Almanya, ich komm aus dir
Der deutsche Superstar Herbert Grönemeyer hat ein neues Album und singt in einem Lied auch auf Türkisch. Warum spricht Mehrheitspop so selten Migranten an, bisher jedenfalls?
Von Tobi Müller, 03.11.2018
Als Mesut Özil im Sommer auf Twitter seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft bekannt gab, lasen viele seine drei Tweets als Trompetenstösse einer Staatskrise. Zwei Millionen Geflüchtete seit Herbst 2015, das war und ist zu schaffen. Aber der beste deutsche Spieler – die schönsten Pässe, die intelligentesten Läufe – wirft dem Fussballverband Rassismus vor? Weil der Verband und eine breite Öffentlichkeit den Anstand verloren, als sich Özil mit Recep Tayyip Erdoğan fotografieren liess, dem nicht sehr anständigen türkischen Präsidenten? Die Schweiz diskutierte über die Nationalspieler mit südosteuropäischem Hintergrund, über den albanischen Doppeladler beim Torjubel. Özils Abgang aber hinterlässt sehr tiefe Spuren, weil er den gleichen Acker pflügt wie die AfD. Die Frage, ob Deutschland Diversität aushält, beantwortete auch Özil mit einem Nein.
Die Rechten fühlten sich, wie immer, in der Hetze bestätigt – seht her, der Türke ist eben kein Deutscher. Und die Linken dachten: ein ganz schlechtes Signal gerade für junge Migranten und Deutsche mit Einwanderungsgeschichte, wenn einer wie Özil dem Land den Schuh gibt. Seither ist vieles mehr passiert. In Chemnitz jagte ein Mob alles, was anders aussah, und der Präsident des Verfassungsschutzes zweifelte die Echtheit eines Handyvideos an, das die Hetzjagd dokumentierte. Damit legte Hans-Georg Maassen nahe, dass Kanzlerin Merkel unrecht hatte, als sie von «Hetzjagd» sprach.
Nach diesem langen Sommer und der Unsicherheit, ob die Regierung sich auf eine Beschreibung von Realität einigen kann, betritt ein rotblonder Junge von 62 Jahren nach vier Jahren Albumpause die bundesdeutsche Angstlandschaft: Herbert. Bis Weihnachten ist es nicht mehr lange, in Deutschland ist der Erlöser bereits da. Ein Erlöser von nebenan. Mit dem kannste ein Pils trinken. Im Westen der Republik, wo Herbert herkommt, reicht ein Wort, um diese Haltung zu beschreiben: «normal», wobei man das auslautende «l» fast nicht mehr hört, das «r» sowieso nicht.
Er hat 17 Millionen Tonträger allein in Deutschland verkauft in den letzten vierzig Jahren, damit schlägt er alle lebenden Kollegen. Seiner Heimatstadt schenkte er 1984 einen Albumtitel, von dem ihm damals alle in der Musikindustrie abrieten. «4630 Bochum» war trotz Regionalstolz sein nationaler Durchbruch, der Titel ist bis heute eine Hymne für eine grosse Region, vielleicht aber doch für die ganze alte Bundesrepublik: «Tief im Westen / Wo die Sonne verstaubt / Ist es besser / Viel besser, als man glaubt.» Und dann: «Bochum, ich komm aus dir.» Man muss sehr cool sein, um nicht ein bisschen zu erwärmen, wenn man das hört, zum Beispiel aus den Kehlen eines vollen Ruhrstadions.
Die Weihnachtsbotschaft nach dem Sommer des Hasses: Herbert singt jetzt auch auf Türkisch im Lied «Doppelherz / Iki Gönlüm», zusammen mit dem Sänger und Rapper BRKN. Die Nummer hüpft und rollt orientalisch, sie hat einen schönen Druck und punktet doch mit Entspanntheit: «Erzähl mir von deiner zweiten Welt / Mit der dazugehör’gen Portion Gefühle.» Er singt «Gefühl-öh-öh» und setzt auf die Vokale zwei arabisierende Schlenker. Doppelherz, Doppeladler: Es ist völlig in Ordnung, sich nicht zu entscheiden.
Es ist die zweite Single seines Albums «Tumult», einer selbst für Herberts Verhältnisse politischen Platte, die am 9. November erscheint. Im Stück «Fall der Fälle» singt er Zeilen wie «kein Millimeter nach rechts» und «es lallt und hallt von überall». Und in «Taufrisch» sagt er: «Wir laufen uns hinterher / Denken nicht mehr quer / Wer drückt den Pausenknopf?» Herbert zeigt klare Kante, bellt aber nicht, wie es seine manchmal japsende Stimme nahelegt, sondern vermittelt.
