Junge Ideen für die Altersvorsorge, sexuelle Übergriffe – und drei starke Frauen
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (58).
Von Andrea Arezina, Urs Bruderer und Dennis Bühler, 23.05.2019
Ein Abstimmungswochenende liegt hinter uns.
Auf schweizweites Interesse stiess vor allem das Abstimmungsresultat über die Kürzung der Sozialhilfe im Kanton Bern. Die Abstimmung galt als wegweisend für ähnliche Vorhaben in anderen Kantonen. Die Berner Stimmbevölkerung lehnte die Kürzung mit 52,6 Prozent ab. Den Ausschlag gaben vor allem die Städte Bern und Biel.
In den nationalen Abstimmungen waren 63,7 Prozent der Stimmenden für die Anpassung des Schweizer Waffenrechts an die EU-Waffenrichtlinie. Nur im Kanton Tessin war eine Mehrheit dagegen. Damit bleibt die Schweiz auch weiterhin Mitglied des Schengen-Raums.
Auch das Paket zur Steuerreform und AHV-Finanzierung (Staf) fand eine Mehrheit: 66,4 Prozent der Stimmbevölkerung sagten Ja. Aus der Sicht der Politik war dies eine der wichtigsten Abstimmungen dieser Legislatur. Jetzt ist der Weg frei, die Schweizer Steuergesetze internationalen Richtlinien anzupassen. Bei der AHV bleiben aber auch nach dieser Abstimmung strukturelle Probleme ungelöst.
Womit wir beim Briefing aus Bern sind.
Jungpolitiker stürzen sich auf die AHV
Worum es geht: Auch wenn nach der Abstimmung vom vergangenen Sonntag nun 2 Milliarden Franken zusätzlich in die AHV-Kasse fliessen, ist eine zusätzliche Reform nötig. Vorschläge kommen auch von jungen Politikerinnen und Politikern.
Was Sie wissen müssen: Die AHV funktioniert nach dem Umlageverfahren. Die jüngeren Arbeitnehmenden finanzieren die Renten der heutigen AHV-Bezügerinnen und -Bezüger. Da jetzt die sogenannte Generation Babyboomer ins Pensionsalter kommt, braucht die AHV eine vorübergehende Zusatzfinanzierung. Die Jungfreisinnigen planen darum eine Initiative, die das Rentenalter für Männer und Frauen auf 66 hochsetzt. In einem Monat entscheiden sie über den genauen Initiativtext. Die Jungen von der GLP verfolgen eigene Ideen. Sie möchten das Rentenalter flexibilisieren und können sich ein Rentenalter 67 für Frauen und Männer vorstellen. Und sie wollen den Reichen die AHV-Rente streichen. Juso-Präsidentin Tamara Funiciello möchte hingegen einen ganz anderen Weg beschreiten und die AHV zur Volkspension ausbauen – und im Gegenzug die zweite Säule kürzen, also die Beitragszahlungen in die Pensionskassen.
Wie es weitergeht: Der entscheidende Reformvorschlag kommt vom Bundesrat. Ende August gibt er ihn ins Parlament. Die Vorschläge der Jungparteien werden wohl allenfalls zum Druckmittel im politischen Seilziehen um die AHV-Reform.
Präsident Switzerland im Weissen Haus
Was bisher geschah: Bundespräsident Ueli Maurer wurde von US-Präsident Donald Trump eingeladen. Es war die erste Einladung ins Weisse Haus für einen Schweizer Bundespräsidenten. Maurer nahm sie an.
Was Sie wissen müssen: Unter guten Freunden hätte man von einer spontanen Idee gesprochen. Am Dienstagabend traf die Einladung in Bern ein – und keine 48 Stunden später stand Ueli Maurer im Oval Office. Im Bundeshaus gab das zu reden. Keine Freude an der Stippvisite des Bundespräsidenten hatte man im Aussendepartement. Ein solcher Besuch sei gut vorzubereiten, sollen Leute dort gewarnt haben. Sie bekamen im Nachhinein recht: Nicht nur, weil Maurer das Gästebuch des Weissen Hauses um einige Rechtschreibfehler reicher machte und CNN ein Interview gab, in dem er in seinem Englisch alles Mögliche sagte, nur das nicht, was er sagen wollte: dass er zu den Fragen der Moderatorin nichts sagen könne. Sondern auch, weil Maurer mit Wirtschaftsfachleuten nach Washington reiste und über ein Freihandelsabkommen reden wollte. Trump aber liess ihn des Iran wegen kommen, gegen den die US-Regierung eine aggressive, eskalierende Politik verfolgt. Die Schweiz vertritt die US-Interessen in Teheran und die des Iran in Washington. Maurer habe die Schweiz mit seinem Besuch bei Trump zu einem Teil von dessen Inszenierung im Iran-Konflikt gemacht, sagt Tim Guldimann, der Schweizer Ex-Botschafter in Teheran.
