Reza – hier an einer Bushaltestelle in Urdorf – ist aus dem Iran geflüchtet, weil ihm als Schwulem dort die Todesstrafe droht. Heute wäre er bereit, zurückzugehen und eine Frau zu heiraten. Doch seine Familie will ihn nicht mehr sehen. Annick Ramp

Letzte Hoffnung Härtefall

Reza ist seit zehn Jahren illegal in der Schweiz. Die Härtefall­regelung wäre sein Ticket aus der Perspektiv­losigkeit. Doch die Anforderungen sind streng, die Chancen klein. Und manchmal verlässt ihn die Kraft. Teil 3.

Von Adelina Gashi (Text), Annick Ramp und Simon Tanner (Bilder), 22.04.2019

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«Wenn man sich anständig in der Schweiz verhält, kommt man nicht nach Urdorf», sagt Mario Fehr. «Und wenn ich mir eine politische Bemerkung erlauben darf, erstaunt mich das Engagement für sie [die abgewiesenen Asyl­suchenden, Red.] ein bisschen, denn es hat relativ heftige Straffälle dort.» Dann blickt Fehr erwartungsvoll in die Runde.

Es ist November 2018, der Zürcher Sicherheits­direktor Mario Fehr hat zur Medien­konferenz eingeladen. Er will das neue Asyl­gesetz vorstellen, das im März 2019 in Kraft tritt. Thema sind auch die Zahlen aus dem Asyl­bereich: 2018 lebten im Kanton Zürich 17’226 Geflüchtete. Im Jahr 2017 waren es noch 16’851.

651 Menschen beziehen zurzeit Nothilfe, sind also abgewiesen worden, sagt Fehrs Migrations­chef Urs Betschart. «Vergangenes Jahr kamen 88 der Abgewiesenen in den Genuss der Härtefall­regelung.» Als Härtefälle gelten unter anderem abgewiesene Asyl­suchende, die sich in einer persönlichen Notlage befinden. Ihnen kann in Ausnahme­fällen eine Aufenthalts­bewilligung gewährt werden.

Die Voraussetzungen für ein Härtefall­gesuch sind streng: Die Person muss sich seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz befinden, ihre Melde­adresse muss den Behörden immer bekannt gewesen sein, sie muss integriert sein und darf sich in den letzten fünf Jahren nichts zuschulden kommen lassen haben.

Jemand, der von so einem Härtefall­entscheid träumt, ist Reza.

Das «Thema»

Reza trägt ein blau gemustertes Hemd, Jeans und Chucks. Er hat dunkles, kurz geschnittenes Haar und warme braune Augen. Es war nicht einfach, ihn zu treffen: Immer wieder liess er Verabredungen platzen, tauchte nicht auf oder sagte kurzfristig ab. Jetzt sitzen wir ihm endlich gegenüber, einmal mehr im Kebab­laden beim Zentrum Spitzacker.

«Ich bin schwul», sagt er über seinen Flucht­grund. «Na ja, mittlerweile bisexuell.» Er lacht nervös. Er spricht nicht gerne über seine Sexualität, und wenn, dann nennt er es immer bloss «meine Sache» oder «mein Thema».

Bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr lebte Reza im Iran. Er gehört zur kurdischen Minderheit im Land. Seine Familie lebt in einer Stadt im Westen des Landes, an der Grenze zum Irak.

Als er fünfzehn ist, erwischt ihn sein Bruder mit einem Freund im Zimmer. Die beiden liegen bloss da, sehen gemeinsam fern. Aber den Bruder macht stutzig, dass Reza die Tür abgeschlossen hat. Er stellt die beiden zur Rede. Rezas Freund bekommt Angst. Er gesteht, dass sie ein Paar sind.

Der Bruder wird wütend, schlägt Reza und droht damit, es dem Vater zu erzählen. Reza flieht in eine Moschee. Nach einer Woche will seine Familie, dass er zurückkehrt. Reza hofft, dass der Ärger verflogen ist. Aber als er nach Hause kommt, merkt er, dass die Familie Reza nicht akzeptiert. Nicht so. Sein Zuhause wird für ihn zur Hölle auf Erden. Reza wird beschimpft und geschlagen. Sein Vater droht damit, ihn umzubringen.

«Es wurde jeden Tag schlimmer. Meine Mutter war machtlos. Sie konnte nur zusehen. Einmal warf mein Vater mit einer Schaufel nach mir, traf mich am Kopf, ich blutete stark. Ihm war das egal.»

Für seine Familie ist Reza eine Schande. Er hält es zu Hause nicht mehr aus und fasst den Entschluss zu fliehen. Das war vor etwa zehn Jahren.

