«Erschossen? Nein, zersägt!»

Wolfram Koch ist im Frankfurter «Tatort» Kriminal­hauptkommissar Paul Brix, im Zürcher Schauspiel­haus spielt er in «Totart Tatort». Wenn er voll aufdreht, bricht manchmal sogar der Regisseur vor Lachen fast zusammen.

Ein Porträt von Christine Wahl, 18.02.2019

Tobias Kruse/Ostkreuz

Als ich Wolfram Koch vor zehn Jahren das erste Mal zu einem Interview traf, kam er direkt vom Abstellgleis. Wir hatten uns in Berlin verabredet, wo er ein neues Stück probte, und Koch war frühmorgens mit dem Zug aus Frankfurt angereist. Den örtlichen Haupt­bahnhof hatte er allerdings im Tiefschlaf an sich vorbeiziehen lassen. Unfreiwillig, versteht sich. «Die nette Schaffnerin hat mich bis zum Strecken­ende durchschlafen lassen», erzählte er damals bestens gelaunt, als er – mit leichter Verspätung und seiner Reisetasche über der Schulter – zum Gespräch eintraf und als Entschuldigung mit grosser Geste eine Fliederblüte überreichte: «Natürlich geklaut!»

Unterwegs

Diesmal, an einem Februarnachmittag in Zürich, kommt Wolfram Koch von den Proben zu Herbert Fritschs neuer Schauspielhaus-Produktion «Totart Tatort», die in wenigen Tagen am Pfauen Premiere feiert. Aber die Reisetasche hat er trotzdem wieder dabei. Er müsse kurz nach vier unbedingt noch einen Zug kriegen, entschuldigt er sich, nach Luxemburg, wo er spätabends noch auf der Bühne stehen werde: eine ganz kleine Sache, aber wahnsinnig engagierte junge Kollegen, absolut schräge Fantasie – da kann Wolfram Koch einfach nicht Nein sagen.

In Theaterkreisen ist das Reisepensum dieses Schau­spielers, der gefühlt immer 27 verschiedene Rollen in 27 unterschiedlichen Städten spielt, legendär. Selbst die Fach­zeitschrift «Theater heute» widmete dem agilsten Bahnschläfer aller Zeiten einen epochalen Grundlagen­text. Dem Autor dieses Textes gelang wegen Koch und seiner täglichen Reise­abenteuer sogar das Kunststück, fünf gute «Gründe für die Deutsche Bahn» zu finden, was ja normalerweise schon lange niemand mehr schafft. Seitdem kennt die komplette Theater­branche Wolfram Kochs Reise-Hoodie: einen schwarzen Kapuzen­pullover, der allerbeste Voraussetzungen bietet, zu jeder beliebigen Tageszeit «Dunkelheit um sich herum zu erzeugen».

Vor allem aber weiss die Branche zu schätzen, dass Wolfram Koch auch mehrmals in der Woche fünf Stunden irgendwohin und fünf wieder zurückfährt, um für anderthalb auf der Bühne zu stehen – wenn es ihm die Sache wert ist. Eine seiner Stamm­strecken verläuft zwischen Berlin, wo er allein am Deutschen Theater zurzeit in vier Produktionen zu sehen ist, und Frankfurt. Dort lebt er mit seiner Familie. Wolfram Koch ist mit einer Malerin verheiratet und hat vier Kinder.

«Totart Tatort»

Herbert Fritsch zählt zu jenen Regisseuren, derentwegen Koch den gesamten deutschsprachigen Theater­raum durchquert. Bevor Fritsch anfing, Regie zu führen, standen die beiden in Berlin schon als Schauspieler zusammen auf der Bühne.

