Der Mythos der abgehobenen Politiker
Bundesbern politisiert am Volk vorbei, wird am Stammtisch gern erzählt. Denkste! Abstimmungsdaten zeigen genau das Gegenteil: Die Parlamentarier nähern sich dem Stimmvolk an.
Von Claude Longchamp (Text) und Elia Blülle (Datenauswertung), 14.01.2019
«Die in Bern machen ohnehin, was sie wollen», poltern Politikverdrossene in Kommentarspalten und am Stammtisch gern. Und wähnen sich damit im Recht: Die Vorstellung, dass die Schweiz von einer Elite ohne Bezug zum Volk regiert wird, hat sich in breiten Kreisen als gefühlte Wahrheit etabliert.
Ganz anders sehen es jedoch hiesige Politikwissenschafter. «Gewänne die Regierung immer, wäre es keine Demokratie», twitterte jüngst Silvano Moeckli, emeritierter Professor der Universität St. Gallen. In seinem Standardwerk «So funktioniert direkte Demokratie» lehrt er, dass hierzulande das Parlament bürgernäher politisiert als in den repräsentativen Demokratien der Nachbarländer – wegen der ausgebauten Volksrechte.
Die These bestätigte letztes Jahr auch der Berner Politikwissenschafter Marc Bühlmann. Er hat in seiner Forschung herausgefunden, dass die Schweiz noch nie so häufig über Gesetze und Volksinitiativen abgestimmt hat wie in den letzten dreissig Jahren – und dass dabei die Stimmenanteilsunterschiede zwischen Volk und Parlament noch nie so gering waren wie heute.
Dessen ungeachtet vermutet das populistische Narrativ eine zunehmende Kluft zwischen Volk und Elite. Doch diese These hält einer Überprüfung auf lange Sicht nicht stand. Das zeigt sich zunächst in einem historischen Abriss über die Demokratie in der Schweiz.
Die neue Geschichte der Volksrechte
Seit 1848 ist die Schweiz eine parlamentarische Demokratie, seit 1874 eine Referendumsdemokratie und seit 1891 eine halbdirekte Demokratie: Stimmbürger – und seit 1971 auch Stimmbürgerinnen – entscheiden über Verfassungsänderungen, Volksinitiativen und Referenden.
Diese 170-jährige Geschichte des Bundesstaates teilt Bühlmann aufgrund der Nutzung und der Wirkung von Volksabstimmungen in sieben Phasen ein:
Zwischen 1848 und 1874 kämpften die Konservativen für die Einführung von mehr Volksrechten. Die liberalen Kräfte wehrten ab.
Von 1875 bis 1891 entdeckten die Minderheitsparteien die Kraft von Gesetzesreferenden. Politische Machtausübung bestand darin, mit Verhandlungsgeschick die Opposition zu neutralisieren.
Auch nach 1891 blieb die Nutzung von Volksrechten gering, obwohl die Volksinitiative eingeführt wurde. Der Einbezug der Katholisch-Konservativen in den Bundesrat hatte vorerst eine zähmende Wirkung auf die Opposition.
Das änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg: Die politische Krise führte von 1920 bis 1939 zu einer Zunahme der Volksbegehren.
Von 1940 bis 1969 blühte der politische Kompromiss. Die äussere Bedrohung durch den Zweiten Weltkrieg beförderte den politischen Zusammenhalt.
1970 erwachte die ausserparlamentarische Opposition von links und rechts. Bürgerbewegungen nutzten die ausgebauten Volksrechte, um sich eine Stimme zu verschaffen, und erlangten dadurch mehr Aufmerksamkeit.
Seit 1990 werden Volksabstimmungen von verschiedenen Parteien und Gruppierungen zu allen möglichen Themen initiiert. Das hat zu einer Professionalisierung der Volksrechte geführt: Volksinitiativen und Referenden sind zu einem wichtigen politischen Instrument geworden.
Über die letzten rund fünfzig Jahre hat die Zahl der Volksabstimmungen also stark zugenommen. Mit der Regierungsform der direkten Demokratie hat dies aber nichts zu tun. Es liegt vielmehr am generellen Trend, wonach der politische Aktivismus zunimmt. Dieser Trend äussert sich auch in der Anzahl von Parlamentsvorstössen oder bei der Verabschiedung neuer Gesetze.
