Quotenstücke
Theatertreffen Berlin
Am Berliner Mai-Rendezvous des deutschsprachigen Theaters spiegelten die Stücke gesellschaftliche Fragen. Mehr als sonst. Und eine ganz besonders.
Von Christine Wahl, 24.05.2019
Das Berliner Theatertreffen ist der Seismograf für die deutschsprachige Bühnenlandschaft. Es versammelt jedes Jahr im Mai die zehn «bemerkenswertesten» Inszenierungen der Saison. Getroffen wird die Auswahl von einer unabhängigen, siebenköpfigen Theaterkritiker-Jury – mit einem riesigen Reiseradius.
Insgesamt 418 Inszenierungen in 65 Städten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz hat das Gremium dieses Jahr gesichtet. Wer sich in einem Crashkurs über die Bühnentrends informieren möchte, wird also nirgends so fündig wie hier. Und weil das Theater als Spiegel der Gesellschaft gilt, lässt sich darüber hinaus im Idealfall sogar etwas über das Leben erfahren.
Hier ist der Festival-Check in fünf Punkten.
1. Der spektakulärste Auftritt
Zum Top-Act des Berliner Theatertreffens kam es dieses Jahr aussergewöhnlich früh – nämlich bereits vor Festivalbeginn. Und selbst, wenn man anschliessend auf der Bühne durchaus grandiose Darstellungsleistungen bewundern konnte, waren es keine Schauspielerin und kein Schauspieler, die sich in dieser Kategorie in die Annalen einschrieben. Nein, der spektakulärste Auftritt gehörte diesmal der Festivalleiterin selbst: Yvonne Büdenhölzer verkündete wenige Tage vor dem Eröffnungsabend auf einer Pressekonferenz, dass das Theatertreffen ab der kommenden Saison eine Frauenquote einführen wird.
Seither existiert kein anderes Thema mehr in den Theaterfoyers – womit ein wichtiges Ziel der Massnahme bereits erreicht wäre: Die Debatte um Geschlechterungerechtigkeit ist mit Verve im Branchenbewusstsein angekommen. Das Theater gilt ja in diesem Punkt als überdurchschnittlich rückständig; gerade auch gemessen an seinem progressiven Selbstverständnis und dem Furor, mit dem von der Bühne herab oft Missstände angeprangert werden.
Konkret bedeutet die Quotenentscheidung, dass künftig mindestens fünfzig Prozent der zehn ausgewählten Inszenierungen von Regisseurinnen stammen müssen. Das gilt zunächst für zwei Jahre: eine Art Testlauf, um zu überprüfen, inwiefern der Geschlechterungleichheit im Theaterbetrieb mit diesem Instrument tatsächlich beizukommen ist. Aktuell stammen etwa siebzig Prozent aller Inszenierungen an deutschsprachigen Bühnen von Männern. Sie erhoffe sich von der Quote vor allem auch einen Anreiz für Intendantinnen und Intendanten, Frauen häufiger für Produktionen auf der grossen Bühne zu engagieren als bisher, so die Festivalleiterin.
2. Die kontroverseste Pausenfoyer-Debatte
Logisch, dass man sich über dieses Thema mit immenser Ausdauer die Köpfe heissredete auf den Fluren, im Garten und in der Raucherlounge des Berliner Festspielhauses, wo das Theatertreffen traditionell stattfindet: Die Quote zielt also mehr auf eine Kurskorrektur an den Häusern selbst, für die eine Einladung zum Theatertreffen die allergrösste Branchenehre bedeutet, als auf die (ohnehin mehrheitlich weiblich besetzte) Jury.
Aber wie legitim ist es, strukturelle Kategorien mit ästhetischen zu vermischen? Und vor allem: Welche Erfolgschancen hat dieses Modell, das Pferd gewissermassen von hinten aufzäumen und über das Instrument eines künstlerisch urteilenden Gremiums institutionelle Missstände beheben zu wollen? Darüber entspann sich bei Bier und Brezel im Pausenfoyer das mutmasslich kontroverseste Argumentationspingpong seit vielen Jahren.
