Antike Tragödien, für unsere Zeit umgesetzt: Simon Stones Inszenierung «Eine griechische Trilogie», Berliner Ensemble. Thomas Aurin

Theater

Bühne frei für Netflix-Stoffe!

Berliner Ensemble: «Eine griechische Trilogie»

Simon Stone, der Superstar des neuen Regietheaters, legt die Aktualität in Klassikern frei. Doch was ihm mit Tschechow und Strindberg gelingt, klappt bei den alten Griechen nicht.

Von Christine Wahl, 17.10.2018

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Simon Stone ist genau der Mann, den die Bühnenwelt seit langem sucht. Jedenfalls der zukunftsgewandtere Teil von ihr. Als «Antwort des Regietheaters auf HBO» hat eine Zeitung den 34-Jährigen bezeichnet. Das ist ja in der Tat ein Punkt, der viele Zuschauer umtreibt: Warum schafft es die Film- und Fernsehbranche, aus kanonischen Dramen wie Shakespeares «Richard III.» intelligente und gleichzeitig aktuelle Unterhaltung zu machen? So wie die TV-Serie «House of Cards», in der ein skrupelloses Karrieristen-Ekelpaket zum US-amerikanischen Präsidenten aufsteigt? Und wieso kann das Theater das nicht?

Bei Stone, der 1984 als Sohn eines australischen Naturwissenschaftler-Ehepaars in Basel geboren wurde und in Cambridge und Melbourne aufwuchs, ist die Frage hinfällig. Ihm gelingt tatsächlich das Kunststück, jahrhundertealte Bühnenklassiker klingen zu lassen, als handle es sich um den allerneusten Netflix-Serienstoff. Ganz gleich, ob die Textvorlage von Anton Tschechow, Henrik Ibsen oder von Euripides stammt.

Tschechow im Glashaus

Stones «Drei Schwestern»-Version zum Beispiel, die vorletztes Jahr am Theater Basel herauskam, hielten nicht wenige Kritiker für den gegenwärtigsten, berührendsten und natürlich auch für den gewagtesten Tschechow, den sie bis dato in ihrem Berufsleben gesehen hatten. Nicht umsonst wurde der Abend in Berlin als Eröffnungsinszenierung des Theatertreffens gezeigt, der jährlichen Bestenschau der Branche.

Berührend und gewagt: Simon Stones «Drei Schwestern» im Theater Basel. Sandra Then

Es ist tatsächlich einer der bemerkenswertesten Abende, die Stone in seiner Zeit als Basler Hausregisseur zwischen 2015 und 2017 herausbrachte. Aus der Provinzvilla, in der sich die Generalstöchter Olga, Mascha und Irina im Originaltext wortreich «nach Moskau» sehnen, macht er ein architekturpreisverdächtiges Schweizer Ferienhaus: riesige Glasfronten, mehrere Stockwerke, Wohnzimmer im Loungedesign.

Natürlich gibts hier auch andere Ziele als die russische Hauptstadt. Irina steht als Geisteswissenschaftlerin auf Jobsuche mit einem halben Bein in Berlin und will sich «irgendwie» in der Flüchtlingshilfe engagieren. Mascha denkt für sich und ihren Liebhaber Werschinin an eine Wohnung in Brooklyn. Und Bruder Andrei träumt als IT-Spezialist und Online-Zocker vom Silicon Valley.

Zudem hört man in diesem zeitgeistigen Ferienhaus statt des melancholischen Tones, in dem die Figuren 1901 bei der Uraufführung des Stückes sprachen, öfter mal klare Ansagen wie: «Ich halte deine Scheissempathie nicht aus!» Auch das gehört zu Stones Methode, Dramen aus vergangenen Zeiten ins 21. Jahrhundert zu übertragen: ein Text, der deutlich auf Pointen hingeschrieben ist und dabei so alltagssprachlich daherkommt wie im Fernsehen. Kein Wunder, dass der Regisseur auch in der internationalen Filmbranche gefragt ist. Mit seinem Kinodebüt «The Daughter» nach Motiven aus Ibsens «Wildente» schaffte er es vor drei Jahren auf Anhieb an die Internationalen Filmfestspiele in Venedig.

Doch Alltagssprache hin oder her: Die existenzielle Antriebsschwäche, die Olga, Mascha und Irina von ihren hochfliegenden Plänen abhält, dieses ewige Sichverlieben in die Falschen und Sicheinrichten in Übergangslösungen – das ist bei Simon Stone haargenau wie bei Anton Tschechow. Es sieht nur an der Oberfläche anders aus.