Für die aktuelle Zürcher Produktion «Totart Tatort», erzählt Koch sichtlich probeninfiziert, sampelten sie gerade stereotype Dialoge aus Fernsehkrimis. «Erschossen? Nein, zersägt», ruft er mit stilechter «Tatort»-Betroffenheits­miene über den Tisch im Café Odeon, das er als Treffpunkt vorgeschlagen hat, weil sich hier in den 1930er-Jahren die Exilanten versammelten. «Uns geht es nicht darum, das Krimigenre zu verarschen», erklärt Koch, «das wäre banal.» Diese Standard­gespräche – so weit der momentane Probenstand – werden zu Loops verdichtet und kippen so ins Surreale: «Im Grunde machen wir eine Art Musik.»

«Ermordet? Jochen war beim Sport», schaltet Koch jetzt mit sichtlichem Vergnügen wieder in den «Tatort»-Modus – mit dem er sich bestens auskennt. Schliesslich ermittelt er in der beliebten Sonntags-TV-Serie seit vier Jahren als Kriminalhaupt­kommissar Paul Brix in Frankfurt, mit 26 Drehtagen pro Folge.

Aber Koch wäre nicht Koch, wenn er sich nicht an mindestens 7 davon – das hat er vertraglich so festgeschrieben – mit Hoodie und Reisetasche in die Bahn schwingen und zu irgendeinem Theater fahren würde: «Für manche Kollegen ist mit dem ‹Tatort› ja der Zenit erreicht», denkt er laut nach. «Für mich nicht, ich finde Drehen letztendlich grotten­langweilig.» Nicht, dass es nicht ab und zu lustig zugehe am Set. «Aber eigentlich», so Koch, «wartest du die ganze Zeit, spielst immer so Bröckel-Dinger: ‹Ja, vergiftet!› – und dann wieder fünf Stunden Pause.»

Superlaune

Logisch, dass solche Zwangsausbremsungen dem Vollblut­schauspieler Koch alles andere als entgegen­kommen. «Wolfram ist immer der Motor einer Aufführung», schwärmt Herbert Fritsch, zu dessen Kerntruppe Koch seit Anbeginn gehört. «Einerseits ein Solist, anderseits aber keiner, der die Kollegen an die Wand spielt – obwohl er das locker könnte.» Mit seiner «Wahnsinns­energie» sporne Koch die anderen vielmehr an, reisse sie mit, fordere sie im besten Sinne heraus. «Neben Wolfram kann man nicht einfach rumhängen und irgendwas machen, was der Regisseur gesagt hat», lacht Fritsch. «Da muss man sich was einfallen lassen, da muss man auf Selbst­verteidigung gehen.»

Dass Koch, der «stundenlang proben kann, ohne umzukippen» oder auch nur an eine Pause zu denken, «grundsätzlich eine Superlaune in die Produktion bringt», kann man sich lebhaft vorstellen. «Er taucht auf – und es wird gelacht», sagt Fritsch, der sich tatsächlich nicht erinnern kann, Koch in all den Jahren auch nur ein einziges Mal mit schlechter Laune auf einer Probe erlebt zu haben.

Kaum zu glauben, dass dieser Mann – gemäss eigenen Bekundungen – einst ein schüchternes Kind war. Wolfram Koch, dessen Vater als Jurist bei der Nato arbeitete, wurde 1962 in Paris geboren und wuchs in Bonn auf. Dort musste ihn seine ältere Schwester ans «Theater der Jugend» begleiten, weil er sich – elfjährig – allein nicht hintraute. Dann allerdings ging es Schlag auf Schlag: Mit dreizehn gab Koch sein Profidebüt in Vojtěch Jasnýs Heinrich-Böll-Verfilmung «Ansichten eines Clowns». Das Studium in Frankfurt brach er später ab, weil er sowieso längst in der Praxis unterwegs war. Er spielte in Berlin an der Freien Volksbühne, später am Schiller­theater – und dort übrigens «fünf Jahre lang» bis auf zwei Ausnahmen «nur Kacke».

