Helden oder Spione

Wie nah stehen sich Strafverfolger und Banken? Drei deutsche Informanten in einem mutmasslichen Steuerbetrugsskandal werden wegen Wirtschaftsspionage angeklagt. Das wirft ein Schlaglicht auf das Rollenverständnis der Schweizer Justizbehörden.

Von Sylke Gruhnwald, Carlos Hanimann, Ariel Hauptmeier, Christof Moser und Oliver Schröm («Correctiv»), 21.03.2018

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Illustration. 3 Männer schauen zur Tür herein, Talheimer sitzt an seinem Computer
Plötzlich öffnete sich die Tür zu Josef Talheimers Büro, ohne dass zuvor jemand angeklopft hatte. ZDF/Frontal 21

In aller Kürze geht diese Geschichte so: Ein Angestellter entwendet einer Bank Dokumente und hilft so, einen gigantischen Steuerraub aufzudecken. Die deutschen Behörden ermitteln, sie lassen auch Schweizer Banken durchsuchen.

Ganz anders die Staatsanwaltschaft Zürich: Sie klagt nun den Whistleblower und seine mutmasslichen Komplizen an – wegen wirtschaftlichen Nachrichtendienstes und Verletzung des Bankgeheimnisses. Geht es nach ihr, wandern die Männer für mehr als drei Jahre ins Gefängnis.

Der Fall wirft Fragen auf: Ist es ein politischer Prozess? Verfolgt die Schweizer Justiz gravierende Delikte oder führt sie sich als Heimatschutzbehörde auf? Messen die deutschen und die schweizerischen Behörden mit zweierlei Mass? Legt die Zürcher Staatsanwaltschaft die schützende Hand über den Finanzplatz?

Und überhaupt, wer ist dieser Whistleblower – ein Enthüller oder ein Spion? Ein Idealist oder ein Dieb? Half er, fragwürdige Geschäfte aufzudecken – oder ging es ihm um den schnellen Gewinn?

Die Recherchekooperation

Ein Team von Journalisten der Rechercheplattform «Correctiv» und der Republik hat gemeinsam mit der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» und dem ZDF-Magazin «Frontal 21» Gerichtsunterlagen, geheime Ermittlungsakten, bankinterne Unterlagen und E-Mails ausgewertet. Die Reporterinnen haben Hintergrundgespräche und Interviews mit Beschuldigten, Ermittlern, Wissenschaftlern und Insidern geführt.

Die Festnahme

Die Geschichte beginnt mit einer Verhaftung, dem Augenblick, in dem sich der Zürcher Staatsanwalt und der deutsche Whistleblower das erste Mal begegnen. Es ist der 13. Mai 2014, ein kühler, bewölkter Tag, am Nachmittag wird es regnen. Josef Talheimer ist an diesem Morgen schon früh im Büro, es ist erst kurz nach sieben, aber sein Computer läuft schon, und neben der Tastatur dampft ein Kaffee im Pappbecher. Da öffnet sich plötzlich, ohne dass es geklopft hätte, die Tür zu seinem Büro. Vier Männer in Zivil treten ein, und einer von ihnen sagt den Satz, den Josef Talheimer sein Lebtag nicht vergessen wird: «Guten Morgen, Polizei, Sie sind verhaftet.»

Die Beamten durchsuchen erst ihn, dann sein Büro, nehmen ihm seine beiden Handys ab und führen ihn nach draussen, wo sie ihn in einen grauen Opel verfrachten, um ihn ins Zürcher Bezirksgefängnis zu bringen. Parallel dazu wird sein Zimmer durchsucht, das er zur Untermiete in Wollerau bewohnt, im Kanton Schwyz. Doch nicht einmal ein richtiges Bett finden die Beamten dort.