Stones Texte sind nicht einfach zeitgenössische Bearbeitungen, sondern wirklich eigenständige neue Stücke. «Nur weil Menschen auf der Bühne einander umbringen, heisst das nicht, dass sie noch immer wie Medea reden müssen»: So hat der Regisseur seine Motivation einmal formuliert. Die «Referenz zur Geschichte» bezeichnet er dennoch als seine «Obsession».

Deshalb sucht er, wie er sagt, immer «nach einer Schnittstelle zwischen heutiger Welt und der tradierten Literatur», statt gänzlich neue Stücke zu schreiben. Letztlich zielt sein Ansatz darauf ab, die Zuschauer die klassischen Werke so erleben zu lassen wie bei der Uraufführung: «Für das Publikum war das damals Jetztzeit», so Stone. «Es erkannte sich in den Stücken wieder.»

Stone beherrscht das Handwerk. Er begann seine Bühnenlaufbahn früh. Mit der freien Theatergruppe The Hayloft Project, die er mit Anfang zwanzig im australischen Melbourne gründete, begann er die Bühnenkunst umzukrempeln. Kurz darauf war er Chef eines festen Hauses, des Belvoir in Sydney, an dem übrigens Cate Blanchett spielte.

Ein rastloser Workaholic

Auf seine Art hatte Stone diese steile Karriere vorbereitet. Er beschreibt sich in Interviews als Aussenseiter, der in den Teenagerjahren wenige Freunde hatte – aber im stillen Kämmerlein den kompletten Shakespeare durchlas. Sämtliche Stücke, in chronologischer Reihenfolge. Hinzu kamen bis zu fünfzehn Kinogänge pro Woche: eine Rastlosigkeit, die ihm bis heute eignet.

Auch das extrem hohe Arbeitspensum, dem er sich als weltweit gefragter Regisseur zwischen Theater, Film und Oper aussetzt, erklärt Stone aus seiner Lebensgeschichte. Er war noch ein Junge, als sein Vater beim gemeinsamen Schwimmtraining an einem Herzinfarkt starb. Seither, so Stone, wolle er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Arbeit bewältigen.

Aus den Stücken, mit denen er arbeitet, greift er sich inzwischen häufig nur Motive heraus. Eine Methode, die bei «Hotel Strindberg» einmal mehr hervorragend gelungen ist. Mitte Januar 2019 kommt die Koproduktion von Wiener Burgtheater und Theater Basel – nach ihrer umjubelten österreichischen Premiere letztes Jahr – in die Schweiz.

Ein optisches Meisterwerk, das im Januar nach Basel kommt: «Hotel Strindberg», Burgtheater Wien. Reinhard Werner/Burgtheater

Wie das Ferienhaus der «Drei Schwestern» ist auch dieses titelgebende Hotel schon optisch ein Meisterwerk: eine dreistöckige, voll verglaste Edel-Bettenburg. Das gesamte Beziehungsunglück des 21. Jahrhunderts logiert darin. Rechts unten eröffnet eine Frau ihrem Mann nach einem alkoholseligen Abend, dass er gar nicht der leibliche Vater der gemeinsamen Tochter ist. Links oben unterschreibt ein Ehepaar die Scheidungspapiere. Und im Zwischengeschoss stellt eine erfolgreiche Verfechterin des offenen Beziehungsmodells erbost ihren Gatten zur Rede, warum er, anders als verabredet, in den letzten Monaten kein einziges Mal fremdgegangen sei.

Dass all diese Ehe- und Beziehungstragikomödien im «Hotel Strindberg» simultan ablaufen, erhöht den Reiz enorm. Zumal sich – eine dramaturgische Höchstleistung – im Laufe des fünfstündigen Abends zusehends spannungssteigernde Verbindungen zwischen den Hotelgästen offenbaren.

Am Ende hängen, wie in jeder guten TV-Serie, alle irgendwie mit allen zusammen – und wie in guten Theateraufführung dabei natürlich an einem erstklassigen Dramatiker: Simon Stone hat August Strindbergs Werk-Kosmos gründlich durchstöbert. Neben bekannten Stücken wie «Der Vater» sind auch Kammerspiele wie «Der Pelikan» oder biografische Selbstauskünfte des schwedischen Seelenhöllen-Dramatikers in den Abend eingeflossen.