Wolfram Koch hat kein Problem mit gesunder Selbstkritik. Er gehörte auch schon immer zu denen, die sich für mehr interessieren als das überschaubare Bühnen-Klein-Klein. Mit Dimiter Gotscheff, einem seiner prägendsten Regisseure, mit dem er bis zu dessen Tod vor fünf­einhalb Jahren über ein Dutzend Produktionen gemacht hat, habe er zum Beispiel so gut wie nie über Theater geredet, erzählt Koch. Dafür mit Vorliebe «über Malerei und wissenschaftliche Erfindungen».

Verrisse

Was den Schauspieler interessiert, ist künstlerische Konsequenz. «Keine Labertypen, sondern Leute, die poetisch sind» und die auf jeweils ganz eigene Art «diese merkwürdig zerrissene Fantasie haben». Viele davon kamen zusammen, als Koch Ende der 1990er-Jahre fest in Bochum engagiert war: Regisseure wie Jürgen Kruse oder Schauspiel­kollegen wie Alexander Scheer. Seither reist er als freier Schauspieler eben selbst überallhin, wo er diese Konsequenz findet. Und lässt sich auch dann nicht beirren, wenn es mal ganze und ausschliessliche «36 Verrisse» hagelt wie in einer seiner ersten Zusammen­arbeiten mit dem Regisseur Jan Bosse vor knapp zwanzig Jahren in Hamburg. «Das schweisst zusammen», sagt Koch. Unter Bosses Regie spielt er gerade wieder am Schauspiel Frankfurt, und zwar einen grandiosen «Richard III.» im schlabbrigen Anzug.

«Wolfram ist jemand, der von der ersten bis zur letzten Minute zu der Sache steht, die wir machen», bestätigt Herbert Fritsch. Auch und vor allem, wenn sie ungewöhnlich ist. Zum Beispiel, wenn es – anders als bei Regisseuren, die ein klassisches Theaterstück inszenieren wie «Hamlet» oder «Hedda Gabler» – keinen vorgefertigten Text gibt, sondern erst einmal nur ein Thema feststeht und alles Weitere aus der Spiel­fantasie und den Ideen des Ensembles entsteht. So, wie eben jetzt bei «Totart Tatort». «Man muss das Nichts aushalten», bringt Fritsch diese Situation auf den Punkt: für viele eine nahezu unlösbare Angelegenheit.

Nicht so für Wolfram Koch. Der erweise sich in diesem Punkt als «superguter Partner» und sei gelegentlich sogar ihm selbst ein Stück voraus, sagt Fritsch und erzählt von den Proben zu Dieter Roths dadaistischem Text «Murmel Murmel» vor sieben Jahren an der Berliner Volksbühne. Viele Schauspieler seien damals ziemlich verunsichert gewesen: Der Abend war ein absolutes Novum in der Theater­welt, weil dort tatsächlich neunzig Minuten lang in zig Varianten nur ein einziges Wort gesprochen wurde: «Murmel». Sogar ihn selbst als Regisseur, gesteht Fritsch, habe bei den Proben gelegentlich der Gedanke befallen: «O Gott, was ist das denn für ein Wahnsinn, den wir hier treiben? Das geht ja gar nicht!» Es war Wolfram Koch, der ihn und die Kollegen immer wieder bestärkte: «Ne, Herbert, lass uns da dranbleiben! Lass uns weitermachen!» Fast überflüssig zu erwähnen, dass der Abend ein Riesen­erfolg wurde. Das Stück läuft heute noch – demnächst in Bochum.

Free Jazz

Solche Erfolge feiert Wolfram Koch freilich nicht nur mit Fritsch. Es gibt noch andere wichtige (Arbeits-)Beziehungen in seinem Schauspieler­leben. Wenn er zum Beispiel in Berlin am Deutschen Theater auf der Bühne steht, etwa in Ivan Panteleevs Inszenierungen «Warten auf Godot» oder «Die Zofen», dann tut er das zumeist an der Seite seines Schauspielerkollegen Samuel Finzi. Und zusammen vollführen sie dann etwas, was Finzi einmal auf den lakonischen Punkt «Free Jazz» gebracht hat.

