Dramatische Analysen
Neue Stücke haben keinen leichten Stand. Sie werden zwar uraufgeführt, verschwinden danach aber schnell von den Theaterbühnen. Liegt das wirklich, wie man immer wieder hört, an mangelnder politischer Brisanz?
Von Christine Wahl, 05.04.2019
Die Gegenwartsdramatik hat nicht das beste Image. Viele Regisseure machen keinen Hehl daraus, dass sie lieber William Shakespeare oder Heinrich von Kleist inszenieren als die Uraufführung eines neuen Theatertextes. Jedenfalls, solange er nicht von Branchenstars wie Elfriede Jelinek stammt.
Den vermeintlichen Grund dafür hat Claus Peymann vor längerer Zeit in einem Interview auf den Punkt gebracht. Was die jungen Theaterautoren da so niederschrieben, stöhnte der 1937 geborene Regisseur, sei «die reine Flucht ins Private». Alles drehe sich um Probleme, die «die Autoren mit ihrer Grossmutter haben oder dem Papi oder ihrem Pimmel».
Das Märchen von der Nabelschau
Dass der Befund schon zehn Jahre alt ist, tut nichts zur Sache. Im Gegenteil. Er wird hartnäckig wiederholt, sei es auf Tagungen oder in Feuilletons – in der Regel natürlich etwas elaborierter. Die neuen Stücke seien inhaltlich dünn, ihnen fehle die «Welthaltigkeit», wie das im Branchenjargon heisst. Shakespeare, Molière oder Schiller hätten dem Theaterpublikum die grossen Konflikte ihrer Zeit erklärt. Heute dagegen dominierten «Beziehungskisten».
Die Welt taumelt also von einer Wirtschafts- und Gesellschaftskrise zur nächsten, und das dramatische Gewerbe kennt nichts als den privaten Beziehungsnotstand? Als Jurymitglied der Mülheimer Theatertage, eines der wichtigsten Festivals für Gegenwartsdramatik, lese ich seit mehreren Jahren sämtliche Theaterstücke, die in der Schweiz, in Österreich und Deutschland uraufgeführt werden. Das sind zwischen hundert und hundertdreissig pro Saison, Tendenz leicht steigend. Doch ich kann mich nicht erinnern, wann mir zuletzt eine solche «Beziehungskiste» untergekommen wäre.
Schaut man sich die Texte an, die in den vergangenen Jahren den Mülheimer Dramatikerpreis gewonnen haben, stösst man auf kluge Aufarbeitungen der DDR und des Nationalsozialismus wie in Wolfram Hölls «und dann» (2014) oder in Ewald Palmetshofers «die unverheiratete» (2015). Es gibt gewitzte Patriarchatskritik wie in Anne Leppers «Mädchen in Not» (2017) oder globale Kapitalismusanalysen wie in Thomas Köcks «paradies spielen» (2018).
Will man die Stücke auf einen gemeinsamen Nenner bringen, landet man also gewiss nicht bei der Nabelschau. Die Themen und Schreibstile sind so vielfältig, dass als verbindendes Element am ehesten eine formale Nebensächlichkeit auffällt: Geschätzte neunzig Prozent der Autorinnen und Autoren verzichten generell auf Grossbuchstaben.
Falls der «Beziehungskisten»-Vorwurf überhaupt je gestimmt hat, klingt er heute allenfalls wie eine stereotype Ferndiagnose: eine Behauptung einstiger Experten, die sich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen haben und ihren Untersuchungsgegenstand höchstens noch sporadisch in Augenschein nehmen. Der Vorwurf erinnert an das Klischee vom modernen Regietheater, in dem angeblich nur noch brüllende, kunstblutverschmierte Nackte auf der Bühne stehen. Das geistert ja ebenfalls seit Jahren zuverlässig durchs Feuilleton – während man selbst bei seinen beruflichen Theaterbesuchen unter zwanzig hochgeschlossenen Klassikerdeklamationen maximal einen kunstblutverschmierten Hintern sichtet.
Delikte und Konflikte
Welthaltiger als Thomas Köcks Stück «atlas», das vor wenigen Wochen in Leipzig herauskam, oder Enis Macis «Mitwisser», das vergangenes Jahr am Wiener Schauspielhaus uraufgeführt und kürzlich in Mannheim nachinszeniert wurde, kann Dramatik jedenfalls kaum sein. Maci – 1993 in Gelsenkirchen geboren, Hausautorin am Mannheimer Theater und auch Verfasserin kluger politischer Essays – verknüpft drei sehr verschiedene Tötungsdelikte zu einem globalen Abend über Gewalt und Schuld. All diese Fälle haben sich in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Ecken der Welt tatsächlich ereignet: Ein US-amerikanischer Teenager tötet seine Eltern und feiert hinterher in ihrem Haus eine Party. Eine junge türkische Frau erschiesst ihren vielfachen Vergewaltiger. Und in Deutschland steht ein US-Terrorist vor Gericht.