Talheimer werden Handschellen angelegt
Die Beamten durchsuchten den Verdächtigen und sein Büro. ZDF/Frontal 21

Eigentlich heisst Talheimer anders, aber er will seinen richtigen Namen nicht in den Medien lesen. Bei seiner Geburt schnürte ihm die Nabelschnur die Luft ab, so kam er halbseitig spastisch gelähmt auf die Welt. Wenn er geht, zieht er ein Bein nach, aber seine Sprache ist klar und flüssig. Er ist gelernter Anwalt, seit langem arbeitet er für Schweizer Banken. Mehrere Jahre hat er bei der Privatbank Sarasin die Compliance-Abteilung geleitet, war also dafür zuständig, dass Regeln und Gesetze eingehalten werden.

Und das wurden sie nicht, fand Talheimer. Mehrfach will er seinen Arbeitgeber darauf hingewiesen haben, dass er nicht einverstanden sei mit den sogenannten Cum-Ex-Deals, komplexen Finanzgeschäften, bei denen reiche Investoren den deutschen Staat betrügen. Doch niemand in der Bank, so stellt er es später dar, habe auf ihn gehört. Anfang 2014 verlässt er die Bank Sarasin. An seinem letzten Arbeitstag druckt er Unterlagen aus und nimmt sie mit nach Hause. Er ahnt nicht, dass die Druckerdaten ihn verraten.

Auch darum ist ihm nun Peter Giger auf den Fersen, der Staatsanwalt.

Giger ist ein eleganter Mann. Er hat ein schmales Gesicht, graue, nach hinten gekämmte Haare und trägt eine randlose Brille. Er ermittelt für die Zürcher Staatsanwaltschaft III, die die grossen Fische jagt: Wirtschaftskriminelle, Geldwäscher, Steuerhinterzieher. In der Bankenwelt kennt man Peter Giger: Er war es, der den Whistleblower Rudolf Elmer wegen «Verletzung des Bankgeheimnisses» ins Gefängnis bringen wollte, weil dieser der Plattform Wikileaks Unterlagen zugespielt hatte. Staatsanwalt Giger kannte kein Pardon: Er nannte den Whistleblower einen «skrupellosen Verräter» und forderte ein Berufsverbot für den Mann; die Bankenbranche müsse vor ihm geschützt werden. (2016 wurde Elmer vom Hauptanklagepunkt der Verletzung des Bankgeheimnisses freigesprochen.)

Talheimer wird abgeführt
«Guten Morgen, Polizei, Sie sind verhaftet» – diesen Satz wird Josef Talheimer sein Leben lang nicht mehr vergessen. ZDF/Frontal 21

Nun, Anfang 2014, ist der Staatsanwalt Josef Talheimer auf den Fersen. Dessen ehemaliger Arbeitgeber, die Bank Sarasin, ist in einen millionenschweren Schadenersatzfall verwickelt, und plötzlich hat die Gegenseite interne, streng vertrauliche Dokumente aus dem Hut gezaubert. Woher kommen sie? Wer hat sie ihr zugespielt?

Die Untersuchungshaft

Der Verdacht fällt auf Josef Talheimer. Die Bank heuert offenbar Privatdetektive an, um ihn zu beschatten. Der Verdacht erhärtet sich – und am Morgen des 13. Mai marschiert Staatsanwalt Peter Giger mit zwei Polizisten in Zivil und einem Sicherheitsangestellten der Bank ins Büro von Josef Talheimer.

Noch am selben Tag, um 14.45 Uhr, verhört ihn Staatsanwalt Giger in der Amtsstelle an der Weststrasse. Giger konfrontiert ihn mit der Anzeige der Bank Sarasin, Josef Talheimer streitet zunächst alles ab. Nein, er habe zu keinem Zeitpunkt Unterlagen weitergegeben. Staatsanwalt Giger glaubt ihm nicht und nimmt Josef Talheimer in Haft, da Flucht- und Verdunkelungsgefahr bestehe.

