Medizin studieren, um der kranken Ehefrau zu helfen?
Die Gattin von Patrick Frutig ist an multipler Sklerose erkrankt. Im Wartezimmer kam ihm eine Idee, die beider Leben veränderte.
Von Isabelle Schwab (Text) und Till Lauer (Illustration), 25.12.2018
Der Moment
Warten. Schweigen. Nach einer Illustrierten greifen, darin blättern, sie wieder weglegen. Seit anderthalb Stunden sitzen die beiden im Wartezimmer. Der Raum ist gross, dunkler Holzboden, lilafarbene Wände, sie sitzen allein darin, draussen, hinter einer Milchglasscheibe, sehen sie das Hin und Her der Arzthelferinnen.
Die beiden kennen das. Seit sieben Jahren sitzen sie in solchen Wartezimmern, still, bedrückt, mit einem Gefühl des Ausgeliefertseins. An die Fachbegriffe, die sie kaum verstehen, an die Medikamente, die in einem fort neu auf den Markt kommen, an die Ärzte, die einander widersprechen und deren wiederholte Flapsigkeit in ihnen die Frage nährt, wie ernst man sie nimmt.
Sieben Jahre ist es her, dass bei Irene Frutig multiple Sklerose festgestellt wurde, jene Entzündung im Nervensystem, die den Körper auf lange Sicht lähmt. Seit sieben Jahren begleitet sie ihr Mann Patrick zu den Arztterminen. Sie sind Mitte dreissig, seit der Schule ein Paar – und wirken noch immer, als seien sie frisch verliebt: strahlen, wenn sie einander anschauen, blicken den anderen an, wenn sie etwas gesagt haben, um zu schauen, ob es auch für ihn stimmt, auch für sie.
Irene Frutig führt einen Schönheitssalon, Patrick Frutig ist Architekt. Hauptsächlich plant er Wohnheime für Seniorinnen. An diesem Nachmittag fällt sein Blick immer wieder auf die Diplome des Arztes, die gerahmt an der Wand hängen: der Abschluss in Humanmedizin, die Spezialisierung in Neurologie. Plötzlich wird ein Gedanke, der als Ahnung schon seit Wochen durch sein Gehirn spukt, zu Worten: «Ich werde Neurologe.»
Irene Frutig lacht. Sie fragt: «Meinst du wirklich?» Sie sieht seinen Blick und begreift: Es ist ihm ernst.
Es gibt Momente, da haben wir die Wahl: Sollen wir weitermachen wie bisher oder einen unbekannten Weg einschlagen, mit vollem Risiko? Wir haben fünf Menschen besucht, die genau diesen Moment erlebt haben, die vor dieser Frage standen und nun darüber erzählen. Lassen Sie sich inspirieren.
Wie alles begann
Irene Frutig ist 27, als sie ihre Diagnose bekommt. Seit Wochen fühlt sich ihr Körper taub an, so, als habe sie jemand bis zum Hals mit Plastikfolie umwickelt. Dazu ist ihr schwindlig und speiübel. Eine Woche später ist klar: Irene Frutig hat multiple Sklerose. Ein Teil ihres Immunsystems ist falsch programmiert, es greift die Schutzschicht ihrer Nervenzellen an. Sie leidet an einer schubartigen Form, dabei erholen sich die Nervenzellen immer wieder, doch nach und nach vernarbt das Gewebe. Bewegungen werden anstrengender, oft ist sie erschöpft, weil ihr Nervensystem neue Wege suchen muss, um Impulse zu ihren Händen, ihren Beinen, ihren Gesichtsmuskeln zu senden.
Nur Monate nachdem die Diagnose klar ist, macht ihr Patrick einen Antrag, und am 11.11.11, nach 11 Jahren Beziehung, heiraten sie im Schlössli von Willisau.
Unterdessen wird Irene Frutig bei ihrer Arbeit im Salon immer unsicherer. Hat sie die Kundin schon gefragt, ob sie etwas trinken will? Ihr Mann, in seiner praktischen Art, bastelt ihr ein unauffälliges Signalsystem: Magnet auf dem ersten Feld: Sie hat der Kundin ein Getränk angeboten. Magnet auf dem zweiten: Sie muss der Kundin noch die Augenbrauen zupfen.
Und dann beginnt die Odyssee durch die Sprechzimmer. Einmal wird ein tödliches Virus bei Irene entdeckt – was sich als Fehlalarm entpuppt. Einmal wechselt sie, gegen den Rat ihres Arztes, das Medikament. Es schlägt nicht an. Drei weitere Male wechselt sie die Therapie.
Für Patrick Frutig fühlt sich jeder Arztbesuch wie eine Prüfung an, und jedes Mal hat er den Eindruck, er sei durchgefallen. Fachwörter werden aneinandergereiht, Optionen genannt, Wahrscheinlichkeiten durchgerechnet, mögliche Krankheitsverläufe geschildert. Er versteht nur einen Bruchteil. Und fragt sich bei jeder Entscheidung: War das jetzt richtig? Kann er überhaupt kompetent entscheiden? Weiss er am Ende nicht doch zu wenig?
Das alles nährt seinen Entschluss, Arzt zu werden, an jenem Nachmittag im Juni 2018, als sie im Wartezimmer mit den lilafarbenen Wänden sitzen. Noch am selben Abend googeln die beiden, wie man Neurologe wird. Noch in der gleichen Woche kündigt er seinen Job.
Und jetzt?
Wenige Wochen später sitzen die beiden im Esszimmer ihrer Wohnung am Rand von Alberswil, einem Dorf im Kanton Luzern. Die Räume sind frisch renoviert, die Möbel hell und schlicht, die meisten haben sie selbst gebaut. Die beiden sitzen am Esstisch, und während sie erzählen, rücken sie immer näher zusammen.
Er trägt ein Karohemd, lacht viel und wirkt jugendlich und geradlinig. Er ist lauter als seine Frau, lässt aber keine Gelegenheit aus, sie zum Mittelpunkt seiner Erzählung zu machen. Sie hat rötlich gefärbte Haare, trägt Jeans und Bluse, ist ein wenig blass, aber man sieht ihr die Krankheit nicht an, sie zittert nicht, geht ganz normal und redet über ihre Krankheit so distanziert, als halte sie ein Referat.
In Kürze hat Patrick Frutig seinen letzten Arbeitstag, ab da wird er sich auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten. Er sagt, er sei fast schon übermotiviert, ja, er könne es schaffen. Sie wird unterdessen ihren Kosmetiksalon weiter betreiben, solange es geht, und so sein Medizinstudium finanzieren – genau so, wie sie schon sein Architekturstudium mitfinanziert hat.
Im besten Fall, wenn alles klappt, wenn er jede Prüfung besteht und stur seinen Plan verfolgt, ist Patrick Frutig mit 46 Jahren Neurologe. «Ich habe dann mein halbes Leben studiert und nichts erreicht», sagt er, kein Haus gebaut, keine Familie gegründet, die Altersvorsorge viel zu schmal. Doch das sei es ihm wert. Wenn nur die kleine Chance besteht, dass er ihr Leiden lindern kann.