Nein!
In der Schweiz macht ein Nein allein noch lange keine Vergewaltigung. Die Juristin Nora Scheidegger will das ändern. Sie hat eine Idee, wie man das Sexualstrafrecht erneuern müsste.
Von Carlos Hanimann (Text) und Cyrill Matter (Bild), 22.08.2018
Es geschah in der Nacht von Samstag auf Sonntag. An jenem Wochenende Ende Oktober 2006 gingen im Kanton Wallis ein Mann und eine Frau gemeinsam aus. Gegen Ende des Abends war er etwas angetrunken. Sie nicht. Die beiden kehrten in seine Wohnung zurück, wie sie es schon einige Male getan hatten. Denn sie waren früher einmal ein Paar gewesen. Was dann geschah, schilderte das Bundesgericht drei Jahre später so: Der Mann «vollzog in den frühen Morgenstunden des 29. Oktober 2006 gegen den Willen [der Frau] vaginalen Geschlechtsverkehr, drang mit Finger und Penis anal in sie ein und verkehrte anschliessend nochmals vaginal mit ihr. In einer zweiten Phase, ca. morgens um 8 Uhr, kam es erneut zu vaginalem Geschlechtsverkehr.»
Die drei entscheidenden Wörter verstecken sich in der technischen Beschreibung des Geschehenen. Sie lauten: gegen den Willen. Die Frau wollte keinen Sex. Erste Annäherungsversuche wehrte sie ab. In der Nacht, als der Mann anal in sie eindrang, schrie sie auf und verpasste ihm eine Ohrfeige. Am Morgen, als er erneut gegen ihren Willen «Geschlechtsverkehr vollzog», weinte sie bloss noch und beschimpfte ihn als «Arschloch». Er aber legte den Arm um sie und sagte, das sei «das letzte Mal».
War das, was in jener Nacht geschah, eine Vergewaltigung?
Selber schuld?
Nora Scheidegger hat viel über diesen Fall nachgedacht. Er war es, der sie dazu bewog, sich wissenschaftlich vier Jahre lang mit fast nichts anderem als Vergewaltigungen, sexuellen Nötigungen und Schändungen zu beschäftigen. Und immer wieder mit der gleichen Frage: War das strafbar?
Scheidegger empfängt in einem Sitzungszimmer der Universität Bern. Die 31-Jährige ist Juristin, Mutter, Oberassistentin am Institut für Strafrecht und Kriminologie. Im Frühling promovierte sie an der Universität Bern bei Strafrechtsprofessor Martino Mona, voraussichtlich im Oktober erscheint ihre Dissertation. Sie arbeitet gerade am letzten Feinschliff, macht finale Korrekturen, bevor die über 400 Seiten in Druck gehen. Der Titel der Doktorarbeit: «Das Sexualstrafrecht in der Schweiz. Grundlagen und Reformbedarf» klingt trocken. Der Inhalt aber hat es in sich. Denn er stellt nicht weniger als die geltende Ordnung infrage.
«Dieser Fall aus dem Jahr 2006 war für mich eindeutig», sagt Scheidegger. Eine Frau sagt Nein, sie nennt ihn Arschloch und weint, während er sich nimmt, was er will – wie kann das keine Vergewaltigung sein?
Das Bundesgericht sah das anders. Zwar anerkannte auch das höchste Gericht, dass die Vorgänge in jener Nacht nicht einvernehmlich geschahen. Und doch sprach es den Mann vom Vorwurf der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung frei. Vom Mann war laut Gericht keine Gewalt ausgegangen, keine Drohung, er hatte sie auch nicht unter psychischen Druck gesetzt. Der Frau wäre es zuzumuten gewesen, sich zu wehren, fand das Gericht. Sie hätte das Zimmer aufschliessen und verlassen können, da der Schlüssel im Schloss der Zimmertüre steckte.
«Selber schuld. Hättest halt was dagegen machen müssen.» – So las Scheidegger das Urteil damals. Das irritierte sie: Ist Geschlechtsverkehr gegen den Willen einer Person nicht strafbar? Heute, nachdem sie sich mit vielen ähnlichen Fällen befasst und fast jedes Bundesgerichtsurteil der letzten fünfzehn Jahre studiert hat, lautet ihre ernüchternde Antwort: jedenfalls nicht unbedingt als Vergewaltigung.