Talheimer liegt auf seinem Bett in der Zelle
Josef Talheimer ist fast sechs Monate im Untersuchungsgefängnis Dielsdorf. Der halbseitig spastisch gelähmte Mann beklagt sich, dass die verabreichten Medikamente seine Wahrnehmung beeinträchtigen. ZDF/Frontal 21
Medikamente werden in die Zelle gereicht
3 Männer sitzen in der Zelle vor einem TV

Josef Talheimer wird ins Untersuchungsgefängnis von Dielsdorf gebracht, einem Vorort von Zürich. Fast sechs Monate lang wird er dort eingesperrt sein, in einer Zelle mit fünf anderen Gefangenen. Bis heute beklagt er sich, dass die Haft eine Tortur gewesen sei. Fast rund um die Uhr lief der Fernseher. Wegen seiner spastischen Lähmung hätte er eine orthopädische Matratze und regelmässige Physiotherapie gebraucht – was er zunächst nicht bekam. Gegen die starken Schmerzen verabreichte ihm der Gefängnisarzt Schmerzmittel, auch das Opioid Tramal. Talheimer nennt das später einen «Giftcocktail», der seine Konzentration während der Einvernahmen eingeschränkt habe. Staatsanwalt Giger vernimmt ihn mindestens ein Dutzend Mal, die Verhöre ziehen sich über Stunden hin. Bis Josef Talheimer irgendwann aufgibt. Und gesteht.

Der Investor

Eigentlich beginnt diese Geschichte aber noch einige Jahre eher, im März 2011. Da teilt der deutsche Milliardär Erwin Müller der Bank Sarasin per Fax mit, dass er gern 50 Millionen Euro investieren wolle, in den Sheridan Solutions SICAV-FIS Equity Arbitrage Fund. Der Fonds steht nur professionellen Anlegern offen und ist eigens dafür angelegt, den deutschen Staat über die sogenannte Cum-Ex-Lücke im Steuerrecht zu schröpfen. Dabei wurden – bis die Lücke 2012 geschlossen wurde – in grossem Stil Aktien gekauft und gleich wieder abgestossen, nur um sich die Kapitalertragssteuer mehrfach erstatten zu lassen. Die zu erwartende Rendite für Müllers 50-Millionen-Euro-Investment: komfortable 12 Prozent.

In Deutschland kennt man Erwin Müller als den «Drogeriekönig». Zunächst war er Coiffeur, 1968 machte er erstmals Schlagzeilen, als er nach dem «Ulmer Figarostreit» aus dem Berufsverband flog – er hatte darauf bestanden, seine Salons auch montags zu öffnen. Nicht lange darauf gründete er die ersten Drogeriemärkte; heute arbeiten in den mehr als 600 Filialen des Konzerns über 30’000 Mitarbeiter. Müller, inzwischen 85 Jahre alt, ist noch immer der Chef.

Einen Teil seines Geldes hat er bei der Bank Sarasin investiert, der alten Basler Privatbank. Die kündigt 2010 an, nur noch Weissgeld anzunehmen – und wollte unter anderem dadurch wachsen, dass sie sich auf «Ultra High Net Worth Individuals» (UHNWI) mit «Risikofähigkeit» spezialisierte. Die Banker nennen das Projekt «Gipfelsturm». Drogeriekönig Müller war so ein «UHNWI». Wegen seines Milliardenvermögens und wegen seiner Risikofähigkeit: Bei Wetten gegen den Schweizer Franken hatte er schon mal 235 Millionen Euro verzockt.

Auch dieses Mal geht sein Investment schief. Die deutschen Behörden entdecken das Cum-Ex-Schlupfloch; am 1. Januar 2012 stopfen sie es. Der Sheridan-Fonds bricht zusammen, Investor Müller verliert fast 50 Millionen Euro – und wehrt sich dagegen. Plötzlich behauptet er, die Deals auf Kosten der deutschen Steuerzahler nicht durchschaut zu haben. Er fühlt sich um sein Geld gebracht, betrogen und falsch beraten. Schuldig: die Bank Sarasin.

Er beauftragt den Stuttgarter Anwalt Eckart Seith, die Bank zu verklagen. Im März 2013 reicht Eckart Seith am Landgericht Ulm Klage auf Schadenersatz ein. Und der Anwalt recherchiert. Wie er auf Josef Talheimer gestossen ist und auf einen weiteren ehemaligen Sarasin-Mitarbeiter, nennen wir ihn den Mittelsmann – das ist unklar. Fest steht nur: Im März 2013 kommen die drei Männer zum ersten Mal zusammen, in einem Restaurant in Schaffhausen.