Scharfsinnig bespiegelt Maci dabei das Verhältnis zwischen Mitwisser- und Mittäterschaft, das in Zeiten von World Wide Web und Social Media umso komplexer geworden ist. Welche Rolle spielen die Chatnachrichten, die der US-Teenager von seinem Freund bekommt – und die ihn unverhohlen zum Elternmord anstiften? Enis Maci gelingt in ihrem Stück etwas Seltenes: Sie findet eine Sprache, in der die Veränderungen der Wahrnehmung durch das Digitalzeitalter nicht nur wie üblich konstatiert werden, sondern in der sie sich stilistisch wirklich niederschlagen. Möglicherweise hat Enis Maci das erste wirkliche Internetdrama verfasst.
Auch «atlas» von Thomas Köck erstreckt sich über mehrere Kontinente und Gesellschaftssysteme. Der 1986 in Oberösterreich geborene Autor, der – wie Maci – am Leipziger Literaturinstitut studierte und vergangenes Jahr den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt, erzählt eine Familiengeschichte über drei Generationen. Sie beginnt in der Tagesaktualität eines vietnamesischen Flughafens: Eine junge Frau ist auf dem Weg zu ihrer Grossmutter, die sie noch nicht kennt. Die Reise wird sie in die Bundesrepublik der 1970er- und in die DDR der 1980er-Jahre führen. Dort hatte die Mutter der jungen Frau als vietnamesische «Vertragsarbeiterin» in einer Fabrik geschuftet, wie das im realsozialistischen Tonfall hiess.
Was Thomas Köck hier über Flucht und Arbeitsmigration infolge des Vietnamkriegs schreibt, wird nicht nur zu einem unaufdringlichen Spiegelbild der gegenwärtigen Situation. Sondern man erlebt tatsächlich eine universelle Reflexion darüber, wie sich historische Gegebenheiten und (Um-)Brüche in die Biografien einzelner Menschen einschreiben.
Mehr politische und gesellschaftliche Gedankenschärfe ist kaum möglich als bei dieser Endzwanziger- bis Mittdreissiger-Generation, die gerade tonangebend wird – und die hoffentlich viele Bühnen findet, an denen ihre Stücke nachgespielt werden. Denn das ist tatsächlich ein Problem: Vor allem von der Uraufführung erhoffen sich die Theater Aufmerksamkeit. Danach verschwinden viele neue Theatertexte wieder von den Spielplänen. Einige Häuser arbeiten zwar mit Initiativen wie speziellen Zweitaufführungsfestivals oder der Verleihung von Nachspielpreisen bereits an einer Bewusstseinsänderung. In die Breite hinein wirkt dies aber nur langsam.
Natürliches Geschlecht, künstliche Intelligenz
Umso erfreulicher, dass sich auch gestandene (Roman-)Autoren wie Lukas Bärfuss oder Clemens J. Setz nicht davon abschrecken lassen, immer wieder fürs Theater zu schreiben. Bärfuss hatte mit seinem letzten Stück am Schauspielhaus Zürich, «Frau Schmitz», schon vor drei Jahren mit komödiantischem Schwung Fragen zu Geschlechterrollen aufgeworfen, die jetzt im dramatischen Mainstream angekommen sind.
Und auch Setz beschäftigt sich mit einem hochaktuellen Problem. In galileischer Dringlichkeit stellt er die Frage nach der Dialektik des technologischen Fortschritts; nach Wohl, Wehe und Verantwortung der Wissenschaft. Der Protagonist seines Stückes «Erinnya», das zurzeit am Schauspielhaus Graz läuft, wird komplett von einer künstlichen Intelligenz dominiert. Er trägt einen Knopf im Ohr und spricht ausschliesslich in jenen vorgefertigten Sätzen, die ihm die Software einflüstert. Klingt lustig, ist aber kompliziert: Die KI mit ihrem Hang zum Erbauungsmantra hat sich als einzig wirksamer Weg aus der Depression dieses jungen Mannes erwiesen – um den Preis der Fernsteuerung.
Besonders explosiv brechen die Künstliche-Intelligenz-Probleme in der Alltagskommunikation mit der Lebenspartnerin und deren Eltern auf. So gesehen könnte man «Erinnya» – von wegen «Beziehungskiste» – auf einer bestimmten Ebene auch als Paar- oder Familiengeschichte lesen, was auf die Stücke von Bärfuss und Köck in ähnlicher Weise zutrifft.
Welthaltige Familienkrisen
Und natürlich gibt es in der neuen Dramatik auch jede Menge Ehekrisen. Vorzugsweise, wie im echten Leben, im Urlaub. Nur ereignen die sich zum Beispiel an Mittelmeerküsten und werden von der Not flüchtender Menschen überlagert wie in Anja Hillings «Sinfonie des sonnigen Tages» (2014). Oder die Menschen brechen zu hochpreisigen Japan-Reisen auf und bringen, mindestens, männliches Dominanzgebaren und andere soziale Schieflagen des Westens ans Licht wie in Nis-Momme Stockmanns «Imperium des Schönen» (2019). Dort gerät ein Ekelpaket von Philosophieprofessor nebst Gattin mit seinem jüngeren Bruder aneinander, der von Gelegenheitsjobs lebt und mit einer Bäckerei-Fachverkäuferin liiert ist. Wobei nicht nur über realkapitalistische Lebensentwürfe gestritten wird, sondern auch über die korrekte Auslegung Arthur Schopenhauers.
