Ausbrechen in die Integration
Abdul hat viele Freunde, er spricht Deutsch, ist gut in der Gemeinde Urdorf verankert, arbeitet ehrenamtlich. Aber sein soziales Netz wird immer mehr eingeschränkt. Teil 2.
Von Adelina Gashi (Text), Annick Ramp und Simon Tanner (Bilder), 20.04.2019
Geri Meili blättert in Unterlagen, während um ihn herum der Tisch gedeckt wird. Geri ist der Leiter der Solinetz-Gruppe Urdorf. Er hat die Allgemeine Baugenossenschaft davon überzeugen können, der Gruppe den Gemeinschaftsraum beim Zentrum Spitzacker alle zwei Wochen für einen Nachmittag zur Verfügung zu stellen. «Gerade in den Wintermonaten ist es wichtig, dass wir den Bewohnern der Notunterkunft einen Aufenthaltsraum ausserhalb des Bunkers zur Verfügung stellen», sagt er.
Der Raum hat eine kleine Küche, WLAN und ist warm und hell. Juri steht zusammen mit Ali in der Küche und hilft beim Gemüseschneiden. Heute wird gekocht. Rüeblisuppe und Poulet mit Ofengemüse. Das Essen zahlt das Solinetz.
Ein Mann mit dunklen kurzen Haaren und Brille tritt durch die Tür. «Hallo, ich bin Abdul», sagt er und schüttelt unsere Hände. Abdul* trägt eine schwarze Jacke und einen Jutebeutel mit dem Logo der Universität Zürich. «Ich hatte Deutschkurs», sagt er zu Geri Meili. Darum die Verspätung.
Geri nutzt die Zeit bis zum Essen, um die nächsten Besuche im Gefängnis zu planen: Jemand soll Roman* besuchen gehen, Juris Freund. Die Mitglieder des Solinetzes besuchen regelmässig Asylsuchende, die wegen illegalen Aufenthalts in Haft stecken.
Der Tisch ist für fünfzehn Leute gedeckt. Auch zwei Mitglieder der Genossenschaft wollen mitessen. Sie seien froh, dass der Raum sinnvoll genutzt werde. Auch wenn nicht alle Hausbewohner begeistert waren, als sie hörten, dass Asylsuchende hier essen würden.
Während des Essens erzählt Abdul, dass er an der Uni Zürich ein Schnuppersemester gemacht habe. In Afghanistan, wo er herkommt, habe er Veterinärmedizin studiert. Abdul spricht sehr gut Deutsch. Seit drei Jahren ist er hier. Er möchte einen Job, eine Wohnung. Aber seit er in Urdorf sei, habe er die Hoffnung verloren.
Er ist eingegrenzt, kann also den Deutschkurs in Zürich nicht mehr besuchen. Hin und wieder besucht ihn eine Freiwillige, die ihn unterrichtet. Der Kurs des Solinetzes, der einmal in der Woche in Urdorf stattfindet, reicht ihm nicht. Abdul sagt, er sei unterfordert. Er würde gerne schneller lernen.
Abdul hilft beim Abräumen. Dann macht er sich gleich wieder auf den Weg. Er trifft noch eine Kollegin aus Urdorf.
Abduls Geschichte
Später treffen wir Abdul wieder. Er ist nervös. Er zweifelt, ob er uns aus seinem Leben erzählen soll. «Meine Anwältin sagt, es bringe mir nicht viel. Ich habe Angst, dass ihr etwas schreibt, das nicht gut für mich ist.» Als abgewiesener Geflüchteter ist Abdul von den Entscheidungen der Behörden abhängig. Er fürchtet, wenn er sich öffentlich äussert, könnte sich das nachteilig für ihn auswirken: ob er hier je leben und arbeiten kann.
Nach langem Zögern beginnt Abdul doch zu erzählen.
«Ich habe in Afghanistan Veterinärmedizin studiert. Nach meinem Abschluss suchte ich eine Stelle, vergebens. Etwa ein Jahr blieb ich ohne Arbeit, bis mir ein Bekannter einen Job anbot. Er sagte, ich könnte in der Administration arbeiten, eine staatliche Anstellung. Es war nicht das, was ich mir gewünscht hatte, aber so konnte ich wenigstens Geld verdienen.»
Abdul gehört zur ethnischen Minderheit der Hazara. Aufgewachsen ist er in einem Dorf bei Ghazni, rund 100 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul. In der Stadt Ghazni war dann auch sein neuer Arbeitsplatz. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: dass er für den afghanischen Geheimdienst arbeiten würde.
