Am Gericht

Wildwest­methoden und geplünderte Staats­kassen

Wie weit darf ein Anwalt für seinen Klienten gehen, darf er Beweise bei der Gegenseite besorgen? Sind Banken­interessen von nationalem Interesse? Beim Cum-Ex-Prozess in Zürich geht es um Millionen, Whistleblower und Wirtschafts­spionage.

Von Carlos Hanimann, 03.04.2019

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Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 26./28. März 2019, 8.15 Uhr
Fall-Nr.: DG180059, DG180060, DG180061
Thema: Wirtschaftlicher Nachrichtendienst

Dieser Mann liebt den Auftritt. Er hat ihn lange vorbereitet, und jetzt will er ihn so richtig auskosten. Dass der Richter ihn schon nach wenigen Sätzen ermahnt, höflich zu bleiben, mag er nicht hören. Er hat ja noch gar nicht richtig losgelegt.

«Herr Vorsitzender», ruft er deshalb Richter Sebastian Aeppli zu, «dieses ganze Verfahren ist unhöflich!»

Eckart Seith, 62, schlank, gross, blond, gelb gebräunt, eckige Brille, Anwalt aus Stuttgart und heute einer von drei Beschuldigten in Zürich, hat eben noch jede Frage des Gerichtsvorsitzenden mit «keine Angabe» beantwortet. Jetzt aber holt er zum stundenlangen Rundumschlag aus, den er für die Journalisten auch gleich ausgedruckt und geheftet hat: Seith redet von Korruption und Befangenheit, von Betrug und unlauteren Geschäften, von räuberischen Banden und Steuerhinterziehung, von einem Angriff der Zürcher Justiz auf die Bundesrepublik Deutschland und davon, dass die ihm vorgeworfenen Handlungen «zum Besten gehören» in seiner 33-jährigen Karriere als Anwalt: «Ich bereue die Tat nicht, Herr Präsident.»

Seinen Auftritt hat er präzis vorbereitet: 700 Stunden lang. So viel Zeit sollen ihn Strafuntersuchung und Prozessvorbereitung gekostet haben, wie er angibt: 245’000 Franken will Eckart Seith als Entschädigung – und natürlich einen Freispruch.

Happige Vorwürfe

Drei Deutsche standen vergangene Woche in Zürich vor Gericht, weil sie Bankunterlagen aus der Schweiz entwendet und in Deutschland weitergegeben haben sollen: Anwalt Seith und zwei ehemalige Bank­angestellte. Die Vorwürfe: Verletzung von Bank- und Geschäfts­geheimnissen, die Anstiftung und Gehilfenschaft dazu, Nötigung und Erpressung und – am schwersten: wirtschaftlicher Nachrichtendienst.

Der Hintergrund dieser angeblichen Verschwörung gegen die Bank (und also gegen die Schweiz) lässt sich mit zwei lateinischen Wörtern zusammenfassen: «cum» und «ex».

Cum-Ex: So hiess ein komplexer Finanzdeal, mit dem sich – sehr vereinfacht gesagt – Anleger über Jahre Steuern vom Staat erstatten liessen, die sie nie gezahlt hatten. Sie plünderten die Staatskassen. 2012 kamen die Steuerbehörden hinter das Vorgehen und schlossen die Lücken im Gesetz. Allein Deutschland soll ein Schaden in der Höhe von über 31,8 Milliarden Euro entstanden sein; europaweit ist die Rede von einem Schaden von rund 55 Milliarden.

Einer, der vom Steuerraub hätte profitieren sollen, war der deutsche «Drogeriekönig» und Multimilliardär Erwin Müller. Er investierte rund 50 Millionen in eine Anlage, die mit einem Cum-Ex-Deal verknüpft war.

Doch der Deal scheiterte. Müller verlor sein Geld, weil Cum-Ex verboten wurde. Er hegte einen Verdacht: Die Bank hatte ihn falsch beraten.

Müller wollte das Geld zurück. Sein Anwalt sollte ihm dabei helfen. So begann eine langjährige Auseinandersetzung zwischen Müllers Anwalt und Müllers Bank.

2017 gewann der Anwalt ein Zivilverfahren in Ulm, ein Jahr später wies das Oberlandesgericht Stuttgart die Berufung der Bank zurück und «Drogeriekönig» Müller erhielt rund 45 Millionen Euro von der Bank. Sein Anwalt hatte dem Gericht Dokumente vorgelegt, die Müllers Verdacht belegten. Dokumente, die nie jemand hätte zu Gesicht bekommen sollen. Denn sie stammten aus der besagten Bank.

