Auf lange Sicht

Sorgen haben ihre eigene Konjunktur

Wo drückt das Volk der Schuh? Die Analyse der vergangenen 25 Jahre zeigt, welche Zyklen das Sorgenbarometer durchläuft.

Von Claude Longchamp, 10.12.2018

Eine beliebte These in den Sozialwissenschaften ist: Seit dem Ende des Kalten Krieges reibt sich die Gesellschaft nicht mehr an den grossen Themen auf – darunter an vorderster Stelle: die Wirtschaft –, sondern die Menschen beschäftigen sich vermehrt mit individuellen Problemen. Also mit Fragen der Selbstverwirklichung oder der gruppenbezogenen Identitätsbindung.

Die These ist allerdings fragwürdig. Ein Indiz dafür ist das Sorgenbarometer, eine Umfrage, die in der Schweiz seit 42 Jahren erstellt wird, davon 23 Jahre lang in unveränderter Methodik. Dieses einmalige Barometer zeigt vor allem eines auf: Im Problemhaushalt der hiesigen Bürgerschaft ist kein allgemeiner Paradigmenwechsel zu erkennen. Vielmehr zeigen sich spezifische Zyklen.

Zyklen, in denen die Dringlichkeit einzelner Sorgen zu- und wieder abnimmt. Zyklen der Bewirtschaftung, der Problematisierung bestimmter Themen.

In den folgenden Abschnitten schauen wir uns einige dieser Zyklen näher an.

Die diversen Umbrüche im Sorgenbarometer

Wir beginnen mit einem kurzen Rückblick in die Zeit vor der Wende. Die 1980er-Jahre wurden gemäss Sorgenbarometer ganz vom sogenannten Waldsterben als herausragendem Problem geprägt. Zuoberst auf der Rangliste der prominenten Sorgen erschien damals die Umweltproblematik.

Zu einem ersten Umbruch kam es dann in den 1990er-Jahren. Und zwar 1992: Im Jahr der EWR-Entscheidung stieg die Arbeitslosigkeit erstmals zur Hauptsorge der Schweizer Stimmberechtigten auf. Schon 1993 reihten sogar neun von zehn Befragten dieses Thema unter die fünf wichtigsten Herausforderungen ein.

In den Folgejahren blieb der Arbeitsmarkt ein dominantes Sorgenthema. Abgesehen von wenigen Ausnahmejahren zählten bis 2015 stets mehr als die Hälfte der Befragten die Arbeitslosigkeit zu den grössten Problemen.

Arbeitslosigkeit

Anteil der Befragten, die das Thema zu den fünf grössten Sorgen zählen

199520032010201822,0 Arbeitslosigkeit03060

Quelle: CS-Sorgenbarometer 2018, Spezialauswertung durch GFS Bern

Mit der objektiven Beschäftigungslage in der Schweiz ist das kaum erklärbar. Denn die Arbeitslosigkeit blieb gerade im europäischen Vergleich stets tief.

Umso mehr fiel die subjektive Wahrnehmung ins Gewicht. Im Bewusstsein der Menschen kam es in den frühen 1990er-Jahren zu einer folgenreichen Verlagerung: Bestimmend wurde das Gefühl, in einem liberalisierten Arbeitsmarkt könne es fast jeden und jede treffen. Das verunsicherte lange zutiefst und trug zum nachhaltigen Aufkommen der Arbeitslosigkeit als Problem bei.

Die Verlagerung im Sorgenhaushalt der Schweizer Bevölkerung blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Sozialstaates. Und so kam es ab Mitte der 1990er-Jahre zu einem weiteren Umbruch im Sorgenbarometer.

Ab 1996 stiegen die Sorgenbarometer-Werte zur Krankenversicherung sprunghaft an. Höhepunkt dieses Problemzyklus war das Jahr 2001; die Hausse beim Gesundheitsthema flachte erst nach 2006 wieder ab.

Leicht zeitversetzt wuchs auch die Altersvorsorge zu einem wahren Volksproblem an. Hier begann der Zyklus im Jahr 1998; der höchste Wert ergab sich 2003. Normalisiert hat sich die Aufregung auch hier nach 2007.

Altersvorsorge und Gesundheit

Anteil der Befragten, die ein Thema zu den fünf grössten Sorgen zählen

199520032011201845,0 AHV37,0 Gesundheit3060

Quelle: CS-Sorgenbarometer 2018, Spezialauswertung durch GFS Bern

Von kürzerer Dauer war dagegen die Problematisierung der Europapolitik. Sie dauerte im Wesentlichen von 1998 bis 2000. Danach fiel Europa in den unteren Bereich der Sorgenskala, wo das Thema bis heute verbleibt.