Flucht

Mit 300 Dollar im Sack reist Reza nach Istanbul. Dort ruft er seine Familie an und sagt ihnen, dass er nicht mit Freunden zum Picknick gefahren sei, sondern geflohen. Er werde nicht zurückkehren.

Reza reist weiter über Griechenland und den Balkan. Neun Monate ist er unterwegs. In Griechenland wird er von Schleppern festgehalten und in einen Keller gesperrt, weil er zu wenig Geld hat. Sie zwingen ihn, seinen Vater anzurufen, und verlangen 10’000 Euro Lösegeld. Andernfalls würden sie ihn umbringen. Rezas Vater zahlt.

Die Urdorfer Chilbi lockt im September 2018 mit wilden Bahnen, Plüschtieren und blinkenden Lichtern. Simon Tanner

Eigentlich will Reza nach England. Doch als er über Italien in die Schweiz einreist, nehmen die Grenz­wächter seine Finger­abdrücke und registrieren ihn im Dublin-System. Die Schweiz ist nun als Erst­ankunfts­land zuständig für Rezas Asylgesuch. Sie muss ihn aufnehmen, bis sein Antrag geprüft ist. Damit endet seine Flucht 2008 in Chiasso. Reza bleibt in der Schweiz.

Aber kurz nach seiner Ankunft macht Reza einen Fehler.

Nach seiner Versetzung nach Glattbrugg bei Zürich wird Reza ein erstes Mal befragt. Er sagt, er sei geflohen, weil seine Familie und er politisch verfolgt würden. Eine falsche Aussage.

Es stimmt zwar, dass sich Rezas älterer Bruder für die kurdische Minderheit im Iran eingesetzt hatte, deswegen ins Gefängnis kam, gefoltert wurde und starb. Aber der Rest der Familie war deshalb nicht in Gefahr.

Die Behörden merken, dass Reza nicht die Wahrheit sagt, und lehnen seinen Asylantrag ab. Er legt Rekurs ein, gibt später den wahren Flucht­grund an, geht bis vor das Bundes­verwaltungs­gericht. Aber auch dort heisst es, dass er nicht glaubwürdig sei. Denn Reza hat beim ersten Mal gelogen.

Bis 2015 kämpft er gegen das Urteil. In Zürich besucht er die Treffen von Queeramnesty, der Unter­gruppe von Amnesty International für LGBT-Rechte. Dort erhält er viel Rückhalt, findet Freunde, die mit ihm Wanderungen unternehmen und ihn zu Abend­essen einladen. Sie schreiben Referenz­briefe für ihn. Aber es nützt nichts. Auch im zweiten Anlauf wird Rezas Asyl­antrag abgelehnt.

Heimweh

Reza wird von einer Unterkunft zur nächsten geschoben, muss immer wieder wegen illegalen Aufenthalts ins Gefängnis. Dann begeht er «eine Dummheit», wie er sagt.

«Ein Bekannter aus der Not­unterkunft in Glattbrugg wollte Gras kaufen. Ich vermittelte ihm den Kontakt zu einem Bekannten. Ich habe kein Gras gekauft, aber wir gingen gemeinsam hin, wurden gemeinsam erwischt.» Reza kommt für mehrere Monate ins Gefängnis nach Realta in Graubünden.

Seit Sommer 2018 ist er nun in Urdorf. Und langsam verliert er die Hoffnung. Vor wenigen Wochen hat er seinen Vater angerufen, um ihn zu fragen, ob er nicht vielleicht doch wieder nach Hause kommen könne. «Ich war sehr traurig. Meine Situation ist aussichtslos. Es geht einfach nicht weiter so. Aber mein Vater will nicht, dass ich zurückkomme.» Für ihn ist es unverzeihlich, dass sein Sohn schwul ist. Im Iran steht auf lesbische und schwule Beziehungen die Todesstrafe.

Reza ringt um Worte. Es ist ihm unangenehm, über seine Vergangenheit, seine Familie zu sprechen. Er blickt in den Kaffee und sagt leise: «Ich habe ihm sogar gesagt, ich würde eine Frau heiraten. Aber er will mich nie wieder sehen.»

Therapie

Reza geht es zurzeit nicht gut. «Eigentlich will ich ein Härtefall­gesuch einreichen. Aber ich schaffe es gerade nicht, mich aufzuraffen und die Sache in Angriff zu nehmen.» Seit einer Weile schon ist er in Therapie. «Ich nehme Anti­depressiva. Urdorf setzt mir zu. Na ja, die ganze Situation.» Reza will sich versetzen lassen, Urdorf tue ihm nicht gut. Im Bunker hat er keine Freunde. «Ich habe Angst, mit den anderen über meine Situation zu reden. Es ist eng. Die Leute sind laut, manchmal aggressiv.»