Seit er und Koch vor sechzehn Jahren das erste Mal gemeinsam spielten, gelten sie als Bühnen­traumpaar. Mindestens in Berlin würde sich das Theater­publikum von ihnen sogar mit Hochgenuss das Telefon­buch vorspielen lassen, so legendär sind ihre Auftritte. «Wir erzählen uns vor den Proben und Aufführungen Witze oder reden darüber, was wir gerade erlebt haben», verrät Finzi das Erfolgs­geheimnis. «Worüber wir allerdings nie gross sprechen, das sind die Figuren, die wir spielen, denn das Leben findet auf der Bühne statt.»

Genau wie Finzi ist Koch ein Schauspieler, der nicht einfach etwas Vorgedachtes illustrieren, sondern direkt im Spiel – mit den Kollegen – auf die Suche gehen will. Einer legt vor, der andere reagiert, der Erste nimmt diesen Faden wiederum auf und spinnt ihn weiter – das ist Kochs (Berufs-)Lebens­elixier. Fragt man Finzi, ob es etwas gibt, was seinen Lieblings­kollegen von allen anderen unterscheidet, muss er übrigens nicht lange überlegen: «Wolfram kann auf den Händen laufen!» Koch feierte – dies nur am Rande – vor wenigen Tagen seinen 57. Geburtstag. Aber den Geräte­turner, der er in jungen Jahren war, merkt man ihm immer noch an. Und zwar in erstaunlicher Perfektion.

Auf dem Trampolin

Zum Beispiel in dem Bühnen­schwank «Die spanische Fliege», den Herbert Fritsch 2011 an der Berliner Volks­bühne inszenierte. Dort spielt Wolfram Koch einen (ehe-)moralisch nicht ganz einwandfreien Senf­fabrikanten, der vor seiner Frau kompromittierende Akten verstecken muss. Wie er da auf einem Trampolin, das in einer riesigen Teppich­falte versteckt ist, minutenlang waghalsige Zappel-Salti turnt, nach drei Umdrehungen schliesslich vom Bauch auf den Rücken fällt und wieder zurück, und wie er bei alledem mit angemessenem Angst­schweiss im Gesicht gleichzeitig die Akten­ordner in der Luft jongliert – das ist derart lustig, dass nicht nur das Publikum, sondern auch der Regisseur selbst bis heute «jedes Mal zusammen­bricht vor Lachen».

Das funktioniert aber nur aus einem Grund: Wolfram Koch, der ohne jeden Zweifel zu den witzigsten Schauspielern des Universums gehört, ist nie oberflächlich. Sein Humor ist nur deshalb so umwerfend, weil sich Koch so gut in den Abgründen auskennt. Weil er in diesen hochnot­komischen Verrenkungen im Grunde nur mit grösster Präzision die innere Not nach aussen stülpt, die seine Bühnen­charaktere plagt. Wirklich schwer vorstellbar, dass der Schauspieler Wolfram Koch jemals eine Figur verraten würde. Schon gar nicht an einen billigen Lacher.

Wolfram Koch am Zürcher Schauspielhaus

«Totart Tatort» von Herbert Fritsch hat am 22. Februar Premiere. Bis zum 22. März gibt es sechs weitere Aufführungen. Alle Informationen finden Sie hier.

Zur Autorin

Christine Wahl, geboren 1971 in Dresden, arbeitet seit 1995 als freie Journalistin und Theater­kritikerin unter anderem für den «Tagesspiegel», «Theater heute» und «Spiegel online». Sie war Mitglied in diversen Jurys, aktuell ist sie im Auswahl­gremium für den Mülheimer Dramatiker­preis sowie den Kranichsteiner Literatur­preis. Für die Republik hat sie zuletzt über Simon Stone geschrieben.