Ein gefragter junger Regisseur nannte die Quote alternativlos, weil er sich hundertprozentig sicher sei, dass er als Frau nicht die gleichen Karrierechancen bekommen hätte. Eine erfolgreiche Schauspielerin vertrieb sich die Wartezeit in der Getränkeschlange damit, alle «grottenschlechten» Inszenierungen von Männern Revue passieren zu lassen, in denen sie schon auf der Bühne gestanden hat, um schliesslich in einem flammenden Plädoyer gleiches Recht auf Bühnenmist-Verzapfung für Frauen zu fordern.
Schon klar, hielten die Skeptikerinnen und Skeptiker dagegen. Für Zugangsgleichheit zu den Jobs – und damit zu den (finanziellen) Ressourcen – sind ausnahmslos alle! Aber ob es sich bei der Quote, die ein politisches Kriterium in die bis dato unabhängige ästhetische Auswahl einführt, auch um das ideale Mittel handele? Tatsächlich drohte man über diese heissen Pausendiskussionen zu vergessen, dass es ja auch noch «bemerkenswertes» Theater zu sehen gab.
3. Das Bemerkenswerteste des Bemerkenswerten
Damit ist es jedes Jahr aufs Neue ein unterhaltsames Spiel: Kaum wird die Auswahl bekanntgegeben, tritt die Fachwelt zur Exegese an. Welche inhaltlichen und ästhetischen Linien lassen sich erkennen? Der augenfälligste Trend besteht quasi jedes Mal darin, dass es keinen gibt.
Auch dieses Jahr stand der Rückgriff aufs antike Drama direkt neben Romanadaptionen von Dostojewski bis zu David Foster Wallace, die Nebelmaschinen-Show neben dem Schauspiel im leeren Bühnenraum.
Oder neben Ulrich Rasches grossartiger Kriegserzählung nach Agota Kristofs Roman «Das grosse Heft», wo zwei Kinder – Zwillingsjungen – sich selbst in martialischen Abhärtungs- und Verrohungsübungen ergehen, um zu überleben. Rasche, der letztes Jahr schon mit dem Basler «Woyzeck»-Abend zum Theatertreffen eingeladen war, lässt den Text rhythmisch über die Rampe deklamieren, von mal zwei, mal sechzehn jungen Schauspielern, die dabei abendfüllend auf zwei riesigen, rotierenden Drehscheiben marschieren, knappe vier Stunden lang. Wie sich hier Text und Inszenierung kongenial ergänzen, ist ein seltenes und zeitloses Theaterglück.
An das drängendste, explizit aktuellste Thema wagte sich hingegen die aus sieben Frauen und einem Mann bestehende Performance-Gruppe She She Pop – und zeigte, dass Theater tatsächlich ziemlich viel mit dem wahren Leben zu tun haben kann. Das Kollektiv stellt in seiner Arbeit «Oratorium» auf offener Bühne die heikle und schambehaftete Frage nach privaten Eigentumsverhältnissen. Universelle Themen zu verhandeln, indem es sich zwar konkret, aber auf hohem Reflexionsniveau selbst zu ihnen ins Verhältnis setzt, gehört zu den grossen Qualitäten des Kollektivs, das in den 1990er-Jahren aus dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Giessen hervorgegangen ist.
So exerziert «Oratorium» die Kapitalfrage direkt am Wohnungsmarkt durch, an explodierenden Mieten und dem Problem, welche der Performerinnen sich auch künftig noch die Innenstadtlage leisten können – weil sie erben werden – und welche nicht. Auf kluge Weise bezieht der Abend auch die Zuschauerinnen und Zuschauer ein. In Anlehnung an die Lehrstück-Theorie, eine Theatermethode Bertolt Brechts, wird das Publikum aufgefordert, in verschiedene Chöre einzustimmen, denen es sich jeweils zugehörig fühlt; zum Beispiel in den Chor der alleinerziehenden Mütter, der Eigenheimbesitzer oder der Theaterwissenschaftlerinnen.
