«The Coming Society» von Susanne Kennedy inszeniert eine Welt, die das Werden höher wertet als das Sein. Julian Röder

Fummeln statt leiden

Das neue Theater spielt in erotisierten Räumen und blickt angstfrei in die Zukunft. Postkritisch? Posthuman? Ein Besuch in Berlin bei Susanne Kennedy, The Agency – und im «Berghain».

Von Tobi Müller, 09.02.2019

Es ist vier Uhr morgens, und im Club Berghain schreit ekstatisch eine junge Frau. Das Oberteil hat sie ausgezogen, Büsten­halter hatte sie eh keinen an. Sie ist nicht die Einzige. Ich schaue zu ihr hinüber. Sie lacht entspannt und haut mir ihre flache Hand auf die Brust. In der Art von: Alter, hab dich nicht so. Später gibt mir jemand in der Menge einen Klaps auf den Po, es ist gerade egal, ob das ein Mann war oder nicht. Bereits früh, ungefähr um ein Uhr, wollte eine junge Schottin mit uns anbandeln. Meine Begleitung flüchtete, ich blieb freundlich und benutzte die Höflichkeits­formel der Raver für «laber mich nicht zu»: «Ich muss jetzt tanzen, I really have to dance now.»

Wir sind zwei Tanzopas Ende vierzig, und erstaunlicherweise hat niemand ein Problem damit. Berlin ist die Kapitale der Aus­schweifung, jede Fernseh­serie hat in diesem Punkt recht, das «Berghain» ist das Berliner Rathaus der Nacht, und meine Begleitung ist ein bunter Hund. Aber wie sind die denn alle drauf heute?

Und vor allem: Was wollen die? Von uns? You gotta be kidding. Englisch ist Verkehrs­sprache auf dem Floor. Aber die wollen nichts ausser etwas fortgeschrittenem, meinetwegen altersinklusivem Spass. Dies ist ein Spiel, das offen bleibt. Viele wollen ihre Rolle ja gerade loswerden und etwas anderes, weniger Definiertes darstellen. Unklar bleibt, wer worauf steht. Queer, Transgender, Homos oder Heten, das soll alles fliessen.

Gegen Morgen fahre ich mit dem Velo nach Hause. Es ist mehr ein Gleiten. Auch ohne Drogen. Die Route ist ruhig um die Tages- und Jahreszeit, kurz vor sechs zwischen Weihnachten und Neujahr. Das Leben ist gerade sehr schön. Und das ist der Punkt, an dem die meisten Fernseh­serien und Filme doch irren, denn Feiern ist dort immer mindestens Zeichen einer verkackten Kindheit.

Eine Zukunft, die nicht schreckt

Am folgenden Abend, wir sind altersmässig wieder ungefähr unter uns, erzählen wir den Freunden von der Nacht. War das okay, oder waren diese offenen, zarten, grenzüberschreitenden Gesten teuer erkauft, mit harten Einlass­schranken an der Tür und der Privilegien mehr? Eine Gated-Party-Community für alles ab Mittelklasse aufwärts (wofür man in Berlin weniger verdienen muss als in Zürich)? Meine Gedanken wanderten schon den ganzen Nachmittag – denn die Nacht hat in vielem an das neue Theater erinnert. So wie ich es etwa von der Regisseurin Susanne Kennedy kenne, die in München und in Berlin arbeitet und schon ein paar Jahre vorne mitspielt.

Oder von den immersiven Performances der jungen Gruppe The Agency. Gemeinsam ist diesem Theater wie dem Club: die fliessende Geschlechter­unterscheidung, der sanfte Ton, die grossen Augen der Staunenden im Anblick einer Zukunft, die sie nicht schreckt. Vielleicht ist es auch der fehlende Kultur­pessimismus, der auffällt und der sonst eine Grund­übereinkunft des Theater­betriebes zu sein scheint. Und sicher eint die Tanzenden wie die Zuschauenden das wohlige Grauen, Teil einer künftigen, sozial homogenen Elite zu sein.

Kennedy und The Agency sind die Avantgarde des Theaters im deutsch­sprachigen Raum. Latent erotisiert geht es auch in ihren Räumen und Inszenierungen zu. Aber das ist nicht spiel­entscheidend. Wichtiger ist das Noch-nicht-Wissen: Wer sind die, was wollen die?

