Frauen retten, obwohl es das Leben anderer gefährdet?
Miriam Kasztura war von Médecins sans Frontières in die Zentralafrikanische Republik entsandt worden. Dort erlebte sie eine Situation, die sie an ihre Grenzen brachte.
Von Adelina Gashi (Text) und Till Lauer (Illustration), 26.12.2018
Der Moment
Die Nacht über verbringen sie in einem Haus, das ihnen die Dorfbewohner überlassen haben. 150 Kilometer weit müssen sie fahren, um die beiden muslimischen Frauen in Sicherheit zu bringen; auf den holprigen Pisten Zentralafrikas ist das eine Reise von etwa sechseinhalb Stunden. Längst ist es dunkel. Da hören sie plötzlich in der Ferne Motorräder. Rasch kommen sie näher. Als Miriam Kasztura aus dem Haus tritt, steht sie 30 Kämpfern der christlichen Miliz, der sogenannten Anti-Balaka, gegenüber. Sie sind bewaffnet mit Pfeil und Bogen, mit Macheten und Kalaschnikows. Manche tragen grüne oder pinke Perücken, passend zu ihren neonfarbenen Kleidern. Um ihre Hälse baumeln Amulette, die sie beschützen sollen. Kasztura hat Angst, so grosse Angst wie nie zuvor in ihrem Leben. Ihr Mund ist trocken. Sie weiss, dass die Männer einen Verwundeten bringen wollen. Sie hatte versucht, den Mittelsmännern einzuschärfen, den Angeschossenen ins Gesundheitszentrum zu bringen und nicht zu ihrer Unterkunft. Jetzt sind sie trotzdem hier. Aber wissen sie auch von den beiden Frauen, die sich unweit im Gebüsch verstecken? Wurden sie verraten? Sie tritt ihnen entgegen.
Am Tag zuvor sind sie in einem Dorf weit im Westen der Zentralafrikanischen Republik angekommen. Dort leiden die Menschen besonders unter dem Bürgerkrieg, allen voran die Kinder, von welchen viele an Mangelernährung leiden. Sie haben sie untersucht und ihnen mit Vitaminen angereicherte Erdnusspaste gegeben. Es ist Kaszturas siebter Einsatz für Médecins sans Frontières.
Am Nachmittag, in jenem Dorf, kommt ihr Fahrer zu ihr, nimmt sie beiseite und erzählt, dass sich zwei muslimische Frauen mit ihren Kindern in der Nähe im Gebüsch verstecken. Eine der beiden sei schwanger. Ihre Männer seien von den Milizen getötet worden. Jemand aus dem Dorf habe ihm das erzählt, er habe die beiden seit über einem Monat mit Nahrung und Wasser versorgt.
Gemeinsam mit ihrem Fahrer suchen Kasztura und ihr Kollege abends den Mann auf, der sich in den vergangenen Wochen um die Frauen gekümmert hat. Eine gute halbe Stunde führt er das Team durch das Gebüsch. Die Frauen hocken mit ihren Kindern unter grossen Blättern, sind ausgemergelt und zu Tode erschrocken, als plötzlich die Helfer vor ihnen stehen. Der Fahrer spricht ruhig auf sie ein, erklärt ihnen, dass sie hier sind, um zu helfen.
Médecins sans Frontières verpflichtet sich bei seinen Einsätzen zu strikter Neutralität – und lässt sich vorab von allen Kriegsparteien zusichern, ungestört helfen zu können. Im Gegenzug behandeln die Ärzte alle, die ihre Hilfe benötigen. Verwundete Kämpfer genau wie deren Opfer. Kasztura weiss, dass sie sich nicht einmischen darf in den Konflikt. Sie weiss aber auch, dass die Anti-Balaka es nicht zulassen würden, die muslimischen Frauen nach Berbérati zu überführen. Aber – die beiden mit ihren Kindern im Busch zurücklassen? Riskieren, dass sie von den Milizen entdeckt, vergewaltigt oder sogar umgebracht werden?
Per Satellitentelefon ruft Kasztura ihren Projektleiter an. Sie braucht seinen Rat. Er ermahnt sie, kein Risiko einzugehen, gibt ihr aber das Okay, so zu handeln, wie sie es für richtig hält. Mit ihrem Kollegen trommelt sie abends ihr lokales Team zusammen, erzählt von den beiden Frauen und fragt in die Runde, was sie jetzt tun sollen. Einige sagen: Sie dürften sich nicht einmischen, das gefährde nicht nur ihren Einsatz, sondern bringe auch sie selbst in Gefahr. Das sei nicht ihr Job. Doch dann steht ihr einheimischer Fahrer auf und hält eine ergreifende Rede: Sie seien hier, weil sie helfen wollten, ihr Engagement dürfe hier nicht enden. So stimmt er die Gruppe um. So einigen sie sich darauf, die Frauen am nächsten Morgen abzuholen und versteckt im Fahrzeugkonvoi bis in ein Frauenkloster nach Berbérati zu bringen, etwa fünf Anti-Balaka-Checkpoints entfernt.
Spätabends, längst sind alle erschöpft, fahren plötzlich die 30 Männer der Anti-Balaka-Miliz vor, bewaffnet mit Macheten, Pfeil und Bogen und Kalaschnikows. Im Nu hatte sich auch bis zu ihnen herumgesprochen, dass ein Team von Médecins sans Frontières dort Station macht. Kurz zuvor hat ein Einheimischer Kasztura gewarnt, dass die Miliz im Anmarsch ist, mit einem Verwundeten.