Das Treffen

Josef Talheimer, der Mittelsmann und Rechtsanwalt Eckart Seith haben sich in der Pizzeria Santa Lucia verabredet, in der Schwertstrasse 1 mitten in der Altstadt. Sie ziehen sich in den Weinkeller zurück, einen grossen, fensterlosen Raum mit italienischer Wandbemalung. Keine zehn Minuten vergehen, da ist man beim Du. Die Bedienung trägt Essen und Wein heran und serviert alles auf einem grossen Tisch. Die drei haben viel zu besprechen, man kann es nachlesen in einem Einvernahmeprotokoll. Sie überlegen, was helfen könnte, die Klage zum Erfolg zu bringen; sie vereinbaren, dass sie sich bald wieder treffen wollen.

Das Jahr 2013 nimmt seinen Lauf. Mehrere Male treffen sich die drei Männer: in Stuttgart und in Stein am Rhein, im Schwarzwald und im Hotel Schweizerhof am Zürcher Hauptbahnhof. Dokumente verlassen die Bank und tauchen in Deutschland wieder auf, unter anderem eines, das später entscheidend beitragen wird zu Drogeriekönig Müllers späterem Sieg vor Gericht: das Gutachten einer Frankfurter Kanzlei, von der Bank Sarasin selbst in Auftrag gegeben. Ja, ist darin zu lesen, die Bank habe den Investor falsch beraten, er habe also Anspruch auf Schadenersatz. Es ist ein sensibles, absolut vertrauliches Dokument der Bank Sarasin – das plötzlich am Landgericht Ulm als Beweis vorgebracht wird.

Rechtsanwalt Eckart Seith schiesst derweil aus vollen Rohren gegen die Bank Sarasin. Er informiert die deutschen Steuerbehörden, die Finanzaufsicht Bafin, die Staatsanwaltschaft über seine Erkenntnisse in Sachen Cum-Ex. In Deutschland wird der Steuerraub in dieser Zeit zum Skandal. Bald ist klar, dass Banker und Rechtsanwälte, Börsenmakler und Steuerberater den deutschen Staat um mindestens 5,3 Milliarden geschröpft haben. Es könnten aber über 30 Milliarden Euro sein. Im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages ist später die Rede von «organisierter Kriminalität».

Die Staatsanwaltschaft Köln leitet ein Verfahren wegen bandenmässiger Steuerhinterziehung und Betrug ein und bittet auch die Zürcher Staatsanwaltschaft um Rechtshilfe. Es dauert nicht lange, da werden Privatwohnungen und Büros in den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Graubünden, St. Gallen, Schwyz, Zürich und Zug durchsucht, auch jene der Bank Sarasin. Bis heute ermitteln die deutschen Behörden, in inzwischen über 400 Fällen.

Auf Schweizer Seite hingegen – bleibt die Sache liegen. Und das, obwohl Rechtsanwalt Eckart Seith auch bei der Zürcher Staatsanwaltschaft III Strafanzeige gegen die Manager der Bank Sarasin erhoben hat. Bearbeitet wird sie von Staatsanwalt Peter Giger. Doch er unternimmt nichts, sondern schubladisiert die Anzeige. Mehr noch: Er sendet der Bank im Mai 2013 «wie gewünscht» die Strafanzeige zu – was heikel ist. Er setzt sich damit dem Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung aus. Eine entsprechende Untersuchung läuft noch.

Ein gutes Jahr später hakt Rechtsanwalt Eckart Seith nach, warum die Zürcher Staatsanwaltschaft nichts gegen die Bank unternehme. Staatsanwalt Peter Giger antwortet per E-Mail vom 23. Juni 2014: «Der interessante Fall wird bearbeitet, sobald es die Prioritätenordnung zulässt.»

Seine Prioritätenordnung in diesem Fall ist eine andere. Er jagt nicht die Bank, sondern den Verräter. Als Staatsanwalt Peter Giger diese E-Mail schreibt, im Juni 2014, sitzt Josef Talheimer bereits seit sechs Wochen in U-Haft. Und hier, in den Verhören mit dem mutmasslichen Spion, legt Staatsanwalt Peter Giger plötzlich einen ganz anderen Eifer an den Tag.