Ein paar Wochen nach dem «Berghain» stehe ich in der nächsten Premiere von Susanne Kennedy, die nun mit ihrem Partner, dem Videokünstler Markus Selg, zusammenarbeitet. Der Titel des Abends klingt schon wie eine Provokation im Geist von Friedrich Nietzsche, denn das englische «The Coming Society» klingt stark nach dem deutschen Denker und seinen bis heute umstrittenen Überlegungen zur kommenden Gesellschaft. Doch bei Kennedy und Selg geht es nicht um das Prinzip eines «Übermenschen», sondern um eine Welt, in der das Menschliche nicht mehr hegemonial gesetzt, sondern hybrid wird. Es ist eine uns gar nicht einmal so unbekannte Welt mit intelligenten Maschinen, Avataren, humanoiden Wesen, die ihre Namen und ihr Geschlecht relativ offen halten. Es ist eine Welt, die das Werden höher wertet als das Sein.

«The Coming Society» mit Jone San Martin und Ingmar Thilo: Das Publikum wandelt durch ständig drehende Räume voller Durchsichten und wiederkehrender Botschaften. Julian Röder

Doch wer spricht da überhaupt am Anfang von «The Coming Society»? Es ist eine freundliche Frauenstimme, die ab Band und auf Englisch in den Theaterabend einführt. Es gebe endliche Spiele, die vom Gewinnen handeln, sagt sie. Und unendliche, die nur ein Ziel kennen: weiterzuspielen, continue playing. Schon wieder Fliessen, Werden, becoming. Ist das Esoterik oder Philosophie à la Gilles Deleuze, dessen postdialektische Theorien und Nietzsche-Lektüren der Sechziger- und Siebzigerjahre durch die digitalisierte Gegenwart geistern, gerade in den Künsten? Oder beides? Eine Parodie auf die Zukunft oder die Zukunft selbst? Und warum sind alle so unfassbar soft? Ich bin nicht sicher, ob diese zur Mehrheit jüngeren, sexuell unbestimmten, toleranten, gut ausgebildeten und sehr freundlichen Menschen auf den Bühnen und Dancefloors mich euphorisch stimmen oder nicht. Ich vermute aber stark: So sieht die unmittelbare Zukunft aus. Eine Zukunft, die man in kaum einem anderen Theater sieht, weil da noch immer das zwanzigste Jahrhundert spielt.

Alles deutet in die Nachzukunft

Die Stimme in der Volksbühne, die uns durch den Abend geleitet, klingt auch mal männlich, allerdings künstlich tiefer gelegt. Nebel hängt im Parkett, im Saal sitzen um die 150 Leute, weil nicht mehr in die Installation auf der Drehbühne passen, die für uns gleich sichtbar wird, wenn wir durch ein Tor gegangen sein werden. Die umständliche Zeitform, Futur II, ist von Belang. Denn alles deutet in die Nach­zukunft, fast nichts in die Vergangenheit im Theater der Regisseurin Susanne Kennedy. Der Nebel ist richtungsweisend: Er steht für die «Dunstschicht des Unhistorischen», wie Friedrich Nietzsche die Wetterlage nannte, die das Neue ankündet, das bei ihm das «Unzeit­gemässe» heisst.

Kennedys szenisches Dispositiv ist ein Trip durch gegenläufig drehende Bühnen­scheiben, psychedelische Teppiche, die eine Art Science-Fiction simulieren mit einem Wirrwarr aus Wirbelsäulen, dann wieder mit Strukturen im Nano­bereich. Das Publikum wandelt durch ständig drehende Räume voller Durch­sichten und wiederkehrender Botschaften. Für einmal tragen die Performerinnen keine Latex­masken wie sonst bei Kennedy, sondern nur etwas Glitzer im Gesicht. Die Stimmen dagegen kommen wie immer ab Band, die neun Spielerinnen sprechen alle im Playback. Sie sind Avatare, bewegen sich mikrofoniert mal durch die Szene, mal bleiben sie stationär und vollführen kleine Rituale, Fuss­waschungen, Tänze, angedeutete Geburten. Und einer sitzt die ganze Zeit einfach da, sieht aus wie der Drogen­guru Timothy Leary und lächelt, während die Tapete um ihn herum feurige Himmels­körper zeigt. Alles wird zugrunde gehen, aber die Laune ist bestens.