Tatsächlich ist der Anteil der Parlamentsbeschlüsse, bei denen effektiv ein Referendum ergriffen und abgehalten wurde, über die Jahre sogar zurückgegangen. Und rund die Hälfte aller Volksabstimmungen, die durch ein Referendum ausgelöst wurden, gewann am Ende das Parlament.
Mit anderen Worten: 97 Prozent der Parlamentsbeschlüsse werden am Ende so durchgesetzt, wie es National- und Ständerat beschlossen haben. Rekord!
Selbst in Bezug auf das Abstimmungsverhalten – also den Anteil von Ja- und Nein-Stimmen für eine Vorlage – nähert sich das Parlament dem Volk an. Dies zeigt sich in einer Datenanalyse über alle Abstimmungen seit 1940.
Erkenntnis 1: Der Graben schrumpft
Diese Analyse vergleicht, wie hoch die prozentuale Zustimmung zu einer bestimmten Vorlage ist: einerseits im Parlament, andererseits beim Volk. Je kleiner die Differenz zwischen den beiden Zustimmungsraten ist, desto kleiner ist der Graben zwischen den Parlamentariern und dem Stimmvolk.
Rückblickend am grössten war dieser Graben nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Phase wird gern als hohe Zeit der Konkordanz verklärt. Doch die Zahlen zeigen ein anderes Bild: Zwischen 1940 und 1969 haben sich die Stimmbürger bei Abstimmungen um durchschnittlich 34 Prozentpunkte stärker gegen Vorlagen gestellt als die Minderheit der Bundesversammlung.
Das heisst: Die Opposition gegenüber einer bestimmten Vorlage war in der Bevölkerung im Schnitt um rund ein Drittel grösser als im Parlament.
Die unten stehende Grafik zeigt, dass sich diese Entwicklung ab 1970 änderte. Bereits bis 1989 näherten sich Volk und Bundesversammlung in ihrem Abstimmungsverhalten bis auf 26 Prozentpunkte an. In der letzten Phase waren es 16 Prozentpunkte, heute liegt die Differenz der Zustimmungsraten im Parlament und im Volk gerade noch bei 12 Prozentpunkten.
In den letzten vierzig Jahren hat die Kluft zwischen der Opposition zu einer Vorlage im Volk und derjenigen im Parlament also stark abgenommen.
Der Trend, wonach Parlamentarier und Stimmbürger immer ähnlicher abstimmen, ist eine Annäherung auf hohem Niveau. Im Vergleich zu anderen Ländern stehen sich das Volk und seine Vertreter hierzulande seit je nahe.
Grund dafür ist das politische System. In der direkten Demokratie bleibt die Opposition in Sachfragen meist punktuell, weil die Parlamentsminderheit oppositionelle Strömungen in der Stimmbürgerschaft schneller und gezielter vorwegnimmt, als dies zum Beispiel in den parlamentarischen Demokratien der Schweizer Nachbarländer der Fall ist. Dort spekulieren Politiker zwischen den Wahlen normalerweise auf eine diffuse Unterstützung ihrer Arbeit.
In der halbdirekten Demokratie funktioniert diese Strategie nicht. Wer in der Schweiz politisch Erfolg haben will, braucht bei den allvierteljährlichen Volksabstimmungen eine wiederkehrende, spezifische Unterstützung. Dieses System hat zur Folge, dass die hiesigen Werte des Vertrauens in die Behörden- und Regierungsarbeit überdurchschnittlich hoch sind. Sie brechen meistens dann ein, wenn es massive Umbrüche in der Politik gibt. Dazu gehören zum Beispiel der EWR-Entscheid des Bundesrates von 1991 oder die Wahl von Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz in den Bundesrat im Jahr 2003.
Die Statistik belegt, dass solche Vertrauensverluste in der Folge oft zu Abstimmungsniederlagen führen. So verloren der Bundesrat und das Parlament nach der denkwürdigen Bundesratswahl von 2003 acht Volksabstimmungen in Serie. Das hatte es in der Schweizer Abstimmungsgeschichte zuvor noch nie gegeben und wiederholte sich seither auch nicht mehr.
Ausserhalb von solchen besonderen Momenten ist die Schweizer Politik von Regierung und Parlament aber eingemittet. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren in der direkten Demokratie ist auf den Konsens ausgerichtet und trifft in der Regel auch den Nerv der Stimmberechtigten.
