Popgeschichte und Kneipenschlägerei
«Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte»
Bodo Mrozek hat einen Ziegelstein verfasst, mehr als 800 Seiten über die Jahre 1956 bis 1966. Warum kommen solche Bücher erst jetzt?
Von Tobi Müller, 01.04.2019
Es ist noch nicht lange her, dass die meisten Menschen nicht von Mode, sondern von Bekleidung sprachen. Auch Teenager – nur dass man Jugendliche damals noch nicht so nannte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem einsetzenden Wirtschaftswunder des Westens, begann sich das zu ändern. Modische und sprachliche Zeichen fingen an, eine neue Bedrohung zu markieren: die Jugend aus den schlechten Vierteln. «Halbstarke», teddy boys, young rebels, blousons noirs.
In England trugen sie aristokratische Anzüge aus der Zeit King Edwards, die schon Mitte der Fünfzigerjahre gut vierzig Jahre im Schrank gehangen hatten (oder billig nachgeschneidert wurden). In den USA Lederjacken und Fett im Haar. Die westdeutschen Jugendlichen bewunderten die hautengen weissen T-Shirts der US-amerikanischen Soldaten, die es nirgends zu kaufen gab. In der Not trugen die «Halbstarken» die Feinripp-Unterhemden ihrer Väter verkehrt herum unter der Jacke, mit dem tiefen Ausschnitt am Rücken und dem hohen am Hals – so sah es zumindest von vorne fast wie das Original aus.
Und alle standen sie an Strassenecken, fuhren laute Zweiräder und hatten ausserhalb der engen Arbeiterwohnungen ihrer Familien keine Orte in der Stadt. Die Öffentlichkeit drehte durch. In England sprach man von der delinquency scare, der Angst vor Jugendkriminalität, die von keiner Statistik gedeckt wurde. Selbst die vielen Auftragsstudien – akademische für Regierungen oder populäre für den Buchmarkt –, die die Angst nicht beglaubigen konnten, profitierten von der Paranoia, die das neue Phänomen der Jugendkultur auslöste. Und in der DDR galt derweil noch jede Ostberliner Kneipenschlägerei als vom kapitalistischen Ausland gesteuert: «Drüben erdacht, in Köpenick vollbracht», wie es 1959 in der «Berliner Zeitung» hiess.
Die Geburt des Jugendzentrums
Als im Westberliner Stadtteil Wedding 1959 Jugendkrawalle ausbrachen, schlug die Tageszeitung «Die Welt» vor, die Mopeds zu konfiszieren. Der Bezirksbürgermeister hatte eine bessere Idee: Er forderte einen Treffpunkt ausserhalb der Wohnstrassen – und eine Jukebox dazu. Es war die Geburt des Jugendzentrums. Und einer der vielen Umschlagspunkte zwischen «Skandalisierung und Etablierung», wie der Berliner Historiker Bodo Mrozek diese Dialektik nennt in seinem Buch «Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte».
Bodo Mrozek: «Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte», Suhrkamp 2019, 865 Seiten, ca. 42 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.
Mrozek beschreibt ausgiebig, wie die Arbeiterjugend über abweichende Kleidungscodes kriminalisiert wurde und welche Rolle individuelle Verkehrsmittel dabei gespielt haben. Ein paar Filme kommen auch vor, Musik aber spielt lange keine dominante Rolle. Die Ursprünge von Pop sind nur zum Teil musikalisch, aber durchweg proletarisch. Pop ist mehr als nur Musik, war schon partizipativ, bevor Teilhabe in jedem Antrag auf Fördergelder stand; Pop hing an eigensinnigen Verhaltensweisen, die sich nicht gut kontrollieren liessen; schwankte aufgeregt zwischen den künstlichen Eingriffen der elektrischen Verstärkung, der hyperkapitalistischen Vervielfältigung und dem hyperauthentisch sein wollenden Moment der Aufführung im Konzert. Pop ventilierte schon immer im roten Bereich. Und doch ist seine Geschichte auch eine Erzählung seiner Einhegung, Zähmung und Beruhigung.