Als Herbert das neue Album vor einem kleinen Publikum in Berlin vorstellt und das ZDF aufzeichnet, sitzen viele Deutschtürken in der Halle, in der vielleicht 300 Leute warten. Freunde von BRKN, der Andac Berkan Akbiyik heisst und aus einem bildungsbürgerlichen Kreuzberger Elternhaus kommt. Wichtig für Bild und Botschaft sind aber auch Promis und Intellektuelle. Der 2017 in der Türkei fadenscheinig inhaftierte Journalist Deniz Yücel strahlt mit seiner Frau, als das deutschtürkische Lied kommt. Ob Herberts Türkisch okay sei, frage ich Yücel über meine Sitznachbarin. «Niedlich, und total okay!» Direkt vor der Band, auf der Bühne, sitzt Shermin Langhoff, die das Berliner Maxim-Gorki-Theater mit einem postmigrantischen Programm überregional auf den Plan gesetzt hat. Nur der Aufnahmeleiter vom Fernsehen, Typ Animateur im Pauschalreiseparadies, scheint Shermin Langhoff nicht zu kennen. Gleich zweimal spricht er die berühmteste Intendantin Deutschlands so an: «Frau mit der in Polen gekauften Handtasche.»
Das einzige Problem: Fällt die Diversität überhaupt auf? Ein Mehrheitsdeutscher singt ein paar Zeilen auf Türkisch, und ein paar junge, herausgeputzte und ein paar erfolgreiche, gebildete Deutschtürken sitzen im Publikum. Es ist 2018, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Ankunft der ersten türkischen Arbeiter in Almanya. Warum ist Herbert in diesem Herbst so wichtig? Eine Antwort liefert die Psychogeografie seiner Heimat.
Herbert Grönemeyer, so wird er geschrieben. Gerufen wird er oft nur beim Vornamen, und das will etwas heissen in einem Land, in dem die Chefs gesiezt werden. Marius Müller-Westernhagen zum Beispiel, 1948 geboren, vier Jahre älter als Herbert und musikalisch sein Gegenspieler, heisst nur noch wie sein Nachname, Westernhagen. Doch der kommt aus dem schicken Düsseldorf, der Teppichetage des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Bis nach Bochum, auch in NRW, braucht man von Düsseldorf mit dem Auto nur eine Dreiviertelstunde. Genau wie nach Gelsenkirchen, wo Mesut Özil geboren wurde. Dazwischen liegt mehr als ein Jahrhundert Unterschied in der Alltagserfahrung.
Bochum liegt wie Gelsenkirchen im Ruhrgebiet, der Region der ehemaligen Kohlereviere und der Stahlindustrie. Seit mindestens 140 Jahren lebt man dort mit stetiger Einwanderung. Erst mit den Polen, als die noch wie ihre Herkunftsregionen hiessen, Masuren oder Kaschuben etwa. Der Bahnhof Gelsenkirchen, im 19. Jahrhundert erbaut, hatte den Übernamen Masurenbahnhof, damals ein Knotenpunkt für Arbeitsmigranten im ganzen Ruhrgebiet. Dann rief man die Türken, es kamen auch Italiener, Jugoslawen, später Russen, dann Araber. Wer im Ruhrgebiet einen Hammer zum Nägeleinschlagen will, fragt noch heute nach dem polnischen motek.
Diese Normalität ist bis heute zu spüren, etwa wenn man aus Berlin anreist und mit der Familie zwei lange und heisse Tage im Sportparadies Gelsenkirchen verbringt. Das weitläufige Freibad, im Innenbereich ein Spassbad mit Wellen und Rutschen, ist auf Schalke, wie der Stadtteil heisst, und liegt direkt neben dem Stadion des Erstligisten Schalke 04. Es ist übervoll, in manchen Berliner Bädern müsste man nicht lange auf Stress warten. Auf Schalke applaudieren mir zwei bärtige junge Araber zu, als der Kleinste vom Dreimeterbrett springt.