Weicht die Politik davon ab, kommt es vielfach zu raschen Korrekturen. Öffnet der Bundesrat etwa das Tor für Waffenexporte oder Migrationsabkommen zu weit, regt sich sofort korrigierender Widerstand.
Alles paletti also? Nicht ganz, wie eine feinere Analyse der Daten zeigt.
Erkenntnis 2: Das Parlament ist öfter zerstritten
Diese Analyse vergleicht zwei Trends separat. Einerseits: Wie einmütig hat das Parlament seine Entscheide im Vorfeld von Volksinitiativen und Referenden gefällt? Und andererseits: Wie stark hat sich das Stimmvolk gegen die Position gestemmt, die die Parlamentsmehrheit beschlossen hat?
Es geht also um die jeweiligen Verhältnisse von Minderheit und Mehrheit beziehungsweise um die jeweilige Polarisierung im Parlament und im Volk.
Die Daten sprechen bei diesem Vergleich eine eindeutige Sprache. Es ist nicht das Volk, das sich in seinem Stimmverhalten dem Parlament anpasst. Es ist das Parlament – und da ganz besonders der Nationalrat –, das sich dem Volk angleicht. Und in seinen Abstimmungen öfter gespalten ist: in eine immer knappere Mehrheit und in eine immer stärkere Minderheit, die in Opposition zur Mehrheit steht.
Hintergrund dieser Entwicklung ist ein Phänomen, das wir in früheren Beiträgen bereits beschrieben haben: die Polarisierung der Politik.
Symptomatisch dafür ist, dass die traditionell überparteilich betriebene Aussenpolitik bereits ab 1970 von den Parteien politisiert wurde – also in der sechsten Phase, die im Schema nach Marc Bühlmann oben beschrieben ist. Ab 1990 hat sich dann die Palette der Themen, über die gestritten wird, verbreitert. Volksabstimmungen zu Verkehrs- und Energiethemen, aber auch zu Migrations- und Sozialversicherungsfragen wurden vermehrt abgehalten.
Die neuen Konflikte hievten ab 1970 neue Parteien auf die politische Bühne und befeuerten die Bildung von linken und rechten Polparteien. Neuerdings strahlt diese Entwicklung bis ins politische Zentrum aus (siehe dazu auch «Die Schweizer Politik im Parteientumbler»).
Die Zeiten des nationalen Schulterschlusses, wie es ihn in der Nachkriegszeit gegeben hat, sind heute definitiv vorbei. Das polarisierte Parlament nähert sich immer mehr dem Volk an. Vorherrschend geworden ist der Typ der Regierungs- und Oppositionspartei in einem: Aus institutionellen Gründen strebt sie zwar Sitze im Bundesrat an, behält sich aber vor, eine davon unabhängige, regierungskritische Politik zu verfolgen. Die SP exerzierte diesen Stil auf Druck der ökologischen Bewegung in den 1980er-Jahren vor, die SVP folgte in den 1990er-Jahren aufgrund der Europafrage.
Bilanz
Volksabstimmungen legitimieren ein politisches System in hohem Masse. Sie halten die Kluft zwischen Behörden und Volk gering und offerieren den politischen Parteien eine Win-win-Situation: Selbst wenn sie eine angestrengte Volksabstimmung verlieren, können sie sich mit dem Mittel bei einer respektablen Minderheit profilieren und so auf Wahlgewinne hoffen.
Positiv betrachtet kann man von einem permanenten Zwang zur Demokratisierung der Parteien dank den Volksrechten sprechen. Das Gleichgewicht zwischen den Stimmberechtigten und ihren Vertretern wird dank dem forcierten Dialog in der direkten Demokratie ausbalanciert.
Negativ betrachtet wird durch dieses Verhältnis die Regierungsarbeit erschwert. Selbst wenn Bundesrat und Parlament in Einzelfragen konkrete Beschlüsse fällen, bleibt die Frage, ob die nationale Politik angesichts fragiler Mehrheiten strategisch durchdacht, inhaltlich kohärent und nachhaltig ist.
Claude Longchamp ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist Lehrbeauftragter der Universitäten Bern und Zürich, Gründer und Verwaltungsratspräsident des Forschungsinstituts GFS Bern. Während dreissig Jahren analysierte er Volksabstimmungen für das Schweizer Fernsehen. Für die Republik analysierte er zuletzt die Sorgen, die ihre eigene Konjunktur haben.
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