Die Bank hat ihren Sitz in Basel und heisst J. Safra Sarasin. Der Anwalt, der die Dokumente auftrieb, hat seine Kanzlei in Stuttgart und heisst: Eckart Seith.

Diese Dokumente sind der Grund, warum Seith und zwei ehemalige Sarasin-Angestellte letzte Woche in Zürich vor Gericht standen.

Eine Geschichte, zwei Sichtweisen

Man kann diese Geschichte so sehen (wie die Staatsanwaltschaft):

Ein reicher deutscher Anwalt (Seith) spioniert für einen reicheren Klienten (Müller) eine noch reichere Bank (Sarasin) aus, weil sich der Klient von dieser über den Tisch gezogen fühlt. Unterstützung erhält der Anwalt von zwei Bankangestellten, die sich aus finanziellen Motiven bereit erklären, Bank­unterlagen zu stehlen. Gemeinsam versuchen sie, die Bank zu erpressen. Weil sich die Bank nicht kleinkriegen lässt, geben sie das Material an verschiedene deutsche und Schweizer Behörden weiter. Und kommen schliesslich über den Umweg eines deutschen Zivilgerichts an das verlangte Geld.

Man kann diese Geschichte aber auch ganz anders sehen (wie der beschuldigte Anwalt Seith):

In ganz Europa haben sich Banker, Berater und Anwälte zu einer räuberischen Bande zusammengetan, um eine Gesetzeslücke auszunutzen und Staatskassen zu plündern. Das Betrugssystem ist mit einer Mauer aus Geheimnissen geschützt: Geschäftsgeheimnis, Bankgeheimnis, Anwalts­geheimnis. Nur hinter dieser Mauer wird offen geredet und gerechnet, nur hier schlummert die Wahrheit über Cum-Ex. Und nur dank eines mutigen deutschen Anwalts (Seith) und zwei gewissenhaften Bankangestellten weiss die Öffentlichkeit überhaupt, was sich hinter diesen Mauern abspielt. Weil die drei die Mauer der Geheimnisse durchbrachen, um einem betrogenen Kunden (Müller) zu helfen – und so letztlich einer höheren Sache dienten.

Es geht in diesem Verfahren also nicht darum, was sich genau abgespielt hat, sondern warum. Es geht um die Frage, ob die Cum-Ex-Geschäfte in Deutschland und der Datendiebstahl in der Schweiz zusammenhängen. Und, so die Schlussfolgerung mehrerer Juristen in einem von der Verteidigung eingereichten Rechtsgutachten: ob das eine Unrecht das andere rechtens oder zumindest entschuldbar macht.

Für den Zürcher Staatsanwalt Maric Demont ist die Antwort darauf sehr kurz: Natürlich nicht.

Zwischen Erpressung und Aufklärung

Die Verteidigung versuche die Anwesenden (also in erster Linie die Journalisten) zu beeinflussen, indem sie behaupte: Die Cum-Ex-Verantwortlichen lasse man gewähren, während die Whistleblower bestraft würden. «Beides stimmt nicht», sagt Staatsanwalt Demont am zweiten Prozesstag.

Die Beschuldigten hätten sich zusammengetan, um – «in Selbstjustiz» – die Gegenpartei auszuspionieren. Das gehe nicht. Sonst könnte künftig jeder ungestraft Unterlagen stehlen. «Das wäre kein Rechtsstaat mehr, sondern Wilder Westen.»

Wildwestmethoden unterstellen die Verteidiger Matthias Brunner, Tobias Fankhauser und Niklaus Ruckstuhl allerdings der Staatsanwaltschaft. Es gebe keine Grundlage für diesen Strafprozess, weil sämtliche Beweise und Untersuchungs­handlungen der Staatsanwaltschaft unverwertbar seien und in den Schredder gehörten. Darum müsse das Verfahren eingestellt werden.

Die drei Verteidiger lassen während zweier Tage kein gutes Haar an der Arbeit der Strafverfolger: Den ermittelnden Staatsanwalt Peter Giger beschreiben sie als selbstherrlich, bankenfreundlich, parteiisch. Und vor allem: als befangen.

Statt wegen der Cum-Ex-Geschäfte gegen die Bank vorzugehen, habe er eine entsprechende Strafanzeige schubladisiert und sei gegen die Beschuldigten vorgegangen. Bei den Ermittlungen habe er sein Amt missbraucht und mittels Beugehaft Geständnisse von einem der Beschuldigten erpresst.