Ein weiterer Bart, kein Hipster, hat einen Lachanfall im Schwimmerbecken, als der Frühschwimmer schreit: «Papa, der Puller juckt!» Und als wir aufbrechen wollen, Monsieur zum vierten Mal zum Sprungturm will, danach «übrigens» noch auf die Wildwasserrutsche, und sich beschwert, schreitet der Opa einer türkischen Familie ein und sagt, ein Bier in der Hand: «Junge, brauchst du Rechtsanwalt, kommst du zu mir, ich bin Rechtsanwalt.» Danach Pommes in einer Bude im Industriegebiet von Bochum, Traditionsbetrieb seit 1967. Es waren schöne Tage in der Interkultur. Eine Woche später trat Özil zurück.
Man könnte einwenden: Kitsch. In Gelsenkirchen hat die AfD fast 17 Prozent geholt bei den Bundestagswahlen im letzten Herbst, in Bochum immerhin knapp 11 Prozent – das sind Gebiete, in denen die SPD in den Neunzigerjahren über 60 Prozent einfuhr. Und sicherlich gibt es im Ruhrgebiet Stadtteile, die in Armut und Unregierbarkeit kippen, wie einzelne Gegenden der Nordstadt von Dortmund oder Duisburg-Marxloh. Doch im Ruhrgebiet ist noch viel stärker als anderswo präsent, was auf dem Spiel steht: das gute Zusammenleben. Der freundliche Umgang, der wenige Worte braucht. Normal, ne.
Deshalb sagt Herbert Grönemeyer beim Vorabkonzert fast beschwichtigend: «Wir müssen stabil in der Mitte bleiben, wir wollen keine Rechtsdrift. Und wir müssen ruhig bleiben, bis das verebbt.» Er macht sich Sorgen, aber ohne die deutsche Angst. Den Titel «Tumult» versteht er auch als Zeichen der Möglichkeiten, nun ein paar Dinge zu richten. Ein paar Gesten zu vollführen, die klein scheinen, aber bei ihm das Potenzial haben, gross zu wirken. Zum Beispiel Leute mit Migrationshintergrund direkt anzusprechen, in ihrer Sprache, in einem Duett.
Im deutschen Hip-Hop gibt es solche Beispiele vereinzelt. Sido hat 2011 ganz auf Türkisch gerappt, im Track «Sor Bir Bana», während sein deutschtürkischer Freund Alpa Gun auf Deutsch reimte und auf Türkisch sang. Aber Rap ist in Deutschland seit Beginn eine stark migrantisch geprägte Kulturtechnik. Im deutschen Mainstream muss man andere Sprachen suchen: Die Kölsch-Band BAP sprach 1986 im Song «Almanya» türkische Gastarbeiter an, wie sie damals noch hiessen, Udo Lindenberg sang 1991 ein deutsch-türkisches Duett mit Sezen Aksu, «Messer in mein Herz / Seni Kimler Aldi».
Eine viel grössere Rolle spielten Gastarbeiter und Nichtdeutsche im Schlager der Siebzigerjahre. Das war eine Integrationsmaschine, selbst wenn bei Nana Mouskouri, Costa Cordalis oder Caterina Valente die alte Geschichte mitschwingt, dass die Sänger stets die Fremden waren. Die Fahrenden. Doch «Griechischer Wein» von Udo Jürgens (1974) oder «Istanbul ist weit» von Freddy Quinn (1980) sind populäre Beispiele dafür, dass der Schlager, der linken Versifftheit unverdächtig, die Migranten im Blick hatte. Heute wirkt das vielleicht onkelhaft. Aber besser, als wenn die Popmusik schweigt.
Für legendäre linke Bands wie Ton Steine Scherben waren die Migranten kaum Thema, obwohl die Scherben im türkisch geprägten Berlin-Kreuzberg lebten. Vielleicht, weil die Spannungen erst später begannen. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum der Schlager genauer hinschaute: Es war die Musik der Arbeiter und der unteren Angestellten, also von Gruppen, die im Alltag rasch mit Einwanderern in Berührung kamen. In den Milieus der Akademiker und Bohemiens war das lange nicht der Fall.
Das hat sich geändert. Jetzt sind sie da, auch bei Herbert, sie sind Theaterleiterinnen und Topjournalisten, die von der deutschen Regierung aus türkischen Gefängnissen herausverhandelt werden, das ist ein gutes Zeichen. Es werden noch mehr solche Zeichen kommen müssen. Herbert hat den Anfang gemacht. Almanya, ich komm aus dir.
Tobi Müller ist Kulturjournalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop- und Theaterthemen. Sein Dokumentarfilm «A1 – Ein Streifen Schweizer Strasse» (mit Mike Müller) hat 2016 den Zürcher Fernsehpreis erhalten.