Sie ist eingeschüchtert. Sie weiss nicht, was sie wissen. Sie lässt nur den Verwundeten nach innen, behandelt seine Fleischwunde, begleitet ihn wieder nach draussen. Sie schwitzt, ihr ist unwohl, sie fürchtet, dass doch noch etwas schiefgeht, irgendwer sie verraten hat, dass sie entdeckt werden. Mit allen Konsequenzen. Was, wenn die muslimischen Frauen verraten wurden? Das könnte für sie alle den Tod bedeuten.
Es gibt Momente, da haben wir die Wahl: Sollen wir weitermachen wie bisher oder einen unbekannten Weg einschlagen, mit vollem Risiko? Wir haben fünf Menschen besucht, die genau diesen Moment erlebt haben, die vor dieser Frage standen und nun darüber erzählen. Lassen Sie sich inspirieren.
Wie alles begann
Aufgewachsen ist Miriam Kasztura in einem Dorf bei Bern. Schon als Schülerin weiss sie, dass sie hinaus will in die Welt, und studiert nach der Matura in Genf Internationale Beziehungen. Doch sie bricht nach wenigen Semestern ab. Das ist ihr alles viel zu theoretisch. Sie will nicht in Büros herumsitzen und Konzepte schreiben, sondern möchte den Menschen ganz handfest helfen. Also wird sie Pflegefachfrau, arbeitet fünf Jahre lang in Australien, macht dort ihren Master in Public Health – und bewirbt sich bei Médecins sans Frontières.
Nicht lange, da erhält sie ihr erstes Angebot: Ob sie mit nach Guinea, Westafrika, wolle, um dort Malariakranken zu helfen? Kasztura sagt zu. Bewährt sich. Nicht lange, da plant sie komplette Einsätze für Médecins sans Frontières. Nach sieben Einsätzen wird sie 2014 in die Zentralafrikanische Republik berufen, das vielleicht ärmste Land der Welt, in dem nun auch noch ein Bürgerkrieg tobt: Die christliche Anti-Balaka-Miliz und die muslimische Séléka bekämpfen einander und ringen um den Zugriff auf Gold-, Diamanten- und Eisenerzminen.
Sie ist in Berbérati stationiert, der drittgrössten Stadt. Dort hilft sie vor allem bei der Behandlung von Kriegsverletzten. Immer wieder kommt es auch in der Nähe ihres Krankenhauses zu Schusswechseln. Dann werfen sich alle auf den Boden, so lange, bis das Gewehrfeuer abebbt. Später, als sich die Konfliktsituation in der Stadt beruhigt, fahren sie in Konvois hinaus in entlegene Dörfer, um dort für einige Tage den Kranken und unterernährten Kindern zu helfen.
An jenem Morgen, in jenem Dorf, brechen sie früh ihre Zelte ab. Den verletzten Kämpfer hat Kasztura behelfsmässig behandelt und ihn im örtlichen Gesundheitszentrum untergebracht. Aber auch er muss von ihnen nach Berbérati ins Krankenhaus gebracht werden.
Die Frauen verstecken sich mit ihren Kindern unter einer Plane auf der Ladefläche des Transporters, den Kasztura mit ihrem Kollegen fährt. Sie halten kurz beim Gesundheitszentrum und laden im anderen Auto den verwundeten Kämpfer ein. So machen sie sich auf den fast sieben Stunden langen Weg Richtung Berbérati.
Immer wieder müssen sie an Checkpoints anhalten. Meist werden sie – als Angehörige einer Hilfsorganisation – schnell durchgewinkt. Kasztura erzählt den Kämpfern, dass sie es eilig haben, da sie einen verwundeten Kollegen ins Spital nach Berbérati bringen, und so werfen die Milizen nur einen flüchtigen Blick ins Innere der Wagen.
Und jetzt?
An einem heissen Tag im Sommer 2018 sitzt Miriam Kasztura in einem Café am Genfersee, eine zierliche, fast mädchenhafte Frau, die ihre Haare zu einem Dutt gebunden hat und scheinbar unbeschwert von ihren Erlebnissen erzählt; das Leid, das sie gesehen hat, hat ihr die Fröhlichkeit nicht genommen. Seit zwei Jahren arbeitet sie in Lausanne als Pflegeexpertin, hat in der Zwischenzeit mit einem zweiten Master abgeschlossen. Sie lebt mit ihrem Mann zusammen und geniesst den Sommer in der Schweiz. Vierzehn Einsätze hat Kasztura für Médecins sans Frontières absolviert, den letzten – den heikelsten – 2017 in Syrien. Alle paar Wochen erhält sie einen Anruf aus der Zentrale. Ob sie in den Kongo wolle, in den Sudan, nach Uganda? Sie sagt dann jeweils ab. Sie braucht jetzt eine Pause. Sie ist froh, einmal nicht so viel Verantwortung tragen zu müssen, für so viele Menschen.
Von allen Entscheidungen, die sie in all den Jahren treffen musste, war das die heikelste: ob sie die Frauen und Kinder aus dem Gebüsch retten soll. Dass sie es gemacht hat, bereut sie keine Sekunde lang. «Ich hätte es niemals mit mir vereinbaren können, die Frauen zurückzulassen», sagt Kasztura. Und noch etwas kann sie nicht vergessen: wie ihre Kollegen zu ihr standen. «Es war ein besonderer Moment für uns alle: dieser tiefe Zusammenhalt und die vollständige Bereitschaft, das Richtige zu tun.» Mit vollem Risiko.
Damals, 2014 in Zentralafrika, sind sie am Morgen früh aufgebrochen und den ganzen Tag über gefahren und erreichten irgendwann Berbérati. Die Schwangere mit ihrem Baby und auch der Kämpfer, sie alle wurden ins Spital gebracht. Im Kloster übergaben sie den Nonnen die zweite Frau mit ihren Kindern. Sie waren in Sicherheit.