«The Coming Society» folgt keinem klaren erzählerischen Strang, sondern will in 75 Minuten einen Rite de Passage inszenieren, einen Übertritt in eine Gesellschaft nach dem Patriarchat, nach dem Kapitalismus, das ist nicht so eindeutig, und vielleicht würde es ja auch dasselbe bedeuten in diesem posthumanen Setting. Die Wut über die alte Ordnung ist jedenfalls längst verraucht, wir sehen nur Fragmente aus der Zukunft, die allenfalls Teile unserer Gegenwart imaginiert. «What does it feel like to be a human in the 21st century?», fragt eine Stimme. Überhaupt wird viel über Text, aber auch über Geräusche gesteuert, über einen nie lauten, sondern immer sachten Ton, den das deutsche Theater vergessen hat (weil die Spieler mindestens die ganze Last der Welt auf den Stimm­bändern haben müssen, selbst wenn sie mittlerweile auch mal Mikroports tragen). Heftiges Atmen begleitet das erste Drittel. Es klingt wie eine Geburtsvorbereitung.

Neoliberaler Kreativquatsch

Als es dann in einer Koje, in der «Inkubation» geschrieben steht, tatsächlich um die Reproduktion geht, muss sich der Mann (Thomas Wodianka) übergeben, als sei er der Schwangere, während die Frau sagt: «I cannot remember being born» (Suzan Boogaerdt, die mit Kennedy mitkonzipiert hat). Die Performenden stellen sich mit wechselnden Namen vor und verbreiten neoliberalen Kreativ­quatsch («I like projects that think outside of the box»). Oder sie stellen den Körper zur Verfügung für komplexere Stimmen, die dem Individualismus abschwören, dazu aber «complete surrender» verlangen, die totale Unterwerfung. Die Dinge geraten ungemütlich ins Rutschen, was an Darstellerinnen wie Kate Strong im roten Regencape liegt, die einen auch im Playback und mit fremder Stimme das Fürchten lehren kann.

Erst im letzten Drittel wird die Dramaturgie klarer, nachdem die Avatare ihre linkischen Versuche des Menschseins aufgeführt haben. Herrlich, wie Bianca van der Schoot, auch sie seit Jahren Kollaborateurin von Kennedy, im schwarzen Latexanzug menschliche Romantizismen wiederholt und viel zu laut stöhnt danach. «I dream of kissing in the pouring rain, hu-ah». Der Traum vom Kuss im strömenden Regen handelt hier nicht vom amourösen Abenteuer in der Grossstadt, sondern von etwas Animalischem in einer abwaschbaren Umgebung. Die Sounds werden nun körperlicher, existenzieller. Ist diese Bühne eine einzige wuselige Gebärmutter? Was spuckt sie aus? Allmählich wird es Tag. Der Abend liegt doch auf einer Zeitachse. Wir werden wieder in den Saal ausgespuckt. Wie nach einem Rave. Oder als Geburt.

Die Welt sei veränderbar, sagt uns Susanne Kennedy in «The Coming Society» – aber wie und ob das gut ausgehen wird, sagt sie uns nicht. Julian Röder

«Now is the time of monsters», heisst es einmal. Die Monster sind nicht zwingend böse oder schlecht. Was sie mit Sicherheit sind: veränderbar. Kennedys Theater lächelt uns alle an und verführt uns zu einer Frage, die Brecht immer stellte: Ist die Welt veränderbar? Brecht sagte natürlich Ja und wusste auch schon wie, mit dem Sozialismus nämlich. Kennedy sagt ebenso euphorisch Ja, aber wie und ob das gut ausgehen wird, sagt sie uns nicht. Das ist das neue Theater. Das alte, das mich geprägt hat, funktioniert anders.

Denn die Erneuerer der letzten dreissig Jahre machten alle Kunst auf den Trümmern der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Heiner Müller, als Autor und auch als Regisseur, watete durch die untrockenen Eingeweide von Faschismus, Krieg, Stalinismus. Unvergessen: Müllers Kreuzung von «Hamlet» mit seinem eigenen Text «Hamlet­maschine» am Deutschen Theater in Berlin, das er im Herbst 1989 in der Hauptstadt der DDR zu proben anfing und nach dem Mauerfall, Anfang 1990, zur Premiere brachte, in einem Land mit einer verdammten Vergangenheit und einer unklaren Zukunft.