Wie es weitergeht: Wenn Ueli Maurer recht hat, ist ein Freihandelsabkommen mit den USA in Reichweite. Er sprach nach dem Treffen von einem wichtigen Schritt und davon, dass Trump dem Abkommen gegenüber positiv gesinnt sei und es schneller abschliessen wolle als jenes mit der EU. Doch Trump dankte der Schweiz lediglich für ihren Beitrag zu den diplomatischen Beziehungen der USA. Offen ist auch, wie Maurers Handelsdiplomatie mit den USA und kürzlich China bei der EU ankommt, dem mit Abstand wichtigsten Wirtschaftspartner der Schweiz.
Sexuelle Übergriffe sind häufig. Und häufig folgenlos
Worum es geht: In der Schweiz kommt es oft zu sexuellen Übergriffen. Jede fünfte Frau ab 16 Jahren hat schon mindestens einen Übergriff erlebt. Und jede neunte Frau hatte Sex gegen ihren Willen. Das zeigt eine vom Berner Forschungsinstitut GFS im Auftrag von Amnesty International durchgeführte Umfrage bei 4500 Frauen, die am Dienstag vorgestellt wurde. Die Dunkelziffer ist hoch: Fast die Hälfte der Frauen gab an, den Vorfall für sich behalten zu haben; nur 8 Prozent erstatteten Anzeige.
Das müssen Sie wissen: Nach Schweizer Strafrecht handelt es sich bei sexueller Gewalt nur dann um eine Vergewaltigung, wenn der Täter sein Opfer bedroht, Gewalt anwendet, es unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht. Liegt kein solches sogenanntes Nötigungsmittel vor, gilt die Tat in der Schweiz nicht als schweres Delikt – auch wenn das Opfer Nein gesagt hat. Dann kommt nur der Tatbestand der sexuellen Belästigung infrage, der nur auf Antrag verfolgt wird. Mit einer Petition an den Bundesrat fordert Amnesty International nun einen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht. Auch die Istanbul-Konvention, der sich die Schweiz angeschlossen hat, sieht vor, dass die fehlende Einwilligung im Mittelpunkt jeder rechtlichen Definition von Vergewaltigung und anderen Formen sexueller Gewalt steht.
So geht es weiter: Das Parlament behandelt zurzeit vom Bundesrat vorgeschlagene Änderungen im Sexualstrafrecht, die allerdings nicht weit genug gehen. Das Kriterium der Einwilligung fehlt. Womit ein Nein auch in Zukunft nicht unbedingt Nein heissen wird.
Lesen Sie mehr dazu: «Nein!» – wie die Juristin Nora Scheidegger für eine Modernisierung des Sexualstrafrechts kämpft.
KKS übernimmt
Worum es geht: Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat mit ihrem ersten Medienauftritt nach einer Bundesratskonferenz Aufsehen erregt. Offiziell ging es um ein Paket von Massnahmen zugunsten älterer, arbeitsloser Personen. Wer über 60 Jahre alt ist und keinen Job mehr findet, soll nicht mehr in die Sozialhilfe abrutschen, sondern bis zum AHV-Alter Überbrückungsleistungen erhalten.
Was Sie wissen müssen: Vergangenes Jahr hätten nur etwa 1600 Personen die Bedingungen für eine Überbrückungsleistung erfüllt. Doch Keller-Sutter verfolgt mit diesem Vorschlag mehr als die Bekämpfung einer sozialen Härte. Sie erklärte die sozialen Massnahmen zu einem Mittel für die Bekämpfung der Kündigungsinitiative der SVP. Bei einem Ja würde die Schweiz die Personenfreizügigkeit mit der EU aufgeben – und damit den bilateralen Weg. Die Justizministerin signalisierte damit auch ihren Anspruch, bei der Europapolitik mitzureden. Und als wäre das nicht schon genug, hat Keller-Sutter auch noch geschafft, was den freisinnigen Bundesräten Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis gründlich misslang: Sie hat Arbeitgeber und Gewerkschaften für ihre Vorschläge gewinnen können. Auf die Sozialpartner wird der Bundesrat in der Europapolitik auch in Zukunft angewiesen sein.