Tagsüber, wenn die meisten seiner Mitbewohner unterwegs sind, schläft Reza in der Regel. Abends spaziert er im Dorf. Über die Dorf­grenzen hinaus darf Reza nicht. Er ist eingegrenzt, seit er vergangenen Sommer nach Urdorf kam. Seit 2017 gelten für abgewiesene Asyl­suchende im Kanton Zürich verschärfte Regeln. Damit sollen Menschen wie Reza unter Druck gesetzt werden, um sie zur Ausreise zu bewegen. Sie können mit Rayon­verboten beziehungsweise Eingrenzungen belegt werden und müssen sich zweimal täglich in ihrer Asyl­unterkunft melden, um weiter Not­hilfe zu erhalten.

Als Nothilfebezüger erhält Reza seine 8.50 Franken am Tag, eine Unterkunft, Kleider, Hygiene­artikel – und für die medizinische Versorgung wird auch gesorgt. In Rezas Fall ist das eine Therapie. Für den Termin bei seiner Therapeutin darf er auch ausnahmsweise nach Zürich fahren.

Für eingegrenzte Personen ist hinter der Gemeindegrenze nichts mehr. Simon Tanner
Hier ist fertig: Wer ein Rayonverbot missachtet, muss mit Gefängnis rechnen. Simon Tanner

Vergangenes Jahr wollten die AL-Kantons­rätin Laura Huonker und ihr Partei­kollege Manuel Sahli vom Regierungs­rat wissen, wie der Kanton damit umgehe, dass viele abgewiesene Asyl­suchende aufgrund der Isolation in den Not­unterkünften mit psychischen Problemen kämpften. Die Antwort des Regierungs­rats: «Die Gesundheits­versorgung dieser Personen ist jederzeit gewährleistet.»

Hoffnung

Ein paar Wochen später erhalten wir von Reza eine Nachricht. Er sei nach Glattbrugg versetzt worden. Wir besuchen ihn.

In der Nähe des Bahnhofs setzen wir uns mit ihm in ein Café. Er wirkt entspannt, lächelt. Vor uns sitzt ein anderer Reza als der, den wir wenige Wochen vorher getroffen haben. Er sagt: «Ich kann endlich wieder in Ruhe schlafen. Wir haben hier ein bisschen mehr Platz und Privatsphäre.»

Reza hatte schon früher versucht, sich versetzen zu lassen, war aber immer gescheitert. Dieses Mal lief es anders. «Zunächst wollte mich der Mann am Schalter des Migrations­amtes zurückschicken. ‹Sie sind illegal hier›, hat er zu mir gesagt. ‹Sie können nicht entscheiden, in welche Unterkunft Sie wollen.›» Reza habe ihm dann aber gesagt, er gehe nicht weg, bevor ihm geholfen werde. Der Mann verschwand für zwanzig Minuten, um mit seinem Chef zu sprechen. «Dann sagte man mir, dass ich nach Glattbrugg gehen könne.»

Die Zeit in Urdorf sei für ihn die schlimmste gewesen, seit er in der Schweiz lebt, sagt Reza. «Ich schlief mit einer Gabel unter dem Kissen, um mich notfalls verteidigen zu können», sagt Reza.

Mittlerweile geht es Reza besser. Er hat bald einen Termin mit seiner Anwältin. Er hat neuen Mut gefasst, will versuchen, ein Härtefall­gesuch vorzubereiten. Reza trifft auch einen seiner Freunde von Queeramnesty wieder. Dieser werde die Referenz­schreiben für das Härtefall­gesuch vorbereiten.

Aber Reza plagt noch immer die gleiche Sorge: dass die Zukunft ungewiss ist. Und dann steht bald auch noch eine Gefängnis­strafe an, weil Reza trotz Rayon­verbot von Urdorf mit dem Bus nach Dietikon gefahren ist. Eine Miss­achtung der Eingrenzung. «Ich habe Angst», sagt Reza. «Angst, dass ich dann wieder zurück nach Urdorf muss.»

Zur Fotografin, zum Fotografen

Annick Ramp (*1987 in Auckland) lebt und arbeitet in Zürich als NZZ-Fotografin und freischaffend. In ihrer selbstständigen Tätigkeit übernimmt sie Aufträge oder verfolgt eigene Projekte. 2012 schloss sie das Studium zur Fotodesignerin an der Berufsschule für Gestaltung ab.

Simon Tanner (*1983 in Bern) lebt und arbeitet in Zürich. Nach dem Studium der Neuesten Geschichte und der Politikwissenschaften an der Universität Bern absolvierte er den Studiengang Redaktionelle Fotografie am MAZ in Luzern. Neben seiner Tätigkeit als Fotograf für die NZZ unterrichtet er an der F+F Schule für Kunst und Design in Zürich.

Leben im Bunker