Ästhetiken des Umbruchs

Der Regisseur und stotternde Performer Einar Schleef, der jüngst 75 Jahre alt geworden wäre, suchte die Gewalt des Chores auf der Bühne, die er nur in der Kunst zähmen konnte, in der ästhetischen Konfrontation mit dem Einzelnen. Beispielhaft: «Herr Puntila und sein Knecht Matti», 1996 am Berliner Ensemble, mit Schleef als Chorführer. Frank Castorf holte in diesem scheinbar vereinigten Deutschland die Asozialen auf die Bühne und gab ihnen eine Stimme, aus der die unerlöste Vergangenheit sprach, etwa 1990 in «Die Räuber», zwei Jahre bevor er seine erst gefeierte, dann vergessene, am Schluss wieder gefeierte 25-jährige Intendanz in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz antrat.

Und Christoph Marthaler, unser feiner Zürcher Musiker unter all den taffen ostdeutschen Männer­künstlern, lockte die Gewalt aus National­hymnen und überführte sie ins Lächerliche, um sie so zu zähmen. Erst in Basel im Badischen Bahnhof, 1989 in «Wenn das Alpenhirn sich rötet, tötet, freie Schweizer, tötet», und dann 1993, als er den Basler Abend als Matrix für deutsche Verhältnisse benutzte und damit in Berlin einen Welterfolg und für die Volksbühne einen Longseller landete: «Murx den Europäer». Danach kam Christoph Schlingensief, der sich, ebenso an der Volksbühne, noch einmal an den Mythen der alten Bundes­republik abarbeitete, von Rudi Dutschke bis Helmut Kohl, und immer am alten Bord­schützen im Kampf­flieger und Künstler Joseph Beuys.

Das sind die fünf wichtigsten deutschsprachigen Theatermacher der letzten dreissig Jahre, alles Männer, drei aus der ehemaligen DDR, der Schweizer Marthaler ein Quer­einsteiger genauso wie Schlingensief, der ursprüngliche Experimental­filmer aus dem Ruhrgebiet. Sie schufen Ästhetiken des Umbruchs, die in den späten Achtziger- und in den Neunziger­jahren ihre grösste Kraft entwickelten (auch wenn Heiner Müller natürlich schon viel länger schrieb). Sie machten Theater in dem Riss, der die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg trennte vom Epochenbruch nach dem Kalten Krieg, als der Neoliberalismus durchmarschieren konnte.

Zwischen Optimismus und Gefahr

Die Helden meiner Kritiker­lehrjahre in den Neunzigern sind entweder tot oder nicht mit der Zeiten­wende beschäftigt, die uns alle überfordert. Sie haben wenig oder keine Ahnung von der Digitalisierung, die alles verändern wird. Wie wir konsumieren, wie wir produzieren, wie wir reproduzieren. Klar wissen auch jüngere Theater­schaffende nicht genau, was aus uns werden soll. Aber sie machen Vorschläge, die zwischen Optimismus und Gefahr pendeln und dabei angstfrei in die Zukunft blicken.

Der kurze Ritt durch die neuere Theater­geschichte überspringt bewusst meine Generation von Regisseuren oder Kollektiven: Seien es klassische Regie­positionen wie Nicolas Stemann oder Falk Richter, die mit dem trojanischen Pferd des Pop eine Repolitisierung der Hochglanz­häuser versucht haben und noch immer an den Grenzen des Stadttheaters kratzen, seien es Kollektive wie die feministische Gruppe She She Pop oder die wechselnde Regie­konstellation Rimini Protokoll. Beide haben den Begriff des Darstellers, der Schauspielerin oder der Performer herausgefordert.

Und es gibt Milo Rau aus St. Gallen, vermutlich ein postmarxistischer Klon, wenn man seine Produktivität bedenkt. Er dreht dem behäbigen deutsch­sprachigen Betrieb eine lange Nase und produziert international extrem erfolgreich. Das ist meine Generation der Anfangsvierziger bis Früh­fünfzigerinnen, ich bin mit ihnen gross geworden und fühle mich ihnen verbunden. Im Kern handelt ihre Bühnen­kunst primär von der Sehnsucht, anders zu arbeiten. Es ist eine Kunst der Reform, der Vermittlung zwischen dem Alten und dem Neuen. Die neue Kunst will auch anders arbeiten, sie hat aber keine Zeit, sich lange damit aufzuhalten, sie tut es einfach. Denn wichtiger ist ihr etwas anderes: Sie will anders leben.