All das überträgt Stone allerdings, anders als bei den «Drei Schwestern», nicht eins zu eins auf die Figuren. Vielmehr greift er sich bestimmte Konflikte oder Konstellationen heraus und verteilt sie grosszügig auf die verschiedenen Hotelzimmer. Grundmotive wie Ehekrieg, Frauenverachtung oder eben die Unsicherheit über die biologische Vaterschaft – diese treibt die Hauptfigur aus Strindbergs «Vater» schier in den Wahnsinn – klingen in fast allen Szenen an. Auf der Bühne verweben sie sich dann so gekonnt ineinander, dass im Theaterparkett tatsächlich ähnliche Suchtsymptome drohen wie beim TV-Serien-Schauen.

Antiker Feminismus

Seine allerneuste Regiegrosstat vollbrachte Simon Stone jetzt in Berlin. «Eine griechische Trilogie» heisst der Abend am Berliner Ensemble, der dramaturgisch ähnlich gebaut ist wie «Hotel Strindberg». Nur dass statt des schwedischen Naturalismus die griechische Antike als Sprungbrett für das zwischengeschlechtliche Gemetzel herhält.

Schaufenstereffekt und Rachefeldzug: «Eine griechische Trilogie», Berliner Ensemble. Thomas Aurin

Stones Schwerpunkt liegt dabei speziell auf Frauenfiguren, angefangen bei den komödiantischen Sexverweigerinnen aus der «Lysistrata» des Aristophanes. Die wollen ihre im Krieg befindlichen Männer durch Beischlafentzug zum Friedensschluss zwingen. Im harten Kontrast dazu stehen die Opfergeschichten aus den «Troerinnen» des Euripides: Frauen, die als Kriegsbeute unter den siegreichen Männern verteilt werden. Und schliesslich tauchen Motive aus den «Bakchen» auf, ebenfalls von Euripides. Das sind jene Frauen, die mental fremdgesteuert enthemmte Racheorgien feiern – angestiftet vom Ekstasen-Gott Dionysos.

Leider hängt das Ergebnis genau so unentschieden zwischen allen Stühlen, wie es diese Auswahl befürchten lässt. Zur Vorbereitung der weiblichen Opferstorys marschiert eine männliche Fieslingsparade wie aus einem Werbespot fürs Matriarchat an: ein Streifenpolizist mit Analverkehrspräferenz, der gern in Unterhosen auftritt und die Schwiegertochter vergewaltigt. Ein akut von Hybris befallener Kinderwunscharzt, der seine Patientinnen reihenweise mit dem eigenen Samen befruchtet. Ein arbeitsloser Finanzmensch mit sadistischen Neigungen, der die Familienkasse für Bordellbesuche plündert und seine Frau schlägt.

Kein Wunder, dass die sich ihrem Gatten entzieht. Und dass sie, nun allerdings anders als im antiken Drama, mit weiteren Geschlechtsgenossinnen auf einen Biobäuerinnenhof flüchtet. Dort stehen dann all die schlecht behandelten Frauen hinter einer Glasscheibe, die über die gesamte Rampenbreite reicht und dem Szenario einen Schaufenstereffekt verleiht. Und machen, wie Stone nicht ohne Ironie zeigt, auf vereinte feministische Landwirtschaft.

#MeToo oder #MeToo-Kritik?

Am Ende metzeln sie ihre Männer – jetzt kommt also die Rachetragödie – kaltblütig hin. Während das Patriarchat dekorativ im Kunstblut zusammensackt, fragt man sich: Ist das nun Hermann Nitsch, Quentin Tarantino oder «Arsen und Spitzenhäubchen»? Tragödie oder Trash? Michel Houellebecq oder Hedwig Courths-Mahler?

Kurzum: Mit der «griechischen Trilogie» hat sich Stone offenbar zu viel vorgenommen. Ihm gelingt kein stringenter Zugriff auf den Stoff, weil er alles auf einmal will: die Sexkomödie und die Opfertragödie. Psychologische Charakterstudie und Splatter-Ästhetik. #MeToo und #MeToo-Kritik.

Aber egal. Kann passieren. Und irgendwann ist die Splatter-Orgie vorbei: Tabula rasa für Simon Stones nächsten, hoffentlich wieder spannenden Netflix-Theater-Wurf.

Zur Autorin

Christine Wahl, geboren 1971 in Dresden, arbeitet seit 1995 als freie Journalistin und Theaterkritikerin unter anderem für den «Tagesspiegel», «Theater heute» und «Spiegel online». Sie war Mitglied in diversen Jurys, aktuell ist sie im Auswahlgremium für den Mülheimer Dramatikerpreis sowie den Kranichsteiner Literaturpreis. Für die Republik war sie bereits beim Berliner Theatertreffen unterwegs und hat das Maxim-Gorki-Theater besucht.