang mit Eigentum: Performance-Kollektiv She She Pop mit «Oratorium». Benjamin Krieg/She She Pop

An das drängendste, explizit aktuellste Thema wagte sich hingegen die aus sieben Frauen und einem Mann bestehende Performance-Gruppe She She Pop – und zeigte, dass Theater tatsächlich ziemlich viel mit dem wahren Leben zu tun haben kann. Das Kollektiv stellt in seiner Arbeit «Oratorium» auf offener Bühne die heikle und schambehaftete Frage nach privaten Eigentums­verhältnissen. Universelle Themen zu verhandeln, indem es sich zwar konkret, aber auf hohem Reflexions­niveau selbst zu ihnen ins Verhältnis setzt, gehört zu den grossen Qualitäten des Kollektivs, das in den 1990er-Jahren aus dem Studium der Angewandten Theater­wissenschaften in Giessen hervorgegangen ist.

So exerziert «Oratorium» die Kapital­frage direkt am Wohnungs­markt durch, an explodierenden Mieten und dem Problem, welche der Performerinnen sich auch künftig noch die Innenstadt­lage leisten können – weil sie erben werden – und welche nicht. Auf kluge Weise bezieht der Abend auch die Zuschauerinnen und Zuschauer ein. In Anlehnung an die Lehr­stück-Theorie, eine Theater­methode Bertolt Brechts, wird das Publikum aufgefordert, in verschiedene Chöre einzustimmen, denen es sich jeweils zugehörig fühlt; zum Beispiel in den Chor der alleinerziehenden Mütter, der Eigenheim­besitzer oder der Theater­wissenschaftlerinnen.

So muss man sich erstens ständig selbst zuordnen, was mitunter komplizierter ist, als es auf Anhieb scheint, und deshalb die Gehirn­muskeln anregt. Zweitens erfährt man anhand der jeweiligen Sprech­chor-Lautstärke sehr viel über sein Co-Publikum, sprich: über die soziale Situation in der eigenen Stadt. Und drittens übt man sich live in demokratischen Aushandlungs­prozessen. Denn die Chöre müssen, ob sie wollen oder nicht, mit- und manchmal auch gegeneinander in Dialog treten, am Ende aber auf jeden Fall eine gemeinsame Melodie finden, wenn auch in unterschiedlichen Tonlagen. Die mit Abstand gegenwärtigste Produktion des Festivals!

4. Der mächtigste Flop

Es gab natürlich auch enttäuschende Abende. Der überschätzteste hatte dieses Jahr viel mit der Brille zu tun, durch die man aufgrund der Quoten­diskussion das ganze Theater­treffen zwangsläufig betrachtete – ob man wollte oder nicht.

Die Regisseurin Anna Bergmann, die als Schauspiel­direktorin am Theater Karlsruhe in ihrer ersten Saison eine hundert­prozentige Frauen­quote durchgesetzt, also ausschliesslich Regisseurinnen engagiert hat, war mit «Persona» nach dem Film von Ingmar Bergman eingeladen (einer Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin und des Malmö Stadsteater).

Obwohl man dem Abend mit zwei hochkarätigen Schauspielerinnen – Corinna Harfouch und ihrer schwedischen Kollegin Karin Lithman – deutlich anmerkt, dass seine Vorlage und damit auch sein Frauen­bild aus den 1960er-Jahren stammt, wird er merkwürdigerweise als besonders feministisch gelabelt. Es geht um eine Schauspielerin, die sich aus akutem Verlogenheits­ekel heraus in eine Art inneres Schweige-Exil zurückgezogen hat. Die Kranken­schwester, die zu ihrer Pflege abkommandiert ist, nutzt die Gelegenheit, mit der stummen Diva in ein kompliziertes Identifikations- und Konkurrenz­verhältnis zu treten. Diese beiden Charaktere, die ohnehin nicht zum Fortschrittlichsten gehören, was der Geschlechter­rollen­markt zu bieten hat, werden von Anna Bergmann in abendfüllende Wasser­plansch­spiele verstrickt, wie man sie auch von männlichen Regisseuren sattsam kennt.

Wie ein Schlag ins Wasser: «Persona» von Anna Bergmann mit Karin Lithman und Corinna Harfouch. Arno Declair

Nichts gegen dekorative Wasser­pfützen­choreografien, aber als Ikone eines neuen Bühnen­feminismus leuchten sie beim besten Willen nicht ein! Man konnte daran erkennen, dass regieführende Frauen – wovon man in der momentanen Geschlechter­debatte irgendwie latent auszugehen scheint – durchaus nicht automatisch auch die progressiveren Geschlechter­bilder produzieren.

5. Die grösste Überraschung

Womit wir wieder bei der Differenz zwischen den institutionellen Strukturen und dem ästhetischen Produkt wären – und bei einer Überraschung zum Festival­abschluss. Die deutsche Kultur­staats­ministerin Monika Grütters, die als wichtige Impuls­geberin für Geschlechter­gerechtigkeit gilt und mit einer eigens in Auftrag gegebenen Studie zur Situation von Frauen in Kultur und Medien diesbezüglich wichtige Initiativen angeregt hatte, hielt zum Finale eine Rede. Und sprach sich darin – für viele frappierend – deutlich gegen die vom Festival beschlossene Quote aus: «Das Theater­treffen als eine Art Besten­auswahl der deutsch­sprachigen Bühnen sollte die zehn ‹bemerkens­wertesten Inszenierungen› eines Jahres allein nach ästhetisch-künstlerischen Kriterien zusammen­stellen», so Grütters.

Damit ist die Debatte allerdings noch nicht beendet.

Zur Autorin

Christine Wahl, geboren 1971 in Dresden, arbeitet seit 1995 als freie Journalistin und Theater­kritikerin unter anderem für den «Tagesspiegel», «Theater heute» und «Spiegel online». Sie war Mitglied in diversen Jurys, aktuell ist sie im Auswahl­gremium für den Mülheimer Dramatiker­preis sowie den Kranichsteiner Literatur­preis. Für die Republik hat sie zuletzt über Wolfram Koch und über Gegenwarts­dramatik geschrieben.