Zweieinhalb Jahre war er für den Staat tätig. Ihm wurde der Kontakt zu seiner Familie untersagt, und er durfte nicht zurück in sein Heimatdorf. Aus Sicherheitsgründen, hiess es. «Denn die Taliban hatten uns alle auf dem Schirm.» Immer wieder kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Anschlägen. «Man hatte uns angewiesen, auf die Strasse zu gehen und gegen die Taliban zu kämpfen», sagt Abdul. «Aber ich hatte Angst um mein Leben. Zurück zu meiner Familie konnte ich auch nicht. Wenn die Taliban mich gefunden hätten, hätten sie uns alle umgebracht. Sie wollten Rache dafür, dass so viele von ihnen ins Gefängnis gesteckt worden waren.»
Und weil Abdul für den Staat arbeitete, war er in ihren Augen mitschuldig. Er beschloss zu fliehen. «Ich ging zuerst in den Iran. Von dort würde mich jemand mitnehmen und nach Europa bringen.»
Seiner Familie hatte Abdul gesagt, dass er weggehe. Danach war er etwa einen Monat lang unterwegs. «Die Flucht nach Europa war schrecklich. Die Schlepper verlangten immer mehr Geld und schlugen uns. Sie nahmen uns sogar die Pässe weg.» Im Herbst 2015 kam er schliesslich in Basel an.
«Die Schweiz ist in meinem Heimatland für ihre humanitäre Tradition und das Rote Kreuz bekannt. Darum hatte ich mich dazu entschlossen, hierherzukommen. Ich hatte gehofft, nochmals von vorne beginnen zu können. Ich wollte studieren und endlich als Tierarzt arbeiten.»
In Basel stellte Abdul sein Asylgesuch. Danach hiess es warten.
Der Zwischenfall
Es dauert zwanzig Tage, dann wird Abdul nach Zürich transferiert und im kantonalen Durchgangszentrum Hinteregg einquartiert. Er teilt sich ein Schlafzimmer mit etwa fünfzehn anderen Asylsuchenden. In diesem Winter 2015 erlebt Abdul zum ersten Mal Weihnachten. «Die Weihnachtsbeleuchtung, die Tannenbäume, das kannte ich alles vorher nicht.» Abdul wird erneut versetzt. Diesmal ins zürcherische Steinmaur. Sein Asylverfahren läuft noch. Hier hat er bloss zwei weitere Mitbewohner in seinem Zimmer. Regelmässig fährt er nach Zürich, um die kostenlosen Deutschkurse der Autonomen Schule und von anderen Organisationen zu besuchen.
Eines Abends kommt es zu einer Eskalation in der Asylunterkunft. Was genau geschah, darüber will Abdul nicht sprechen. «Zwischen mir und meinem Kollegen, der auch Afghane ist, kam es zu einem Zwischenfall. Es war ein Unfall.» Mehr will er darüber nicht sagen.
Abdul denkt lange nach, bevor er etwas sagt. Die Erfahrungen mit den Behörden haben ihn gelehrt, vorsichtig zu sein, dass jedes falsche Wort gegen ihn ausgelegt werden kann und seine Glaubwürdigkeit infrage stellt. «Der Zwischenfall», sagt er, sei etwas, das er vergessen wolle.
Abduls Asylentscheid kommt erst 2018. Er ist negativ. Warum, ist Abdul unklar. Er muss das Land verlassen. Doch Abdul will nicht zurück. Er sagt: «Wenn ich zurückgehe, werden mich die Taliban umbringen.»
Seit dreieinhalb Jahren ist Abdul nun in der Schweiz. Zu seinen Angehörigen hat er selten Kontakt. «Kürzlich griffen die Taliban fünf Tage lang meinen Heimatort an. Meine Familie musste in einen anderen Stadtteil fliehen.»
Er versucht unterdessen das Beste aus seiner Situation in Urdorf zu machen. «Ich stehe jeden Tag um sieben Uhr auf, frühstücke und hole mir dann um 8.30 Uhr am Empfang der Notunterkunft mein Geld.»
Abdul will so wenig Zeit wie möglich im Bunker verbringen. Solange er nicht eingegrenzt wurde und seine Freunde in Zürich besuchen konnte, ging das gut. Aber im Oktober 2018 wurde ihm ein Rayonverbot auferlegt: Er darf Urdorf seither nicht mehr verlassen. Deutschkurse oder Besuche von Freunden in Zürich sind nicht mehr möglich.
«All meine Bemühungen waren plötzlich vergebens. Das Deutschkursangebot des Solinetzes in Urdorf ist zu klein. Ich konnte vorher viel besser Deutsch, jetzt fange ich an, schon Gelerntes zu vergessen.»