Wie es weitergeht: Keller-Sutters Massnahmen gehen im Juni in die Vernehmlassung, danach müssen sie durchs Parlament. Auch die Kündigungsinitiative war noch nicht im Parlament. Über sie wird frühestens in einem Jahr abgestimmt.
Amherd legt sich mit der Industrie an
Worum es geht: Der Bundesrat hat über das Vorgehen bei der geplanten Rundumerneuerung der Armee entschieden. Anders als ursprünglich beabsichtigt, wird er die beiden anstehenden teuren Beschaffungen dem Parlament gesondert vorlegen, womit die Bevölkerung nur über einen Teil wird mitbestimmen können: über den Kauf von 40 Kampfjets für maximal 6 Milliarden Franken. Nicht an die Urne gelangen wird der Kauf einer bodengestützten Luftverteidigung (Bodluv) für 2 Milliarden Franken. Und: In beiden Fällen sollen die bei Rüstungsbeschaffungen im Ausland üblichen Kompensationsgeschäfte reduziert werden. Wer der Schweiz Waffen verkaufte, musste im Gegenzug bei Schweizer Unternehmen für ebenso viel Geld einkaufen. Diesmal sollen nur noch 60 Prozent des Auftragsvolumens kompensiert werden.
Das müssen Sie wissen: Mit der weitgehend unbestrittenen Auftrennung des Beschaffungspakets macht die neue VBS-Chefin Viola Amherd (CVP) einen Entscheid ihres Vorgängers Guy Parmelin (SVP) rückgängig, der weitherum für Kopfschütteln sorgte. Umstrittener ist die Reduktion der Kompensationsgeschäfte. Die Schweizer Industrie klagt bereits laut, weil ihr dadurch Aufträge in Höhe von Hunderten Millionen Franken verloren gehen. Dafür wird das Portemonnaie der Steuerzahler geschont: Gemäss Amherd dürfte der Kaufpreis der Jets sinken, weil die ineffizienten und korruptionsanfälligen Gegengeschäfte die Beschaffung in aller Regel verteuerten.
So geht es weiter: Obwohl sie viel lieber ein anderes Departement übernommen hätte, scheint sich Viola Amherd im VBS erstaunlich wohlzufühlen. «Anfangs habe ich Leute getroffen, die wahrscheinlich gedacht haben: Ja, was kommt jetzt da für eine, die hat doch keine Ahnung von der Armee», sagte die neue Bundesrätin der NZZ in einem bemerkenswert ehrlichen Interview, «aber sie haben mich unterstützt und gemerkt, dass ich mich einsetze und mit neuen Ideen komme. Das kommt gut an. Es wäre eigentlich schade, wenn ich nicht im VBS gelandet wäre.» Unwahrscheinlich, dass Amherds Elan bald gebremst wird. Erste Reaktionen der Parteien lassen erwarten, dass ihre Kampfjet- und Bodluv-Pläne im Parlament eine Mehrheit finden werden.
Tamy Glauser passt in keine Schublade
Sie will. Und sie darf. Die Zürcher Grünen haben das lesbische Schweizer Model auf ihre Liste für die Nationalratswahl im Herbst aufgenommen, und zwar auf Platz zehn. Prominenten ist der Quereinstieg in die nationale Politik schon öfter gelungen. Einige ehemalige Journalisten sitzen unter der Bundeshauskuppel, auch der verstorbene Pfarrer Ernst Sieber verbrachte einige Jahre im Nationalrat. Bekanntheit hilft – offen ist, ob auch einem Model. Offen ist auch, ob Glauser Wahlkampf machen wird. Und wo genau sie steht. Wer sie wegen ihrer Vielfliegerei kritisiere, solle ihr erst mal nachmachen, dass sie vegan lebe, keine neuen Kleider kaufe und auf kleinem Raum lebe, sagte sie in einem Interview. Politisiert habe sie ihr Gerechtigkeitssinn, kämpfen wolle sie für die Rechte von LGBT+-Menschen und Frauen. Und statt 8 Milliarden Franken für den Verkehr auszugeben, soll die Schweiz das erste massentaugliche Flugzeug erfinden, das kein CO2 ausstösst. Tamy Glauser, nur so viel ist sicher, passt auch bei den Grünen in keine Schublade. Oder in alle: Sie ist Fundi, Reala und Mitglied der Spass- und der Moralfraktion zugleich. Sie ist nicht einfach anders. Sondern auch anders anders, wie die Republik kürzlich feststellte.