Die Schweizer Politik im Parteientumbler
SP und Grüne, aber auch SVP und FDP entfernen sich immer mehr von der Mitte – die einzige staatstragende Partei bleibt die CVP: Das zeigt eine Positionsanalyse der Schweizer Parteien.
Von Claude Longchamp, 05.11.2018
Bundespräsident Alain Berset, der auch Politikwissenschaftler ist, hat für die Veränderung der Parteienlandschaft einst ein Bild gefunden: die Zentrifuge.
Angesprochen ist eine Entwicklung, die in den 1980er-Jahren begann: Die Parteien treiben in ihrer Positionierung von der Mitte nach aussen wie Socken in einem Tumbler. Ihr Profil orientiert sich einerseits immer stärker an den Extremen – links, rechts. Andererseits nimmt die Regierungstreue ab.
Wozu dies geführt hat, beleuchtet dieser Beitrag. Sein Herzstück ist eine Grafik: über das politische Spektrum, so, wie es sich 2018, drei Jahre nach Beginn der Legislatur und ein Jahr vor den nächsten Wahlen, präsentiert.
Die Geografie der Schweizer Parteien
Die Grafik ordnet die Parteien entlang zweier Dimensionen an. Horizontal: die Links-rechts-Positionierung. Vertikal: die Regierungsnähe – je weiter oben eine Partei steht, desto öfter stimmt sie mit dem Bundesrat überein; je weiter unten, desto öfter steht sie in Opposition zur Landesregierung.
Die Visualisierung basiert auf den Parolen zu dreissig Volksabstimmungen, welche die acht wählerstärksten Mutterparteien und die fünf grössten Jungparteien seit den letzten Wahlen ergriffen haben.
Anhand dieser Auswertung wird klar, warum Berset von einer Zentrifuge spricht: Kreisrund reihen sich die Punkte aneinander, von den Juso links unten über die CVP in der oberen Mitte bis zur SVP ganz rechts unten.
Wie kann man das Diagramm lesen? Wie eine geografische Karte. Je näher zwei Parteien beieinanderstehen, desto geringer ist die inhaltliche Distanz zwischen ihnen. Übertragen auf die Schweizer Geografie hiesse das:
Die SVP wäre ungefähr im Bündner Puschlav zu Hause – einige Auto- oder Zugstunden entfernt von den grossen Zentren und noch viel weiter entfernt von der Westschweiz.
Die FDP würde sich etwa in Sargans wohlfühlen, im Bündner Rheintal, auf halbem Weg nach Zürich.
Die CVP wäre nahe von Schaffhausen situiert – in nächster Nachbarschaft zum Bundesrat, der sein Quartier ebenfalls in der Nordschweiz hätte.
Die Grünliberalen würden in Olten, die EVP-Politiker in Delsberg wohnen.
Die Sozialdemokraten und die Grünen schliesslich würden sich in der Gegend des Neuenburger Sees sonnen.
Und die Juso wären schliesslich irgendwo im Waadtland.
Eine solche Darstellung analog zu einer Landeskarte bietet sich an, weil sie einerseits die klassischen, am Links-rechts-Schema orientierten inhaltlichen Differenzen zwischen den Parteien sichtbar macht.
Andererseits werden die Bewegungen des Sichabsetzens vom Konsens hervorgehoben. Und zwar deutlicher als in der üblichen Einteilung, die statt der Achse Regierung/Opposition mit einer kulturellen Achse arbeitet und die Parteien nach ihrer gesellschaftlichen Offenheit einteilt.
Anhand des Zentrifugendiagramms lässt sich so nicht nur ablesen, wo die Parteien stehen. Sondern insbesondere auch, wie sie zueinander stehen.
Das Auseinanderdriften der Mitte
Zuoberst sind jene Parteien eingezeichnet, die oft mit dem Bundesrat übereinstimmen. Hier stechen vor allem die CVP und die BDP hervor. Sie sind die einzigen Parteien, die in der heutigen Zeit noch nahezu regierungstreu sind. Etwas eingeschränkt, weil diese Parteien weiter links stehen, gilt das auch für die EVP und die Grünliberalen.