Der Bunker ist für Abdul bedrückend. Nachts könne er kaum schlafen, weil andere Mitbewohner laut seien und tränken. «Ich möchte nur ein ruhiges, geregeltes Leben, einen Job. Es muss nicht Veterinärmedizin sein. Einfach etwas, um Geld zu verdienen.»
Aber das ist gesetzlich nicht vorgesehen. Weder dass Abdul arbeitet, noch dass er Deutsch lernt, um sich zu integrieren.
Abduls Weg, um sich selbst zu helfen, sich abzulenken: das Schwimmbad. Regelmässig geht er im Zentrum Spitzacker schwimmen. Das Rote Kreuz zahlt ihm das Abo.
In der Hundeschule
Ein paar Hühner schrecken auf, als wir das Tor zum Garten öffnen. Auf dem Boden liegt Hundespielzeug. Abdul sitzt vor der Baracke, die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Er unterhält sich gerade mit Regula, der Trainerin und Besitzerin einer Hundeschule.
Seit kurzem ist Abdul hier ehrenamtlich tätig. Er arbeitet in der Hundeschule und assistiert der Trainerin. Manchmal, wenn ihn Freunde aus Zürich besuchen kommen, überlässt ihm Regula das Gartenhaus auf dem Grundstück der Hundeschule, ein Lern- und Rückzugsort für Abdul.
Regula trägt Gummistiefel und einen Faserpelz. Sie müsse sich noch kurz um die Schafe kümmern, sagt sie. Gleich neben dem Bauernhof in der Nähe des Spitzackers hat Regula ihre Parzelle. Hier unterrichtet sie dreimal in der Woche Hunde und deren Besitzer, hält sich Hühner, Schafe und sogar zwei Pferde.
Abdul und sie seien gute Freunde geworden, sagt Regula.
Eines Tages sei er vor ihr gestanden und habe gefragt, ob er ihr bei den Trainings oder im Garten helfen dürfe. Regula war zunächst etwas skeptisch. Dann gab sie Abdul doch eine Chance: «Er kann sehr gut Deutsch, ist wahnsinnig anständig. Er hat mir schnell alle Zweifel genommen.»
In der Vergangenheit hatte Regula auch schlechte Erfahrungen mit den Bewohnern des Bunkers gemacht: Vergangenen Mai stahl jemand ihr Handy. Über GPS konnte sie den Standort des Geräts ausfindig machen. Die Spur endete vor der Notunterkunft. Regula ärgerte sich. Auf dem Handy waren die Fotos ihrer verstorbenen Mutter. Wiederbekommen hat sie das Gerät nicht.
«Na ja, ich verstehe, in was für einer ausweglosen Situation diese Menschen stecken. Ich war einmal in diesem Bunker. Das ist menschenunwürdig.» Sie habe daraufhin die Gemeinde angerufen, um sich über die prekären Zustände in der Unterkunft zu beschweren.
«Ich bin Regula sehr dankbar», sagt Abdul. Er habe so eine Möglichkeit gefunden, sein Wissen als Veterinärmediziner zu brauchen – und vor allem eine Beschäftigung.
Die Verzweiflung lässt Abdul trotzdem nicht los. Erst in zwei Jahren könnte sich seine Situation frühestens ändern. Nach fünf Jahren können abgewiesene Asylsuchende, die nicht straffällig geworden sind, ein Härtefallgesuch stellen. Doch selbst dann ist es schwierig, Asyl zu erhalten. «Ich mag meine Freunde und die Menschen in Urdorf», sagt Abdul. «Sie sind alle sehr nett zu mir und wollen mir helfen. Aber im Bunker halte ich es nicht mehr aus.»
* Name geändert.
Zur Fotografin, zum Fotografen
Annick Ramp (*1987 in Auckland) lebt und arbeitet in Zürich als NZZ-Fotografin und freischaffend. In ihrer selbstständigen Tätigkeit übernimmt sie Aufträge oder verfolgt eigene Projekte. 2012 schloss sie das Studium zur Fotodesignerin an der Berufsschule für Gestaltung ab.
Simon Tanner (*1983 in Bern) lebt und arbeitet in Zürich. Nach dem Studium der Neuesten Geschichte und der Politikwissenschaften an der Universität Bern absolvierte er den Studiengang Redaktionelle Fotografie am MAZ in Luzern. Neben seiner Tätigkeit als Fotograf für die NZZ unterrichtet er an der F+F Schule für Kunst und Design in Zürich.