Der Sieg beim brutalsten Radrennen der Welt – und jetzt?
Nicole Reist gewann das Race Across America – und sah um sich herum nur Leere. Ein kaum erklärbarer Kampf begann.
Von Isabelle Schwab (Text) und Till Lauer (Illustration), 31.12.2018
Der Moment
Sie weint, als sie in Annapolis ins Ziel rollt. Doch kaum jemand sieht ihr dabei zu. Es ist 6 Uhr morgens, die Kleinstadt kurz hinter Washington D.C. liegt verlassen da. Nur die Begleiter der beiden Schweizer Teams stehen am Strassenrand und versuchen eine Art Jubel. Sie steigt vom Velo, will es hochheben als Zeichen ihrer Freude, es geht nicht, sie bekommt das Rad nicht hoch, zu verkrampft sind ihre Muskeln, zu ausgelaugt ist ihr Körper. Nach über 4900 Kilometern im Sattel, nach 11 Tagen, 14 Stunden, 25 Minuten, in denen sie fast ununterbrochen in die Pedale getreten hat.
Sie weint nicht vor Freude, sie weint vor Schreck. Was jetzt? Jetzt, wo der Traum ihres Lebens wahr geworden ist? Nicole Reist, die 33-jährige Hochbautechnikerin aus Winterthur, hat das RAAM gewonnen, das Race Across America, das brutalste Radrennen der Welt. Ein Triumph. Sie fühlt ihn nicht. Sie spürt nur Einsamkeit und Leere, und das macht ihr Angst.
Es war im Jahr 1982, als sich zum ersten Mal vier Verrückte aufmachten, einmal quer durch die USA zu radeln, von Los Angeles nach New York. Die Route änderte, die Distanz blieb: Heute treten jedes Jahr 30 Einzelfahrer und -fahrerinnen zum RAAM an, dazu 40 Teams. Ungefähr die Hälfte schaffen es nicht ins Ziel.
2016 ist das Jahr, in dem Nicole Reist ihr Glück versucht. Die ausgelassene Stimmung beim Start in einem Park bei Los Angeles. Die Wüste vor dem Wolf Creek Pass, 1000 Kilometer später, als die Temperatur binnen Stunden von 50 auf 0 Grad fällt. Die nicht enden wollende Müdigkeit. Bis zu 30 Stunden sitzt sie im Sattel, ehe sie anhält und ins Begleitfahrzeug wankt, um sich eine halbe Stunde Schlaf zu gönnen. Trotzdem fallen ihr auf den letzten 1000 Kilometern immer wieder die Augen zu. Sekundenschlaf, das Rad kommt ins Schlingern, mehrfach stürzt sie beinahe.
Als sie in Annapolis im Ziel steht, Tränen in den Augen, umringt von ihrer jubelnden Crew, wünscht sie sich weit weg. Sie erträgt kaum den Lärm, nach 11 Tagen angespanntester Konzentration, nach all den einsamen Kilometern durch Wüsten und Berge. Es ist der 26. Juni 2016. Ihr 32. Geburtstag.
Sie bleibt noch einige Tage mit ihrem Team in Annapolis. Sie ist zum ersten Mal in den USA, doch sie verlässt kaum ihr Zimmer. Sie ist am Ende ihrer Kräfte und überfordert vom Trubel der Stadt, von der Musikbeschallung, den grellen Farben der Billboards. Sie hadert mit sich. Sie fühlt sich so leer wie nie zuvor in ihrem Leben. Soll sie weitermachen? Oder aufhören, nun, wo sie ganz oben steht?
Es gibt Momente, da haben wir die Wahl: Sollen wir weitermachen wie bisher oder einen unbekannten Weg einschlagen, mit vollem Risiko? Wir haben fünf Menschen besucht, die genau diesen Moment erlebt haben, die vor dieser Frage standen und nun darüber erzählen. Lassen Sie sich inspirieren.
Wie alles begann
Als sie 20 ist, fährt Nicole Reist ihr erstes Ultrarennen, die 24 Stunden von Schötz. Sie ist schon immer sportlich gewesen, hat Hockey und Tennis gespielt und macht nun diesen Wettkampf aus einer Laune heraus, ohne sich darauf vorbereitet zu haben. Ihr einziges Ziel: nicht abzusteigen. Weil sie dann vor lauter Schmerzen vielleicht nicht wieder aufsteigen würde. So bleibt sie im Sattel, 24 Stunden lang, schafft es ins Ziel und spürt: Da geht noch mehr. Sie beginnt zu trainieren.