Mrozek hat das alles im Blick, doch er grenzt sich ausdrücklich ab von einer «Übertheoretisierung» und rückt als Historiker die Quellenforschung in den Vordergrund. Das ist eine Spitze gegen den Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, der mit einem ähnlich dicken Buch – es hiess lapidar «Über Pop-Musik» – vor fünf Jahren mit semiotischen Theorien auf die Popgeschichte blickte. Diederichsens Bücher liefen nie durch die Beglaubigungsapparate der Universität, was die Freiheit eröffnet, die Sprachregister zu wechseln und sich auch impressionistisch oder persönlich dem Gegenstand zu nähern (eine Freiheit, die Diederichsen nutzt).
Mrozek liefert nun eine späte Doktorarbeit, die gut lesbar bleibt. Das Buch überrascht tatsächlich nicht mit theoretischen Zugängen. Das Pfund seiner vergleichenden Geschichte versteckt sich in den grossen Linien, mehr noch aber in den detaillierten Darstellungen, die oft genug verblüffend und – darf man das unironisch sagen? – tatsächlich lehrreich sind. Und zwar anders, als man erst denkt … doch zurück zum Buch.
Polizeireporter beim Rockkonzert
In den Fünfzigerjahren hörte die Mittelschichtsjugend traditionellen Tanz-Jazz, die Gymnasiasten Zuhör-Jazz wie Bebop. Die Arbeiterkinder hörten Rock and Roll und Schlager. Und zum Konzert von Bill Haley, dessen «Rock around the Clock» zuerst mit dem Film «Blackboard Jungle» nach Europa kam, schickten die Zeitungen die Polizeireporter. Die Kulturberichterstatter hatten einen freien Abend. Nicht umsonst lautete der deutsche Titel von «Blackboard Jungle» unmissverständlich «Saat der Gewalt». Der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft waren die neuen Jugendkulturen völlig fremd.
Mrozek zeigt, wie die Dinge im Zeitraum von 1956 bis 1966 ins Rutschen kommen, wie Pop die soziale Leiter hochklettert, andere Schichten erreicht und was es brauchte, bis aus der Schmuddelware ein gesellschaftliches Scharnier neuen Typs entstehen konnte, das Politik auf höchster Ebene mit Pubertierenden in Berührung brachte. Als die Beatles 1964 bei einem Empfang auf der britischen Botschaft in Washington ernsthaft von Fans bedrängt wurden, ein Mädchen den armen Ringo um eine Haarsträhne kürzer machte und sich mit dem Büschel gleich vor der Botschaft fotografieren liess, hatte das wochenlange diplomatische Verstimmungen zur Folge.
Richtig interessant wird das Buch da, wo es diesen im Rückblick raschen Sprung vom teddy boy als Problembären zum Beatles-Fan als Faktor im Bruttosozialprodukt nicht einfach als Geschichte einer geglückten Liberalisierung erzählt. Zum einen, weil sich die Geschichte der mehrfachen Ausgrenzung von Jugendlichen bald wiederholt, in den Sechzigern über Frisuren. Zum anderen, weil Mrozek in jeder Phase seines Beobachtungszeitraumes auch die Illiberalität im Umgang mit Jugendkultur aufzeigt.
Auch in der Bundesrepublik mischen die Geheimdienste mit, wenn ein Jugendfilm aus der DDR wie «Berlin – Ecke Schönhauser» (1957), eine Antwort auf den BRD-Film «Die Halbstarken», verboten wird. Ein Jahr später untersagten die Kantone Waadt und Wallis den französischen Film «Les Tricheurs» von Marcel Carné, der ohne vorauseilende Moralkeule versuchte, mit Milieuschilderungen die Probleme der Jugend darzustellen. In der Stadt sah man das anders, auch bei der «Neuen Zürcher Zeitung», die im Verbot «einen Schildbürgerstreich» sah und «Die sich selbst betrügen» (wie «Les Tricheurs» auf Deutsch hiess) für «stark, kraftvoll und lebenswahr» hielt. Jugendkultur verhandelte also viel mehr als das Verhältnis der Generationen, es ging um Ideologie, um politische Systeme, um Stadt und Land.