Am untersten Ende stehen die Parteien, die am weitesten entfernt von der Bundesratsposition politisieren. Hier sticht die SVP heraus, obwohl sie selbst zwei Bundesräte stellt. Auf halber Distanz, nahezu gleich weit von der Regierung entfernt, stehen die Freisinnigen und die Sozialdemokraten. In der vertikalen Dimension kommt also zum Ausdruck, dass die rot-grünen Parteien weit weniger oppositionell sind als die nationalkonservative SVP.
Zur Opposition neigen auch manche der Jungparteien, die wir hier erstmals in einer solchen Analyse berücksichtigen. Sie haben an Einfluss auf die Mutterparteien gewonnen – ihre Rolle auf der nationalen Politikbühne ist nicht zu unterschätzen. Zuletzt sind die Jungparteien etwa mit Referenden gegen das Geldspielgesetz, die AHV-Reform und das Nachrichtendienstgesetz auf Konfrontationskurs zu ihren Mutterparteien gegangen.
Am besten zum Ausdruck kommt die Abgrenzung bei den Jungfreisinnigen und den Jungsozialisten. Beide Jungparteien sind stark regierungskritisch. Die Jungfreisinnigen stimmen rechter als die FDP und nähern sich in ihrer Position der Jungen SVP an. Die geringste Unterscheidung findet sich bei den jungen Christdemokraten. Sie stimmen fast völlig überein mit der CVP Schweiz.
Auffallend ist, dass sich zwischen dem Zentrum und den Polen zusehends Zwischenpositionen bilden. Der Grund hierfür ist die Aufspaltung der Mitte seit 2011. EVP und Grünliberale sind auf der horizontalen Achse nach links gerückt, während CVP und BDP weiterhin gemässigt rechts stehen. Derweil hat sich die FDP seit der Fusion mit der LPS von 2009 vom Zentrum verabschiedet und markiert heute eine Mitte-rechts-Position.
Neue Allianzen, blockierte Vorlagen
Die Parteienzentrifugierung beeinflusst, wie in der Schweiz Politik gemacht wird. Typisch für das heutige Parteiengefüge sind etwa die gehäuften Konflikte, wenn es an der Urne um Regierungsvorlagen geht:
Die Unternehmenssteuerreform und die Rentenreform, zwei Vorlagen der Regierung, sind so zu Grossbaustellen geworden. Grund dafür war der Rechtsruck bei den Nationalratswahlen 2015, in dessen Folge die USR III wirtschaftsliberaler ausgestaltet wurde. Die SP konterte dies mit einem Referendum. FDP und SVP revanchierten sich bei der AHV-Reform.
Einen Daueroppositionskurs fährt dagegen die SVP in ihrem Kampf gegen neu definierte Staatsaufgaben. Unterstützung erhält sie hier oft nur von den staatskritischen Jungfreisinnigen. Weitgehend isoliert ist die SVP zudem bei ihrem Profilierungsthema, den Migrationsfragen.
Rot-grüne Opposition gibt es dagegen oft bei Fragen des Privatverkehrs und zuletzt auch beim Nachrichtendienstgesetz, wo sich auch die Grünliberalen anschlossen. Bei der anstehenden Volksabstimmung zu den Sozialdetektiven wiederholt sich dieses Muster.
Die wirrste Allianzkonstellation entstand bei der diesjährigen Abstimmung zum Geldspielgesetz. SP, CVP und EVP verteidigten die Behördenvorlage, alle anderen Parteien waren dagegen – auch die Jungsozialisten. Die Episode zeigt, wie unbeständig die Parteien in ihrer Positionsfindung geworden sind.
Doch auch bei Volksinitiativen sind die Parteifronten oft verhärtet: Keine einzige Volksinitiative war in der laufenden Legislatur mehrheitsfähig.
Sinnbild der Zerklüftung ist die SVP. Sie blieb bei ihren Projekten weitgehend allein. Verbündete fand sie einzig bei den Jungfreisinnigen, welche die Milchkuh- und die No-Billag-Initiative unterstützten.
Links der Mitte konnten sich etwa die SP und die Grünen nicht über das bedingungslose Grundeinkommen einigen. Bei der ökologischen Wirtschaftspolitik klappte die Allianz, hier kamen auch die Grünliberalen hinzu.