Ein metaphorischer Klaps auf den Po: Im von The Agency inszenierten «Love Fiction» probierte das Publikum in Sauerstoffzelten erotische Rituale aus und sprach über polyamouröse Ideen. Piotr Rybkowski

Die Gruppe The Agency geht noch direkter mit solchen revolutionären wie gruseligen Szenarien um. Und immersiver, wie das seit ein paar Jahren heisst – das Publikum interagiert mit der Inszenierung, wird Teil des Spiels. Das hat mit Mitmach­theater, das nur ein primitives Machtgefälle ausnutzt zwischen Spielerinnen auf der erhöhten Bühne und Zuschauern im Parkett, allerdings wenig zu tun. Wie im «Berghain» oder bei Kennedy in der Volksbühne ist nichts grob, sondern alles weich und smart. Magdalena Emmerig, Belle Santos, Rahel Spöhrer und Yana Thönnes wohnen zwischen Berlin und München, in den Münchner Kammer­spielen experimentieren sie «auf immersive Weise mit den Erscheinungsformen und Formaten des Neoliberalismus», wie sie schreiben, und gehen damit auf Reisen. Ein neuer Werkzyklus beschäftigt sich mit Männlichkeit und rechtem Denken. Es gibt erst Vorstufen wie MOM, das Movement of Contemporary Manliness. Man darf sich darunter nicht Parodien vorstellen. The Agency inszeniert soziale Bewegungen, Gruppierungen, Camps, Workshops, die sie handwerklich sehr ernst nimmt, hier läuft nichts über einfache Ironie und bequeme Distanzierung. Und alles über das Spiel aller.

Der Klaps auf den Po ist bei The Agency eher metaphorisch zu verstehen, aber er wird entschieden verabreicht. In der Arbeit «Love Fiction», an den Münchner Kammerspielen 2016 noch innerhalb der Nachwuchs­plattform «Freischwimmer» produziert, kroch das Publikum in eine Welt aus Sauerstoff­zelten, um erotische Rituale mit Gegen­ständen auszuprobieren und über polyamouröse Ideen zu reden. Die Performer wussten genau, wovon sie sprachen, und doch klang es aus den dauerfreundlichen Gesichtern von Rylon, wie das inszenierte Unternehmen hiess, auch so: «Rylon eröffnet den Teilnehmenden des Coachings postpragmatisches Beziehungsenhancement – to maximize your performance.»

Keine Angst vor der Erweiterung

Und «Medusa Bionic Rise», 2018 mit verschiedenen Koproduzenten wie den Berliner Festspielen realisiert, erfindet einen künftigen Fitnesskult, der «radikal posthumanistisch Selbstoptimierung betreibt und in seinem Mission Call neue Member rekrutiert». Wir interagieren mit Humanoiden und sehen den Mühen der Selbst­optimierung zu, dem Abnehmen, der plastischen Chirurgie, all dem Zeugs, mit dem man sich einst herumschlagen musste, bevor wir Teil einer hybriden Lebensform wurden. Es gab mal den war on terror, sagt die niederländische Performerin Stacyian Jackson über ihre Mutter, und den war on obesity, den Krieg gegen das Übergewicht.

Die Medusa, die im Titel steht und deren abgeschlagener Kopf die Griechen einst versteinerte, ist der Blick aus der Zukunft, der die meisten von uns lähmt. The Agency hält diesem Blick stand, hier gibt es keine Angst vor der Verdatung, Erweiterung und digitalen Vermählung der Welt. Im Gegenteil, die Umarmung der Zukunft wirkt geradezu offensiv, glück­durchströmt und mitunter so postpolitisch passiv wie theoretisch smart. Man macht hier so etwas wie horizonterweiternde Erfahrungen: Das Nachdenken darüber wird vorbereitet, findet aber besser erst danach statt. Das neue Theater steht nicht auf der sicheren Seite, aber es spielt Szenarien durch, die es nicht gleich diskreditiert. Es denkt in der Gruppe nach, ohne Parteiallüren. Ist das wirklich postpolitisch?