Das Problem liege nicht in der Rechtsprechung, sagt Scheidegger. Die Gerichte nutzten ihren Spielraum, sie versuchten, auch Fälle in der Grauzone zu erfassen. «Die Gerichte gehen ziemlich weit. Schon wenig Körpereinsatz gilt als Gewalt.» Im erwähnten Fall hätte es laut Bundesgericht wohl gereicht, wenn die Frau die Beine zusammengepresst und der Mann sie wieder grob gespreizt hätte. Die rechtliche Situation sei dennoch unbefriedigend: «Es ist ein ständiges Wursteln und Herumschlängeln, weil dem Gesetz die Klarheit fehlt.» So grundlegende Fragen dürften nicht dem Ermessen der Gerichte überlassen werden, sie müssten schon im Gesetz festgeschrieben sein. «Es fehlt der Grundtatbestand: Nirgends steht, dass sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person ein erhebliches Unrecht darstellen.»
Nora Scheidegger will, dass das nun geändert wird.
Neben Sexualdelikten gegen Minderjährige sind im Schweizer Sexualstrafrecht insbesondere die «Angriffe auf die sexuelle Freiheit und Ehre» zentral. Darunter fallen die Vergewaltigung, die sexuelle Nötigung oder die Schändung. Ergänzt werden diese Delikte durch Ausnützungstatbestände und Übertretungen wie sexuelle Belästigung.
Für eine sexuelle Nötigung oder eine Vergewaltigung muss laut Gesetz immer ein Nötigungsmittel vorliegen: Der Täter muss also drohen, Gewalt anwenden, unter psychischen Druck setzen oder zum Widerstand unfähig machen. Liegt kein Nötigungsmittel vor, gilt die Tat nicht als schweres Unrecht – auch wenn ein Opfer klar Nein gesagt hat. Die Tat ist in der Schweiz aber – anders als in der alten deutschen Gesetzgebung – nicht ganz straflos, sondern kann unter Umständen als sexuelle Belästigung geahndet werden. Als Vergewaltigung gilt ein Delikt nur, wenn «eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs» genötigt wird. Künftig soll der Tatbestand geschlechtsneutral gefasst werden.
Die Juristin Nora Scheidegger schlägt vor, einen Grundtatbestand einzuführen, auf dem alle anderen Sexualdelikte aufbauen würden. Sexuelle Handlungen gegen den Willen («Nein heisst Nein») oder gar sexuelle Handlungen ohne Einwilligung («Ja heisst Ja») würden damit schon im Gesetz zu Straftaten erklärt.
Schrille Debatten
Die Debatten rund um die Verschärfung des Sexualstrafrechts in Deutschland im Frühsommer 2016 oder in Schweden letzten Dezember haben es gezeigt: Widerstand ist programmiert. Wann immer das Sexualstrafrecht zur Diskussion steht, sind die Fronten sofort verhärtet: hier die Dinosaurier, für die jede Modernisierung ein Sakrileg darstellt, da die Eilfertigen, die jeden Übergriff über einen Kamm scheren wollen.
Scheidegger sagt, sie beschreite einen vernünftigen Mittelweg. Die Vorschläge der Berner Juristin sind simpel: Ausgehend davon, dass jeder Mensch ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung hat, soll ein Grundtatbestand eingeführt werden, der sexuelle Handlungen ohne Einwilligung unter Strafe stellt. Anders gesagt: Ein Nein soll endlich Nein heissen. Oder noch besser: Nur ein Ja wirklich ein Ja.
Im Wesentlichen gibt es zwei Einwände, die immer fallen: Beweisschwierigkeiten und Falschbeschuldigungen. Scheidegger hält beide Einwände an sich für berechtigt. Nur hätten sie mit einer Anpassung des Gesetzes wenig zu tun.
Natürlich wüssten meist nur zwei Menschen, was sich in einer Nacht zwischen ihnen abgespielt hat, und manchmal nicht mal sie. «Das ist aber schon heute so», sagt Scheidegger. Es sei nicht einfach, ein Sexualdelikt nachzuweisen. Und hin und wieder komme es auch zu Falschbeschuldigungen (Scheidegger schätzt die Quote aufgrund existierender Studien auf rund 10 bis 15 Prozent aller Anzeigen). Aber deswegen könne man doch nicht auf Gesetze verzichten: «Gesetze sind nicht nur Strafnormen, sondern auch Verhaltensregeln für die Gesellschaft: Was ist erlaubt und was nicht?»
Es scheint schwierig zu sein, das Thema sachlich zu diskutieren. Fast so, als könnte Sex ohne Zutun in den Übergriff übergehen, als würde jede sexuelle Annäherung zwangsläufig mit einem «Du willst es doch auch» beginnen. Verfolgte man etwa die Debatten in Deutschland und Schweden, erhielt man bisweilen den Eindruck, Männern würde ein angeborenes Recht genommen, wenn sie ein Nein akzeptieren müssten. Die deutsche Debatte zur «Nein heisst Nein»-Regel lief zeitweise aus dem Ruder: Gegnerinnen der Reform glaubten den Rechtsstaat am Ende, während andere eine Aufhebung der Unschuldsvermutung und die Umkehr der Beweislast forderten. Nun gilt: Wer eine sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen einer Person vornimmt, macht sich strafbar. Bis heute ist Deutschland deswegen nicht untergegangen.