Kurzum: Das Familienstück des einundzwanzigsten Jahrhunderts enthält, rein strukturell betrachtet, genauso viel oder wenig private Nabelschau wie das kanonische Drama des achtzehnten, neunzehnten oder zwanzigsten. Ähnlich wie Friedrich Schiller die (absolutistische) Gesellschaftskritik seines «Don Karlos» in einen Vater-Sohn-Konflikt am spanischen Königshof verpackte, wird auch heute mithilfe dramatischer Familienbeziehungen von politischen und gesellschaftlichen Problemen erzählt. (Was keinesfalls den Umkehrschluss erlaubt, dass sich hinter jedem Gegenwartsdramatiker ein neuer Schiller verbirgt.)
Dass man auch immer wieder Stücke sieht, die zwar gross gedacht sein mögen, deren Personal aber vergleichsweise unterkomplex bleibt oder zu Thesenträgern verkommt, steht ausser Zweifel. In Berlin unternahm gerade der ungarische Regisseur Árpád Schilling den Versuch, anhand einer Familientragikomödie namens «Der letzte Gast» über «das Fremde» nachzudenken. Das klang auf dem Papier nach einer plausiblen Idee, zumal Schilling unlängst von der Orbán-Regierung zum «Staatsfeind» erklärt wurde und seit einigen Monaten in Frankreich lebt.
In der Bühnenpraxis sieht das dann so aus, dass eine pensionierte Opernsängerin einen immigrierten Taxifahrer einlädt, ihr Haus zu sanieren. Leider wird die renovierungsbedürftige Wohlstandsruine namens Westeuropa, um die es hier symbolisch geht, ausschliesslich von fleischgewordenen Klischees bevölkert. Männerhörige Chefsekretärinnen, emotional unterversorgte Karrierefrauen, buchstäblich am Rad drehende Rollstuhl-Patriarchen und – jawohl – erektionsgestörte Handwerker geben sich die Klinke in die Hand. Auch dies ist kein Einzelfall in der Gegenwartsdramatik.
Beruhigend ist aber selbst im «Letzten Gast» zweierlei. Erstens: Es handelt sich um das einzige Stück der Saison, in dem tatsächlich «Probleme mit dem Pimmel» eine handlungstragende Rolle spielen. Und zweitens: Sogar hier folgt der Text (oder mindestens sein Konzept) dem Anspruch, das Private als das Politische zu erzählen und eben gerade nicht als selbstbezügliche Befindlichkeitsstory.
Das Haus als Parabel
Tröstlich kommt hinzu, dass die Sache mit dem Hausbau, die als politische Parabel gerade generell hoch im Kurs steht bei den Theaterautoren, auch gelingen kann. Das zeigt sich im aktuellen Stück «der tempelherr» des österreichischen Dramatikers Ferdinand Schmalz, der mit seinen 34 Jahren ebenfalls zur Generation der Köcks und Macis gehört. Auf der Bühne stehen, wieder in Berlin, lauter besorgte Menschen. Sie versuchen zu rekonstruieren, was mit ihrem abwesenden Freund beziehungsweise Familienmitglied Heinar geschehen ist. Folgendes finden sie heraus:
Heinar, ein «Lehrer im Sabbatical», wollte sich eigentlich nur den Traum vom Eigenheim erfüllen, brachte es aber nicht über sich, dabei auf den Rat seiner Frau Petra zu hören: «Entscheid’ dich für die Fertigteilversion von deinem Leben / ist schnell gebaut / und keine bösen Überraschungen». Sondern er musste mit dem Haus – von wegen Polit-Parabel – gleich noch sich selbst sowie die ganze «Gesellschaft neu denken»: Wer ist drin und wer nicht? Was ist mit den Grenzen? Und wie steht es um das Verhältnis zwischen Tradition und Fortschritt? Logisch, dass Heinar mit diesen Fragen nicht fertig werden konnte und an einer nicht enden wollenden Tempelkonstruktion zu werkeln begonnen hat, in deren Rohbau er eines Tages einfach auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist.
Ein Schicksal, das das Stück selbst hoffentlich nicht ereilt. Denn genau wie «atlas» oder «Mitwisser» verdient «der tempelherr» unbedingt, an vielen Theatern nachgespielt zu werden.
Christine Wahl, geboren 1971 in Dresden, arbeitet seit 1995 als freie Journalistin und Theaterkritikerin unter anderem für den «Tagesspiegel», «Theater heute» und «Spiegel online». Sie war Mitglied in diversen Jurys, aktuell ist sie im Auswahlgremium für den Mülheimer Dramatikerpreis sowie den Kranichsteiner Literaturpreis. Für die Republik hat sie zuletzt über Simon Stone und Wolfram Koch geschrieben.