Die Regel im neuen Theater lautet jedenfalls: complete surrender. Aber die totale Hin- oder Aufgabe im Moment bedeutet keineswegs die Niederlage der kritischen Reflexion – und schon gar nicht der Theorie. Erleben und Nachdenken sind zeitlich gestaffelt, man kommt nicht sofort schlauer aus dem Theater raus. Es geht um den Prozess, der in Gang kommen soll, nicht um ein vorgekautes Resultat, wie es das Gegenwarts­theater so gern auskotzt. Das alte Theater beschäftigte sich mit dem Horror der Geschichte, das neue mit dem Zwang zur Zukunft oder zumindest mit der Einsicht, dass wir keine andere Wahl haben, als Zukunft endlich wieder denken zu können. Es ist eine Generation, die die latente Besser­wisserei des alten Theaters nicht mehr interessiert. Seine schlechte Laune erst recht nicht.

Radikal posthumanistische Selbstoptimierung: «Medusa Bionic Rise» von The Agency. Nyssos Vasilopoulos

Es geht beim neuen Theater allerdings nicht um Erlösung, es geht nicht um die Revolution, aber vielleicht um das Revolutionär-Werden. Das neue Theater von Susanne Kennedy, The Agency oder die Bühne des «Berghains» sind alles andere als widerspruchsfrei oder gar gemütlich. Die Räume signalisieren eine starke Künstlichkeit, sind sozial aber zunehmend homogen. Von der Diagnose, dass die soziale Ungleichheit eins der grössten Probleme der Zukunft sein wird, nehmen sich diese Arbeiten selbst gar nicht aus. Sie wissen um ihre Verstricktheit und inszenieren sie mit. Sie sind selbst eine Art safe space, ein Schutzraum. Um es hart zu sagen: Diese Räume sind Avantgarde, im Club wie im neuen Theater sind sie im Kern elitär.

Wollust statt Wut

Gibt uns zum Schluss das «Berghain» eine Antwort auf das soziale Unbehagen? Der eingangs beschriebene Abend fällt ein bisschen aus dem Rahmen des üblichen Club­programms. Denn zur Party lud das Event- und Musiklabel Janus ins «Berghain». Die Crowd ist jünger und viel teurer angezogen als sonst, hier ist mehr Fashion, mehr globale Queerness und weniger gemütliches Schwulsein unter Touristen und Feierheteros. Die Türsteher vom «Berghain» sind immer streng, an der Janus-Nacht waren sie strenger. Ein Club darf das, das «Berghain» ist ein privates Unternehmen und erhält keine Förderung wie die Stadttheater.

Aber die Hoffnung, die im bewachten Schutzraum zirkuliert, ist die gleiche wie im neuen Theater: dass die Position der Avantgarde irgendwann im Mainstream aufgehen wird, dass die künstlerische Avantgarde gesellschaftliche Realität vorwegnimmt. Dann wäre die elitäre Gegenwart dieser Ästhetiken nur ein vorübergehender Zustand zu einer besseren Zukunft. Wäre das wirklich so neu?

Kann sich noch jemand erinnern, wie es in den mittleren Neunzigerjahren in Frank Castorfs Volksbühne im Publikum aussah? Wie homogen jung und akademisch das Publikum war und wie viele ältere Kritiker vor Wut schäumten, vor allem bei Schlingensief? Das wiederholt sich im neuen Theater. Und doch gibt es erhebliche Unterschiede: Es wird nur aus Wollust, nicht aus Wut geschrien, die Bewegungen sind smoother, man spricht deutlich weniger Deutsch, und die Hautfarbe ist nicht mehr durchgehend weiss. Und, ehrlich, die Musik ist auch viel besser, im Theater sowieso, aber auch im Club. Sorry, ich muss jetzt dringend tanzen.

Zum Autor

Tobi Müller ist Kulturjournalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop- und Theaterthemen. Sein Dokumentarfilm «A1 – Ein Streifen Schweizer Strasse» (mit Mike Müller) hat 2016 den Zürcher Fernsehpreis erhalten. Für die Republik hat Tobi Müller zuletzt über Herbert Grönemeyer geschrieben.