Noch schriller war die Aufregung über das sogenannte Einverständnis-Gesetz, das in Schweden diesen Sommer in Kraft gesetzt wurde. Als dort im Dezember angekündigt wurde, sexuelle Handlungen ohne Einwilligung unter Strafe zu stellen, sorgte das in ganz Europa für Spott und Häme. Zeitungen beschrieben den Vorgang als etwas Unerhörtes. Vieles in den Meldungen war übertrieben, einiges komplett falsch.
Scheidegger schüttelt den Kopf. Sie ärgert sich noch heute masslos darüber. Nicht, weil das schwedische Einverständnis-Gesetz Unsicherheit bei einigen Männern auslöste. Sondern weil sich so viele Kommentatoren so dumm anstellten. «Nein, man muss keinen Vertrag aufsetzen, wenn man mit seiner Frau schlafen möchte. Nein, man muss keinen Notar mitnehmen.» Es gelte vielmehr der einfache Grundsatz: Sex nur mit Einwilligung (die natürlich auch wortlos schlüssig erteilt werden kann). Sie sieht nicht ein, was daran verkehrt sein soll. «Wenn es zu viel verlangt ist, im Zweifel auch mal zu fragen: ‹Hey, ist das okay für dich?› – dann sollte man vielleicht einfach keinen Sex haben.»
Scheidegger greift über den Tisch, schnappt sich das Handy des Gegenübers und steckt es ein. «Es ist doch simpel: Ich darf Ihnen das Handy nicht einfach wegnehmen. Das ist Diebstahl. Sie müssen nicht Nein sagen, Sie müssen auch nicht um Ihr Handy kämpfen. Es ist an mir, zu fragen, ob ich es nehmen darf. Warum soll das im Sexualstrafrecht nicht gelten?»
Veraltete Vorstellungen
Ende April veröffentlichte der Bundesrat die Botschaft zur laufenden Strafrechtsrevision. Künftig sollen die Mindeststrafen bei Vergewaltigungen erhöht und der Tatbestand geschlechterneutral gefasst werden. Denn rechtlich gesehen können Männer heute nicht vergewaltigt werden. Nur die vaginale Penetration unter Zwang gilt in der Schweiz als Vergewaltigung. Nötig sind dafür Gewalt, Drohung oder psychischer Druck. Orale, anale Penetrationen oder andere sexuelle Handlungen unter Zwang gelten als sexuelle Nötigung.
Scheidegger begrüsst die geplante geschlechterneutrale Fassung. Sie ist längst überfällig. Doch von einem zeitgemässen Sexualstrafrecht bleibe die Schweiz weit entfernt. Scheidegger befürchtet sogar, dass die Revision sich als Bumerang erweisen könnte. Erhöhte man die Mindeststrafen für Vergewaltigungen von einem auf zwei Jahre Freiheitsstrafe, könnte sich das auf die Rechtsprechung auswirken: Die Gerichte könnten den Tatbestand der Vergewaltigung enger auslegen und mehr Freisprüche fällen. Die Absicht, Vergewaltigungen härter zu bestrafen, würde ins Gegenteil verkehrt – gar keine statt höhere Strafen.
Ohnehin ist die Revision für Scheidegger eine verpasste Chance: Man dreht an einzelnen Schrauben, statt grundsätzlich zu überarbeiten. Und dafür wäre es längst Zeit. Scheidegger ist in ihrer Dissertation den Grundlagen des Sexualstrafrechts nachgegangen und hat sie radikal hinterfragt: Worauf gründen unsere veralteten und falschen Vorstellungen von Vergewaltigungen? Woher kommen unsere Überzeugungen, wie sich ein Opfer eines Sexualdelikts zu verhalten habe? Warum kann nur eine vaginale Penetration eine Vergewaltigung sein? Was hat das alles mit Ehre zu tun? Warum ist es nicht Gesetz, dass unfreiwilliger Sex kein Sex ist, sondern ernst zu nehmender Übergriff? Also: Warum heisst Nein in der Schweiz auch im Jahr 2018 nicht immer Nein?
Raub, aber kein Diebstahl
Manchmal fragten sie ihre Freunde: «Wie kannst du dich nur den ganzen Tag mit solchen Dingen herumschlagen?» Aber Scheidegger stellte sich diese Frage nie. Auch wenn sie so lange und so tief in menschliche Abgründe sah, dass sie nachts davon träumte. Klar, die Fälle gingen ihr bisweilen nah, aber ihr Blick darauf war stets nüchtern, kühl, analytisch: Früher, als sie die Schicksale als Reporterin im Gerichtssaal verfolgte. Später, als sie als Praktikantin bei der Staatsanwaltschaft arbeitete. Heute, wo sie die Fälle wissenschaftlich untersucht.