Tatsächlich wurde Giger kurz vor Anklage­erhebung vom Fall abgezogen, als die Verteidiger einen Befangenheitsantrag stellten, und von Staatsanwalt Demont ersetzt. Ein Manöver, das die Verteidiger als «Notbremse» bezeichnen.

In den Augen der Verteidiger ist der Fall klar. Die Staatsanwaltschaft: befangen. Die Ergebnisse der Untersuchung: unverwertbar. Die Geständnisse: Folge einer Erpressung.

Bleiben einzig die Dokumente aus der Bank.

Die Dokumente, die das Verfahren überhaupt erst in Gang gebracht haben.

Für Staatsanwaltschaft und die Bank als Privatklägerin steht fest, dass die Unterlagen der Bank gehören. Und dass es auch im Interesse der Schweiz sei, solche Geheimnisse zu schützen. Teilweise waren die Dokumente von der Bank bei einer renommierten Anwaltskanzlei in Auftrag gegeben worden (ein Gutachten zum Rechtsstreit mit Milliardär Müller), teilweise waren darauf Kundennamen aufgelistet.

Für die Verteidigung hingegen gehören die Unterlagen nicht der Bank, sondern dem Bankkunden, «Drogeriekönig» Müller. Der beschuldigte Müller-Anwalt Seith hatte also alles Recht der Welt, sich die Unterlagen zu beschaffen. Die zwei mitbeschuldigten Ex-Banker handelten gemäss dieser Logik nur im Interesse des Bankkunden.

Inszenierung und unterhaltsame Rhetorik

Was bleibt nach zwei Tagen gegenseitiger Anschuldigung, kalkulierter Inszenierung und unterhaltsamer Rhetorik vor Gericht?

Zunächst: viele offene Fragen.

Etwa diese: Wie weit darf ein Anwalt für seinen Klienten gehen, wenn dieser über den Tisch gezogen wurde? Darf er Beweise bei der Gegenseite besorgen? Auch dann, wenn diese allenfalls dem Bank- oder gar dem Anwaltsgeheimnis unterstehen? Und spielen dann Vorgeschichte und Hintergründe noch eine Rolle für die Rechtfertigung einer allfälligen Grenzüberschreitung? Oder: Welche Aufgabe hat die Staatsanwaltschaft? Muss sie die Interessen einer Bank im Einzelnen und des Schweizer Bankenplatzes im Allgemeinen verteidigen? Sind Banken­interessen von nationalem Interesse? Auch dann, wenn die Bank unlauter geschäftet?

Und dann: doch noch einige Erkenntnisse.

Beim Cum-Ex-Prozess in Zürich sitzen drei Herren mittleren Alters in dunklen Anzügen und weissen Hemdkragen auf der Anklagebank. Sie sind keine Lämmer, die darauf warten, zur Schlachtbank geführt zu werden. Hier müssen sich drei Männer vor Gericht verantworten, die mit allen Wassern gewaschen sind, die wissen, was Gesetze sind und wie weit man sie dehnen kann: ein Bankangestellter, der jahrzehntelang reiche Kunden für Grossbanken betreut hat; ein Ex-Banker, der die Rechtsabteilung der Bank Sarasin leitete; ein Rechtsanwalt, der sich jeden Tag mit Gesetzen und deren Lücken beschäftigt.

Sie sind ein Umfeld gewohnt, in dem Millionen verschoben und vervielfacht werden – aber eben auch mal verloren gehen. Ein Umfeld, in dem mit harten Bandagen gekämpft wird, um zum Recht zu kommen – also zu Geld.

Man muss sich keine Illusionen machen: Die Beschuldigten, zwei Ex-Banker und ein Anwalt der Reichen, sind gewiss nicht die edlen Ritter, als die sie sich geben.

Aber: Schmutzige Milliardengeschäfte wie Cum-Ex werden (fast) nie von edlen Rittern aufgedeckt.

Whistleblower unterstützen in der Regel die Systeme, die sie später anklagen. Sie sind selten sympathisch und oft von allem anderen als von noblen Motiven getrieben: schon eher von Rache, gekränkter Eitelkeit – und halt auch von Geld.

Ob diese Erkenntnis auch vor Gericht etwas wert ist?

Die 9. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich unter dem Vorsitz von Abteilungspräsident Sebastian Aeppli wird das Urteil am 11. April 2019 verkünden.

Illustration Friederike Hantel