Europa

Anteil der Befragten, die das Thema zu den fünf grössten Sorgen zählen

199520032011201822,0 Europa3060

Quelle: CS-Sorgenbarometer 2018, Spezialauswertung durch GFS Bern

Zwei weitere Zyklen im Sorgenbarometer haben mit dem Aufenthalt von fremdländischen Personengruppen in der Schweiz zu tun.

Gegen Ende der 1990er-Jahre – parallel zur Europapolitik – stieg erstens der Anteil besorgter Bürgerinnen und Bürger beim Thema Asylpolitik an. Er war nie so gross wie 1999. Anders als die Europapolitik flackerte die Asylpolitik auch im neuen Jahrtausend noch mehrmals als Problem auf.

In der zweiten Hälfte der Nullerjahre setzte zweitens der Zyklus bei der Ausländerproblematik ein. Sie überflügelte ab etwa 2007 die Flüchtlingsfrage und erreichte 2014 und 2015 ihren bisherigen Höhepunkt.

Ausländer und Asylwesen

Anteil der Befragten, die das Thema zu den fünf grössten Sorgen zählen

199520032011201837,0 Ausländer31,0 Asylwesen3060

Quelle: CS-Sorgenbarometer 2018, Spezialauswertung durch GFS Bern

Man erkennt im Rückblick, wie eine Reihe von wichtigen politischen Entscheidungen mit den Sorgenzyklen zusammenhängen:

  • die Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1996 mit den rasch ansteigenden Prämien;

  • die Entscheidung von 1999 zu den bilateralen Verträgen als Alternative zum Schweizer EU-Beitritt;

  • die volle Einführung der Personenfreizügigkeit ab 2008;

  • die Volksabstimmung über die Initiative «gegen Masseneinwanderung» 2014.

Entweder lösten diese Entscheide einen Zyklus der Problematisierung aus (etwa das neue Krankenversicherungsgesetz beim Zyklus der Gesundheitssorgen oder die Abstimmung über die Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung»). Oder aber sie vermochten einen solchen Zyklus zu beenden (etwa bei der Volksentscheidung zu den Bilateralen).

Wahlkämpfe lenken von Bürgersorgen ab

Ist damit die Zeitgeschichte der Sorgen und der politischen Reaktionen auf diese Sorgen erklärt? Nicht ganz. Auf dem Sorgenbarometer basierende Analysen ergeben zwar ein gutes Raster. Sie sind aber kein zwingender Hinweis auf die ganz grossen Themen in einem Wahljahr.

Denn solche Befragungen skizzieren bloss die Nachfrage der Wählenden. Auf der anderen Seite steht das Angebot, also die Wahlprogramme der Parteien. Sie richten sich nur zu einem Teil an der Nachfrage aus. Zum anderen Teil entstehen sie aus dem Wettbewerb mit den politischen Kontrahenten.

Dazu einige Beispiele:

2003 diskutierte die Schweiz über den damaligen Jahrhundertsommer. Der Klimawandel war das Jahresthema. Der exemplarische Gewinn der rot-grünen Parteien bei den Nationalratswahlen wurde als Antwort darauf gesehen. Für die Grünen mag das stimmen, für die SP allerdings kaum. Vergessen geht nämlich, dass der wahrgenommene Druck durch sozialpolitische Probleme zu dieser Zeit so hoch wie nie zuvor war.

Gänzlich eigendynamisch verlief der Wahlkampf 2007. Medial inszeniert wurden die Ausschaffung krimineller Ausländer und das Komplott gegen Bundesrat Christoph Blocher. Beides wurde von der SVP hochprofessionell und spannungsgeladen eingebracht, jedoch fernab von Fragen um die Arbeitslosigkeit und die AHV, die bürgerseitig mehr interessierten.

Vergleichbares geschah auch 2011 – im Jahr des Atomunfalls im japanischen Fukushima. Viele glaubten in der Folge an einen grünen Durchbruch. Sicher, die GLP profitierte davon, allerdings weitgehend zulasten der Grünen und der SP. Die Links-rechts-Front wurde damals nur geritzt, aber nicht aufgebrochen. Fast so wie die Sorgenbarometer-Werte für die Umweltproblematik: Sie blieben weitgehend stabil.

Umwelt

Anteil der Befragten, die das Thema zu den fünf grössten Sorgen zählen

199520032011201823,0 Umwelt3060

Quelle: CS-Sorgenbarometer 2018, Spezialauswertung durch GFS Bern

Die Problemlage vor dem Wahlkampf

Die nächsten nationalen Wahlen finden im Herbst 2019 statt. Die grosse Frage wird sein, ob es den Parteien im Wahlkampf erneut gelingt, von den eigentlichen Bürgersorgen abzulenken, oder ob diese Taktik nicht mehr so geschmiert funktioniert wie zuvor.

Blicken wir hierzu nochmals auf das jüngst publizierte Sorgenbarometer des Jahres 2018, geordnet nach Häufigkeit der genannten Probleme.