Das Verhör

Noch immer sitzt Josef Talheimer ein im Bezirksgefängnis Dielsdorf. Regelmässig wird er in diesen Monaten von Staatsanwalt Giger befragt, unter anderem am 12. Juni 2014.

Talheimer wird verhört
Die Verhöre von Staatsanwalt Peter Giger dauerten oft mehrere Stunden, auch wenn Josef Talheimer sagte, er sei «körperlich im tiefroten Bereich». ZDF/Frontal 21

Giger: «Wie geht es Ihnen gesundheitlich?»
Talheimer: «Mir geht es gesundheitlich sehr schlecht, und zwar von Tag zu Tag schlechter. Ich erhalte dreimal täglich Schmerzmittel. Ein Mittel gegen die Spastik, ein Mittel gegen Übelkeit, dies als Konsequenz gegen die Nebenwirkung der Medikamente, sowie ein Magenmittel. Ich habe das Schmerzmittel am heutigen Tag reduziert, um meine Wahrnehmungsfähigkeit auf ein ausreichendes Niveau zu bringen. Ich habe starke Schmerzen im Rückenbereich, in der Hüfte, besonders in der rechten Hüfte, und habe seit dem Zeitpunkt meiner Verhaftung etwa neun Kilo an Gewicht verloren.»

Giger verhört ihn trotzdem über vier Stunden, von 14.27 Uhr bis 18.47 Uhr. Erst als Talheimer sagt, er sei «körperlich im tiefroten Bereich», ist Schluss. Noch immer weigert er sich, ein Geständnis abzulegen.

Am 20. Juni das nächste Verhör. Talheimer sagt, er sei mehrfach gestürzt und glaubt, dies liege an den Medikamenten; am Vortag habe er sich mehrfach übergeben. Nach gut einer Stunde dieser Dialog:

Talheimer: «Ich möchte wirklich im Hinblick auf meinen angeschlagenen Gesundheitszustand heute keine weiteren Aussagen tätigen.»
Giger: «Nach meiner Wahrnehmung sind Sie noch gut einvernahmefähig, die Einvernahme dauert erst gut eine Stunde. Sie können also mit Ihren Offenlegungen jetzt einmal beginnen.»
Talheimer: «Das Problem ist, dass ich wirklich im Moment viele Dinge durcheinanderbringe, und dass ich hier insbesondere korrekt meine Aussagen treffen möchte, wozu ich mich im Moment nicht in der Lage sehe.»
Giger: «Sie sind Anwalt. Sie sprechen nach wie vor druckreif ins Protokoll. Ihre Aussagen sind stringent. Sie werden nach weiterer Haft nicht fitter sein als heute. Das alles wissen Sie selber. Ich glaube daher nicht, dass Sie offenlegen wollen.»
Talheimer: «Diese Thematik möchte ich nicht ohne Vorüberlegungen und Notizen darstellen. Ich bin wirklich beeinträchtigt in meiner Wahrnehmung. Ich habe Schwindelgefühle und seit zwei Tagen kaum etwas gegessen. Mir geht es sehr schlecht, wirklich sehr schlecht.»

Portrait Staatsanwalt
Der Staatsanwalt: Peter Giger.
Portrait Talheimer
Der Whistleblower: Josef Talheimer.

Drei Wochen später sagt Talheimer: «Ich muss hier raus. Ich würde Ihnen alles sagen.» Schliesslich packt er aus, belastet sich selbst und Rechtsanwalt Seith. Der habe ihn angestiftet, die Unterlagen zu besorgen. Noch etwas sagt Talheimer aus: Es sei auch um eine Provision gegangen, sie sollte 1 Prozent der Klagesumme betragen, also knapp eine halbe Million Euro für die beiden Männer zusammen. (Rechtsanwalt Eckart Seith bestreitet diese Darstellung. Er betont, es sei kein Geld geflossen für die Dokumente.)