Ein Sonderfall war die Volksinitiative zu «Ehe und Familie», mit der die CVP die sogenannte Heiratsstrafe abschaffen und den Ehebegriff als Beziehung zwischen Mann und Frau zementieren wollte. Dabei wurde sie von der rechten SVP und der eher linken EVP unterstützt. Gemeinsam bildeten sie eine gesellschaftskonservative Allianz, die bisher aber eine Ausnahme blieb.
Die schweizerische Demokratie steht angesichts des Parteientumblers vor einer grossen Schwierigkeit, für die sich noch keine Lösung abzeichnet.
Ist die Konkordanz in Gefahr?
Dabei geht es um die Frage, wer eigentlich den Staat trägt. Volksparteien, die kein glasklares, weltanschauliches Profil haben, verschwinden zunehmend. An ihre Stelle treten Parteien, die stärker von Ideologien geprägt sind – und weniger Bereitschaft zeigen, Kompromisse mitzutragen.
Den eigentlichen Regierungsparteibetrieb, den die Schweiz einst kannte, gibt es damit nicht mehr. Nur noch die CVP kann heute noch eindeutig als staatstragende Partei bezeichnet werden. Allerdings leidet sie seit 2007 unter einem anhaltenden Wählerschwund.
Alle anderen Regierungsparteien haben sich von dieser Rolle entfernt, am stärksten die SVP und die SP. Neuerdings hat aber auch die FDP die Tendenz, von Behördenpositionen abzuweichen. Parallel zu ihrer Absetzbewegung in Bezug auf die Regierung erfahren diese Parteien wachsende Wähleranteile. Das verstärkte weltanschauliche Profil der Parteien wird durch das forsche Auftreten der Jungparteien zusätzlich verstärkt. Sie festigen die Polbildung. Namentlich bei der FDP und der SP wird eine Abkehr vom Kompromiss sichtbar.
Die Zukunft des Konkordanzsystems hängt in einem ersten Schritt vom Abschneiden der CVP bei den Wahlen 2019 ab. Sollte die Partei weiter Wähler verlieren, dürfte ihre Bedeutung als nationale Partei noch stärker infrage gestellt werden als bisher. Bei einem Wähleranteil von weniger als 10 Prozent käme das regierungsnahe Zentrum um die CVP noch auf ungefähr 20 Nationalratssitze.
Retten würde die Partei höchstens, wenn sie im Ständerat stabil bliebe und als Vertreterin ausgewählter regionaler Hochburgen, wie etwa des zweisprachigen Wallis, den politischen Ausgleich im Bund schaffen könnte. Das würde ihre weitere Präsenz im Bundesrat rechtfertigen. Sollte sie dagegen ihre Sitzzahlen halten können, würde sich diese Frage direkt nicht stellen.
Zu einem zweiten entscheidenden Schritt könnte die FDP beitragen, sollte sie sich unumkehrbar von der Regierungsmehrheit verabschieden. Anreize dafür existieren: Die Freisinnigen hätten grosses Wachstumspotenzial mit einem pointiert rechtsliberalen Kurs und thematischen Allianzen mit der SVP – etwa in der Finanzpolitik, bei Sozialleistungen und der Infrastruktur.
Dieses Modell leben verschiedene kantonale Sektionen der Jungfreisinnigen vor (ZH, LU, SG, SZ). Sie lehnen gemeinsam mit der Jungen SVP die kombinierte Steuer- und Rentenreform ab. Der nationale Jungfreisinn und die FDP Schweiz zögern. Solange es wirtschafts- und aussenpolitisch grundlegende Differenzen gibt, macht eine enge Zusammenarbeit mit der SVP wenig Sinn.
Wie aus der zentrifugierten Parteienlandschaft künftig eine kohärente Politik entstehen soll, ist die grosse Frage, die sich in der hiesigen Demokratie stellt.
Claude Longchamp ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist Lehrbeauftragter der Universitäten Bern und Zürich, Gründer und Verwaltungsratspräsident des Forschungsinstituts GFS Bern. Während dreissig Jahren analysierte er Volksabstimmungen für das Schweizer Fernsehen.
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