Altersvorsorge und Gesundheit als grösste Sorgen

Anteil der Befragten, die das Thema zu den fünf grössten Sorgen zählen

AHV045 % Gesundheit037 % Ausländer037 % Asylwesen031 % Umwelt023 % Arbeitslosigkeit022 % Europa022 %

Quelle: CS-Sorgenbarometer 2018, Spezialauswertung durch GFS Bern

Die Daten

Das Sorgenbarometer zeigt die grossen Probleme aus Bevölkerungssicht. Dabei wird ausgewertet, wie hoch der Anteil der Befragten in Prozent ist, der ein Thema zu den fünf grössten Sorgen zählt. Das Sorgenbarometer wird seit 1976 jährlich vom Institut GFS Bern erstellt, 1995 wurde es letztmals überholt. Es gibt somit für das letzte Vierteljahrhundert eine durchgängige demoskopische Quelle ab. Die Daten für diesen Beitrag wurden von GFS Bern zur Verfügung gestellt.

Neue Sorge Nummer eins ist die Rentenfrage. Für die einen bedeutet sie die Sicherung des gegenwärtigen Standes, für die andern die Zukunft der Altersvorsorge überhaupt. Es ist gut möglich, dass hier mit der letzten Volksabstimmung vor den Wahlen (über die Steuer- und Rentenreform) die Weichen gestellt werden – und je nach Ausgang der Abstimmung eher linke oder rechte Parteien davon profitieren.

An zweiter Stelle rangieren gegenwärtig Probleme des Gesundheitswesens. Hier geht es nicht mehr um den Leistungsausbau, aber um die Finanzierung des Status quo. Das hat direkte Folgen auf die Krankenkassenprämien. Zwei Volksinitiativen mit unterschiedlichen Ansätzen, gezielt von der CVP und der SP auf die Wahlen im Herbst lanciert, versprechen eine politische Debatte, noch bevor das neue Parlament bestimmt wird.

Auch die Umweltfrage rangiert heuer wieder unter den Top fünf. Das ist zweifelsfrei eine Folge des Jahrhundertsommers 2018. Dennoch bleibt die absolute Nennhäufigkeit mit einem Viertel der Stimmberechtigten relativ gering. In den 1980er-Jahren machten sich jeweils noch drei Viertel der Menschen Sorgen um die Umwelt – aktuell nur gut ein Fünftel.

Eine Bilanz über die Sorgenjahrzehnte

Blicken wir nochmals aufs Ganze: Wie sind die Entwicklungen über den ganzen Zeitraum im Sorgenbarometer zu deuten?

Clive H. Church, ein Brite und herausragender Kenner der Schweizer Politik, hat vor zwei Jahren ein Buch über diese Zeit geschrieben: «Political Change in Switzerland: From Stability to Uncertainty». Gemünzt ist es auf die Ära der Globalisierung. Sie setzte dem Sonderfalldenken ein Ende – allerdings ohne neue Sicherheiten zu vermitteln, wie es im Untertitel zum Ausdruck kommt.

1992 war der Kalte Krieg zu Ende, der Europäische Binnenmarkt rückte in den Fokus. Mit dem EWR versuchte die Schweiz, einen angepassten Anschluss an die EU zu finden. Bekanntlich misslang das Projekt.

Was in dem Vierteljahrhundert seither geschah, lässt sich in Anlehnung an Clive H. Church als Abfolge von Problematisierungszyklen in einem unsicheren Umfeld beschreiben. Aufeinanderfolgend wurden die Arbeitsmarkt-, die Europa-, die Migrations-, die Sozial- und die Umweltfrage ins Zentrum der öffentlichen Problematisierung gerückt und politisch verhandelt.

Die Dauer der Zyklen betrug bis zu einem Jahrzehnt, bisweilen lag sie auch nur bei zwei bis drei Jahren. Neben diesen Zyklen verschwinden Mainstream-Sorgen zusehends. Überragende Problemdeutungen gibt es kaum mehr, selbst die Hauptsorge erreicht heute nur minderheitliche Werte.

Ursache ist die Globalisierung. In ihrem Zuge hat die Wirtschaftsfrage wieder an Bedeutung gewonnen. Das ökonomische Umfeld wird als instabil wahrgenommen, entsprechend ist die Verunsicherung gestiegen. Auf diesem Nährboden wuchsen Sorgen heran – und wurden so lange bewirtschaftet und politisch ausdiskutiert, bis sie wieder von neuen Sorgen abgelöst wurden.

Der Autor

Claude Longchamp ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist Lehrbeauftragter der Universitäten Bern und Zürich, Gründer und Verwaltungsratspräsident des Forschungsinstituts GFS Bern. Während dreissig Jahren analysierte er Volksabstimmungen für das Schweizer Fernsehen.

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