Nur zwei Jahre später gewinnt sie das Weltmeisterschaftsrennen im Ultraradmarathon in Österreich. 1000 Kilometer, 17’000 Höhenmeter: Sie ist fast zwei Tage unterwegs. Und von da an geht es eigentlich nur noch aufwärts: Sie wird Schweizer Meisterin, Europameisterin, erneut Weltmeisterin.
Zugleich arbeitet sie weiter zu hundert Prozent als Hochbautechnikerin. Jeder Tag beginnt nun auf dem Rollentrainer in ihrer Garage, auf dem sie die ersten Kilometer abspult, gefolgt von Kraft- und Stabilisationstraining. An den Wänden hängen Motivationsposter, Berglandschaften und ein Porträt von Christoph Strasser, dem erfolgreichsten Ultraradrennfahrer dieser Tage. Dazu ihr Lebensmotto: «Erfolg entsteht ausserhalb der Komfortzone.» Nach Feierabend: noch mehr Training in der Garage.
2016, in den auf ihren Sieg beim Race Across America folgenden Tagen, verlässt sie nur einmal ihr Zimmer, um sich Obst und Gemüse zu kaufen. Während der Rennen verbietet sie sich Äpfel und Salat, sie sind nicht effizient, sie ernährt sich dann aus einem Spritzbeutel mit einem Gelee, das in erster Linie aus Fett besteht. Sie kauft sich einen Apfel und flüchtet wieder in ihr Zimmer. Sie muss darüber nachdenken, wie und ob es überhaupt noch weitergehen kann mit ihrer Rennkarriere.
Und jetzt?
Zurück in der Schweiz flüchtet sie in die Routine. Sie tritt noch im selben Jahr an zur «Tortour», der Schweizer Ultracycling-Meisterschaft. Gewinnt. Fällt danach aber in ein umso grösseres Loch.
Es ist Anfang August 2018, ein Gartenlokal in Fehraltorf bei Winterthur. Nicole Reist hat eine Stunde Mittagspause, mehr Zeit hat sie nicht für das Gespräch. Wenn sie nicht redet, schaufelt sie riesige Mengen in sich hinein. Sie hat kurze, aschblonde Haare, ist mädchenhaft schmal, trägt weite Jeans und ein schwarzes, ausgewaschenes T-Shirt. Sie redet leise und zurückhaltend – und zugleich sehr entschieden.
«Durchhalten ist Kopfsache», sagt Reist. «Mir geht es nie darum, ob ich andere übertreffen kann. Ich will herausfinden, wo meine Grenzen liegen, und sie dann verschieben.»
Dieser Antrieb ist es, der sie aus der Verzweiflung rettet. 2016 richtet sie sich auf, indem sie sich das nächste Ziel setzt: das RAAM in unter 10 Tagen zu schaffen, als eine der ersten Fahrerinnen überhaupt.
Im Sommer 2018 ist sie zum zweiten Mal am RAAM angetreten, wieder kostet ihr Start rund 50’000 Franken. Sie fährt um ihr Leben, das harte Training zahlt sich aus, nun erreicht sie das Ziel in Annapolis nach nur 9 Tagen, 23 Stunden und 57 Minuten. Bleibt 3 Minuten unter der von ihr anvisierten Marke. Geniesst die Freude über ihren Sieg. Es die beste Zeit, die eine Frau beim RAAM seit 1995 gefahren ist.
Das unerbittliche Training, die tagelangen Rennen – grenzt das nicht an Selbstzerstörung? «Klar», sagt Nicole Reist, «die Rennen, die sind nicht gesund. Aber wer mich kritisiert, hat keine Ahnung davon, wie professionell ich das mache. Nicht ich entscheide über meine Trainingseinheiten, sondern mein Trainer.»
Der tiefste Punkt ihrer Karriere aber war jener Morgen 2016 in Annapolis, als sie zum ersten Mal auf dem höchsten Gipfel stand. Mit einem Schaudern erinnert sie sich daran. Als sie sich entscheiden musste, wie es weitergehen soll, ob sie die Kraft hat, weiter in der Weltspitze mitzufahren. Was treibt sie an? Woher dieser Hunger? Woher die Bereitschaft, noch die dunkelsten Winkel ihres Schmerzes zu erkunden? Sie sagt, sie wisse es nicht. Sie sagt, sie sei eben schon immer eine Perfektionistin gewesen. Sie sagt: Ausdauer sei nun einmal ihre Stärke. Sie kann es nicht erklären.