Am 6. November 2014 wird Josef Talheimer aus der Untersuchungshaft entlassen und verlässt die Schweiz in Richtung Norden.

Die Anklage

Das Hickhack zwischen dem Stuttgarter Rechtsanwalt und dem Zürcher Staatsanwalt geht unterdessen weiter. Im Mai 2015 schreibt Staatsanwalt Giger an Rechtsanwalt Seith, man prüfe, ob man gegen ihn eine Untersuchung einleite. Im August 2015 revanchiert sich Rechtsanwalt Seith – er beschwert sich über den Zürcher Staatsanwalt und reicht eine Strafanzeige ein: Peter Giger habe sein Amt missbraucht und Amtsgeheimnisse verraten, indem er die Anzeige gegen die Bankmanager an die Bank weiterleitete, anstatt gegen sie zu ermitteln.

Das Obergericht Zürich lässt die Strafanzeige zu. Im September 2016 wird Staatsanwalt Giger vom Fall abgezogen. Die offizielle Begründung: «Ressourcenplanung». Ein Nachfolger übernimmt.

Mittlerweile ist auch die Bundesanwaltschaft über die Ermittlungen informiert. Sie überlasst den Fall aber der Zürcher Staatsanwaltschaft. Auch das Justizdepartement hat Kenntnis vom Verfahren: Weil Peter Giger wegen wirtschaftlichen Nachrichtendienstes, also Wirtschaftsspionage, ermittelt, erteilt Justizministerin Simonetta Sommaruga im September 2015 in Absprache mit dem Aussendepartement ihre Erlaubnis zur Strafverfolgung – ein Routinevorgang, wie er jährlich zwischen zehn- und fünfzehnmal vorkommt.

Drogeriekönig Erwin Müller gewinnt unterdessen in erster Instanz: Im Mai 2017 verpflichtet das Landgericht Ulm die Bank Sarasin, rund 45 Millionen Euro Schadenersatz an ihn zu zahlen. Ein Erfolg auch für seinen Rechtsanwalt Eckart Seith. Doch für den hat der Sieg einen hohen Preis: Am 5. März 2018 erhebt die Staatsanwaltschaft Zürich III Anklage gegen Rechtsanwalt Eckart Seith, den Mittelsmann und Josef Talheimer. Der Vorwurf: wirtschaftlicher Nachrichtendienst in einem schweren Fall, zu bestrafen mit mehr als drei Jahren Haft.

Der Anwalt

Stuttgart-Süd, eine Gründerzeitvilla in bester Hanglage, im ersten Stock liegt die Kanzlei von Rechtsanwalt Eckart Seith. Er ist 60 Jahre alt, gross und schlank und trägt einen dunklen Anzug, eine blonde Locke fällt ihm in die Stirn. Erst bietet er Kaffee an, später auch Gummibärchen, die er im Auto seiner Tochter entdeckt habe; auch er selbst nascht nun davon.

Seith bestreitet, dass er Josef Talheimer zum Diebstahl von Dokumenten angestiftet habe. Nein, es gehe hier um etwas ganz anderes: Die Zürcher Staatsanwaltschaft schütze eine Bank, die mit fragwürdigen Methoden seinen deutschen Mandanten Müller über den Tisch gezogen habe. Doch anstatt dem nachzugehen, mache sie nun Jagd auf jene, die den Cum-Ex-Betrug aufgedeckt hätten. «Hinter einem formal korrekten Erscheinungsbild steht die Auftragsjustiz der heimischen Finanzindustrie», sagt er.

Er habe sich nicht strafbar gemacht – und auch Josef Talheimer nicht. «Es ging um die Aufdeckung von Straftaten, und es ging um die Durchsetzung begründeter Schadenersatzansprüche», sagt er. Das Geschäftsgeheimnis einer Bank sei nur dann geschützt, wenn sie rechtmässig handle. Das bestätige ein Gutachten der zwei Strafrechtsexperten Martin Killias und Daniel Jositsch. Darin schreiben sie, dass die Unterlagen der Bank Sarasin «Vorgänge über illegale Geschäftspraktiken betrafen». Die aber seien nicht schutzfähig. Mit anderen Worten: Wenn die Cum-Ex-Geschäfte illegal waren, hat sich Josef Talheimer nicht strafbar gemacht. Waren sie es? Kann man ein Geschäft rückwirkend für illegal erklären? Noch gibt es dazu kein Urteil.