Bei ihren Arbeiten fiel Scheidegger auf, wie sehr sich die Massstäbe im Sexualstrafrecht von anderen Bereichen unterschieden. Dass man höhere Anforderungen stellt. Dass der Umgang mit Opfern zu wünschen übrig lässt. Dass veraltete Vorstellungen noch immer sehr stark wirkten. Für die heutige Rechtslage hat Scheidegger denn auch nur ein Wort übrig: «vorsintflutlich».
Da sind zum Beispiel die Begriffe im Gesetz, wo von «Schändung» (also Schande) und «Ehre» die Rede ist. Da sind die übertriebenen Erwartungen, mit denen sich Opfer konfrontiert sehen. Weil früher aussereheliche sexuelle Handlungen als Unzucht bestraft wurden und der Ehebruch stigmatisiert war, verlangte man von einer Frau, dass sie ihre Ehre verteidigt und sich gegen einen Übergriff wehrt. Tat sie das nicht, war sie selber Täterin: Sie machte sich des Ehebruchs schuldig. «Daraus entstand die bis heute herrschende Vorstellung, dass Frauen eine Art Notwehrpflicht hätten: Wenn sich die Frau nicht ordentlich wehrte, blaue Flecken und zerrissene Kleider davontrug, war sie wahrscheinlich selber ein unehrenhaftes Wesen und konnte kein Opfer sein.»
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Vergewaltigung, der den Blick auf die Gewalt lenkt. Scheidegger hält das für irreführend. Denn entscheidend sei nicht die Gewalt, sondern die Tatsache, dass kein Einvernehmen herrscht. «Gewalt mag das Unrecht erhöhen und Einfluss auf die Strafe haben. Aber es ist nicht das Entscheidende. Das zentrale Unrecht ist, dass im intimsten Bereich der Wille einer Person missachtet wird.» Dieses Recht auf sexuelle Selbstbestimmung sei in der Schweiz aber zu wenig geschützt: «Man kann es vielleicht so vergleichen: Das Gesetz kennt den Raub, nicht aber den einfachen Diebstahl. Wir bestrafen die Vergewaltigung, nicht aber die sexuelle Handlung gegen den Willen einer Person.»
Ein gefährlicher Ort?
Demnächst wird das Parlament mit den Beratungen zu den geplanten Änderungen im Sexualstrafrecht beginnen (lesen Sie dazu auch Marcel Alexander Nigglis Analyse Teil I, Teil II und Teil III). Das schafft Raum für eine breite Diskussion. Scheidegger hofft, dass jetzt endlich auch in der Schweiz darüber diskutiert wird, ob Sex ohne Einvernehmen in jedem Fall als Verbrechen strafbar sein sollte. Die Widerstände sind ihr gewiss. Aber Nora Scheidegger will sich davon nicht beeindrucken lassen. Ihre Forderung klingt ja auch wie eine Selbstverständlichkeit: Sex nur dann, wenn ihn die Beteiligten wollen. «Warum stellt man sich bei diesem Thema so an?»
Scheidegger rechnet fast damit: Der Ruf nach einer grundlegenden Reform dürfte viel Unbehagen auslösen. Man erinnert sich an die deutsche Debatte, an die Heftigkeit, mit der gegen eine «Nein heisst Nein»-Regel angeschrieben wurde: Das Schlafzimmer werde zum gefährlichen Ort für unbescholtene Männer, warnte damals die «Zeit». Dazu sagt Nora Scheidegger: «Gehört es denn zum gutschweizerischen Schlafzimmer dazu, dass man nichteinvernehmlichen Sex hat? Wenn ja: Dann wird das Schlafzimmer wirklich zum gefährlichen Ort. Und das ist auch gut so.»
Nora Scheidegger: «Das Sexualstrafrecht in der Schweiz. Grundlagen und Reformbedarf». Stämpfli/Nomos, 412 Seiten, ca. 78 Franken, erscheint voraussichtlich im Oktober.
Debatte: Braucht das Sexualstrafrecht eine «Nur Ja heisst Ja»-Regel?
Soll Sex ohne Einvernehmen in jedem Fall strafbar sein? Darf man den Umgang mit Raub und Diebstahl sowie jener mit Vergewaltigung und sexueller Handlung ohne Einvernehmen überhaupt vergleichen? Und was denken Sie über das Argument der umgekehrten Beweislast? Diskutieren Sie ab 13 Uhr mit Nora Scheidegger über ihre Ideen.