Pop war immer international
Der Untertitel «eine transnationale Geschichte» benennt eine Stärke und eine kleine Schwäche des Buches. Die Stärke: Die bisher hegemonialen Popgeschichten aus Grossbritannien und den USA waren meistens blind für ihre nationalstaatlichen kulturellen Besonderheiten. Dass Mrozek neben den Stammgebieten von Rock und Pop auch in die beiden deutschen Staaten blickt, nach Frankreich, in die Schweiz und nach Jamaika schwenkt, zeigt zum einen, wie einfache kulturelle Erklärungen zu kurz greifen, etwa solche wie: Die deutsche Jugend lehnte sich auf gegen die Naziväter. Zum andern führt der fleissige Vergleich doch zu einigen Wiederholungen, die das Buch bremsen. Erhellend bleibt das Anekdotische: wie deutsche Mikrofone den Sound der amerikanischen Rock-and-Roll-Studios prägten zum Beispiel.
Es gibt einen klugen, aber ideologischen Kern des transnationalen Zugriffs: Popkultur sei von Anbeginn international ausgerichtet gewesen, gerade in den Arbeiterschichten, argumentiert Mrozek. Damit kontert er aktuelle deutsche Diskurse, die die Unterschicht pauschal als antiglobalistisch sehen wollen. Deshalb erfand ja die CDU ein Heimatministerium. Ob Mrozek da die globalen Warenströme der Musikindustrie nicht zu schnell mit einer internationalistischen Gesinnung ihrer Konsumenten gleichstellt, müsste man diskutieren. Und in einigen Fällen rechts ausgerichteter Jugendkulturen in Abrede stellen.
Mit etwas Wille zur historischen Parallele erfährt man im Buch aber auch viel über Pop als Schule der politischen Einflussnahme. Was könnte man heute noch lernen vom tatsächlich international vernetzten Lobbyismus, den Rock-and-Roll-Fanclubs per Briefpost aufzogen, um die Radios zu einem anderen Programm zu zwingen? An dieser Stelle wird Mrozek wunderbar szenisch, etwa wenn er einen Radioabend von 1956 rekonstruiert und den Regler von Sender zu Sender dreht. Rock and Roll lässt sich so gut wie gar keiner finden. Die Fanclubs aber machten Druck – und wurden übrigens zur grossen Mehrheit von Frauen geführt. Dass die Radios in den USA viel schneller auf diesen Druck reagiert haben, liegt wiederum an einem Umstand, den man als gewöhnlich linker Popkritiker (oder Historiker) nicht so gerne hört: Die amerikanische Radiolandschaft wurde Jahrzehnte vor der europäischen liberalisiert, die häufig kleinen, aber privaten Radiostationen hatten schlicht Schiss vor ihren Hörerinnen und Hörern.
Warum die Verlage erst ungefähr sechzig Jahre zu spät auf die Idee kommen, Popgeschichte oder Popkritik im deutschen Original zu veröffentlichen, statt englischsprachige Bücher zu übersetzen, bleibt ein Rätsel. Funfact: Der deutschsprachige Raum ist weltweit der drittgrösste Markt für Tonträger. Noch vor Grossbritannien.
Tobi Müller ist Kulturjournalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop- und Theaterthemen. Sein Dokumentarfilm «A1 – Ein Streifen Schweizer Strasse» (mit Mike Müller) hat 2016 den Zürcher Fernsehpreis erhalten. Für die Republik hat Tobi Müller bereits über die Theaterregisseurin Susanne Kennedy und den Musiker Herbert Grönemeyer geschrieben.