Staatsanwalt Peter Giger hält offenbar selbst wenig von den Cum-Ex-Geschäften. Als er sich in einem Brief an die Bundesanwaltschaft wendet, um diese über die laufenden Verfahren in Kenntnis zu setzen, schreibt er über Cum-Ex-Deals: «Eine eher fragwürdige Finanzanlage», die die Bank Sarasin «an sehr reiche Kunden» vertrieben habe. «Diese fusst auf einer Steuerumgehung. Die Kunden der Bank J. Safra Sarasin AG erlitten sehr grosse Schäden, als der deutsche Staat die einschlägige Steuerlücke schloss.»

Josef Talheimer ist heute 51 Jahre alt und arbeitet inzwischen als Anwalt in einer grossen deutschen Stadt. Auch er ist sich keiner Schuld bewusst. In seinen Augen wurde er in der Schweiz verfolgt und eingesperrt, weil er als Whistleblower half, das Cum-Ex-System aufzudecken. «Man wird Whistleblower, indem man ein Unrecht sieht, in dem man – wie in meinem Fall – glasklar vor Augen Straftaten sieht, und mit aller Vorsicht zunächst und dann mit der gebotenen Deutlichkeit versucht, auf diese Missstände hinzuweisen, und einfach nur ein Schulterzucken erntet.»

Und weiter: «Die Unterlagen haben deutliche Anhaltspunkte für strafbare Handlungen führender Mitarbeiter der Bank bis hin zu einem Mitglied der Geschäftsleitung beinhaltet.» Dass ihm ein halbes Prozent der Schadenersatzsumme in Aussicht gestellt worden sein soll, also rund 250’000 Euro, sei für ihn nicht entscheidend. «Das spielte für meine Motivation keine Rolle», sagt Josef Talheimer mit fester Stimme. «Ich habe die Unterlagen weitergegeben, um das betrügerische System der Cum-Ex-Deals aufzudecken.»

Die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft weist die Vorwürfe von Talheimer und Seith zurück. Sie verweist zudem auf ein Strafverfahren, das gegen «Exponenten der Bank Sarasin» geführt werde. Dieses Verfahren sei nach wie vor hängig, da sie auf die Ergebnisse eines in diesem Zusammenhang geführten Ermittlungsverfahrens in Deutschland warte. Darüber hinaus äussert sich die Staatsanwaltschaft Zürich nicht, da es sich um ein laufendes Verfahren handelt.

Die Bank will sich auf Anfrage nicht äussern.

Making-of: Spionagevorwurf gegen Journalisten

Co-Autor Oliver Schröm ist Chefredaktor der Rechercheplattform «Correctiv». Er befasst sich seit langem mit den Cum-Ex-Geschäften. 2014 war er einer der Investigativreporter des deutschen Magazins «Stern», die die Cum-Ex-Geschäfte von Drogeriekönig Erwin Müller und anderen deutschen Millionären als Erste aufgriffen. Daraufhin geriet auch Schröm ins Visier von Staatsanwalt Peter Giger. Gemäss Justizunterlagen machte die Zürcher Staatsanwaltschaft bei Schröms Recherchen «einen allfälligen Fall von Art. 273 StGB» aus, dem Gesetzesparagrafen für wirtschaftlichen Nachrichtendienst. Nach den Veröffentlichungen meldete sich ein deutscher Medienanwalt im Auftrag der Bank Sarasin bei Schröm und drohte ihm mit Strafverfolgung. Der «Stern» seinerseits beauftragte einen Schweizer Anwalt. Der kontaktierte Staatsanwalt Peter Giger. Giger weigerte sich, Auskunft zu geben. Bis heute wurde keine Anklage erhoben. Die Zürcher Staatsanwaltschaft äusserte sich nicht zum Spionagevorwurf gegen Schröm.