So muss man sich erstens ständig selbst zuordnen, was mitunter komplizierter ist, als es auf Anhieb scheint, und deshalb die Gehirnmuskeln anregt. Zweitens erfährt man anhand der jeweiligen Sprechchor-Lautstärke sehr viel über sein Co-Publikum, sprich: über die soziale Situation in der eigenen Stadt. Und drittens übt man sich live in demokratischen Aushandlungsprozessen. Denn die Chöre müssen, ob sie wollen oder nicht, mit- und manchmal auch gegeneinander in Dialog treten, am Ende aber auf jeden Fall eine gemeinsame Melodie finden, wenn auch in unterschiedlichen Tonlagen. Die mit Abstand gegenwärtigste Produktion des Festivals!
4. Der mächtigste Flop
Es gab natürlich auch enttäuschende Abende. Der überschätzteste hatte dieses Jahr viel mit der Brille zu tun, durch die man aufgrund der Quotendiskussion das ganze Theatertreffen zwangsläufig betrachtete – ob man wollte oder nicht.
Die Regisseurin Anna Bergmann, die als Schauspieldirektorin am Theater Karlsruhe in ihrer ersten Saison eine hundertprozentige Frauenquote durchgesetzt, also ausschliesslich Regisseurinnen engagiert hat, war mit «Persona» nach dem Film von Ingmar Bergman eingeladen (einer Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin und des Malmö Stadsteater).
Obwohl man dem Abend mit zwei hochkarätigen Schauspielerinnen – Corinna Harfouch und ihrer schwedischen Kollegin Karin Lithman – deutlich anmerkt, dass seine Vorlage und damit auch sein Frauenbild aus den 1960er-Jahren stammt, wird er merkwürdigerweise als besonders feministisch gelabelt. Es geht um eine Schauspielerin, die sich aus akutem Verlogenheitsekel heraus in eine Art inneres Schweige-Exil zurückgezogen hat. Die Krankenschwester, die zu ihrer Pflege abkommandiert ist, nutzt die Gelegenheit, mit der stummen Diva in ein kompliziertes Identifikations- und Konkurrenzverhältnis zu treten. Diese beiden Charaktere, die ohnehin nicht zum Fortschrittlichsten gehören, was der Geschlechterrollenmarkt zu bieten hat, werden von Anna Bergmann in abendfüllende Wasserplanschspiele verstrickt, wie man sie auch von männlichen Regisseuren sattsam kennt.
Nichts gegen dekorative Wasserpfützenchoreografien, aber als Ikone eines neuen Bühnenfeminismus leuchten sie beim besten Willen nicht ein! Man konnte daran erkennen, dass regieführende Frauen – wovon man in der momentanen Geschlechterdebatte irgendwie latent auszugehen scheint – durchaus nicht automatisch auch die progressiveren Geschlechterbilder produzieren.
5. Die grösste Überraschung
Womit wir wieder bei der Differenz zwischen den institutionellen Strukturen und dem ästhetischen Produkt wären – und bei einer Überraschung zum Festivalabschluss. Die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die als wichtige Impulsgeberin für Geschlechtergerechtigkeit gilt und mit einer eigens in Auftrag gegebenen Studie zur Situation von Frauen in Kultur und Medien diesbezüglich wichtige Initiativen angeregt hatte, hielt zum Finale eine Rede. Und sprach sich darin – für viele frappierend – deutlich gegen die vom Festival beschlossene Quote aus: «Das Theatertreffen als eine Art Bestenauswahl der deutschsprachigen Bühnen sollte die zehn ‹bemerkenswertesten Inszenierungen› eines Jahres allein nach ästhetisch-künstlerischen Kriterien zusammenstellen», so Grütters.
Damit ist die Debatte allerdings noch nicht beendet.
Christine Wahl, geboren 1971 in Dresden, arbeitet seit 1995 als freie Journalistin und Theaterkritikerin unter anderem für den «Tagesspiegel», «Theater heute» und «Spiegel online». Sie war Mitglied in diversen Jurys, aktuell ist sie im Auswahlgremium für den Mülheimer Dramatikerpreis sowie den Kranichsteiner Literaturpreis. Für die Republik hat sie zuletzt über Wolfram Koch und über Gegenwartsdramatik geschrieben.