Soll er seinen Eltern sagen, dass er schwul ist?
Jahrelang führte Pascal Pajic ein Doppelleben, er spielte fast allen etwas vor. Dann folgte der Moment der Befreiung.
Von Adelina Gashi (Text) und Till Lauer (Illustration), 27.12.2018
Der Moment
Eine kleine Wohnung in einem Betonblock, Arbeiterviertel, Stadtrand. Der 19-jährige Pascal Pajic sitzt mit dem Zwillingsbruder auf seinem Bett, sie schauen Youtube-Videos, die Eltern die Nachrichten im Wohnzimmer. Die Brüder zanken sich, ziehen einander auf, klopfen Sprüche. Die Sticheleien gehen hin und her, irgendwann sagt Pascals Bruder lachend: «Haha, bisch schwul?!»
Und obwohl das bloss eine rhetorische Frage ist, antwortet Pascal: «Ja, bini.»
Sein Bruder ist schockiert. Ob das sein Ernst sei? «Ja», antwortet Pascal. Sein Zwillingsbruder steht auf und verlässt das Zimmer. Pascal geht ihm nach, zu den Eltern ins Wohnzimmer.
«Mama, Papa, Pascal ist schwul», sagt der Bruder, nicht als Anklage, sondern um es zu sagen. Stille. Der Vater verlässt wortlos das Zimmer, man hört, wie er im Nebenzimmer zu weinen beginnt. Die Mutter zwingt sich zu einem Lächeln, aber ihre Miene ist gequält. Sie versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Der Bruder will beschwichtigen, das sei doch nicht schlimm, das sei doch normal, alles okay. Pascal steht stumm daneben. Es ist ein Befreiungsschlag. Endlich ist die Wahrheit am Licht.
Es gibt Momente, da haben wir die Wahl: Sollen wir weitermachen wie bisher oder einen unbekannten Weg einschlagen, mit vollem Risiko? Wir haben fünf Menschen besucht, die genau diesen Moment erlebt haben, die vor dieser Frage standen und nun darüber erzählen. Lassen Sie sich inspirieren.
Wie alles begann
Pascal Pajic wächst in Chur auf, in bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater stammt aus dem Kosovo, seine Mutter aus Serbien, immer wieder geben sie ihren beiden Söhnen mit auf den Weg, dass es wichtig ist, Geld zu verdienen und eine eigene Familie zu gründen. So, wie es üblich ist. So, wie es sich für Männer gehört.
Pajic merkt früh, dass er sich nicht für Mädchen interessiert. Dass er anders ist. Dass er sich womöglich für Männer interessiert. Aber er versucht, diese Gedanken zu unterdrücken, er will den Vorstellungen seiner Eltern entsprechen. Und verbringt einen guten Teil seiner Jugend damit, sich ein Heteroimage zurechtzulegen. Er macht zehn Jahre lang Judo, trinkt und knutscht möglichst prominent mit Mädchen im Club herum – so, dass es ja alle mitkriegen. So stark wirkt das Tabu, dass es ihn anwidert und gleichzeitig traurig macht, wenn er schwulen Männern auf der Strasse begegnet.
Wenn er allein ist, quält ihn die Frage: Warum ich? Er verabscheut sich. Nicht einmal in seinen intimsten Momenten erlaubt er sich, seine Homosexualität zu akzeptieren. Er traut sich nicht, Schwulenpornos zu schauen, sondern sieht sich Sexfilme mit heterosexuellen Paaren an. Und hat nur Augen für den Mann.
Als er mit 13 aufs Gymnasium kommt, ändert sich sein Umfeld. Er beginnt, sich für Politik zu interessieren, linke Anliegen sagen ihm zu, Antirassismus vor allem. Er weiss, was es heisst, ein Einwandererkind zu sein, er weiss, was es heisst, mit einem «ic» im Namen eine Wohnung zu finden, wie das seine Eltern fast nicht geschafft haben. Er tritt den Juso bei und zieht mit 18, nach der Matura, fürs Studium nach Zürich.
Seine Eltern sind zwiegespalten. Lieber hätten sie es gesehen, wenn er sich neben dem Studium einen bezahlten Job gesucht hätte, um sie finanziell zu entlasten, anstatt ehrenamtlich für die Juso zu arbeiten. Andererseits sind sie stolz auf ihn. Pajic lässt sich nicht beirren. Er geht – und findet rasch neue Freundinnen und Freunde in Zürich.
Und da fragt ihn eines bierseligen Abends, in einem Juso-Camp, eine Kollegin: «Und was ist mit dir? Bist du schwul oder hetero?»
Pajic ist schockiert von der Beiläufigkeit dieser Frage. Er sagt in diesem Moment zu seiner Kollegin zwar noch: «Äh, ich bin hetero. Ich stehe auf Frauen.» Aber in seinem Kopf beginnt es von da an zu rattern. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er das Gefühl, dass es vielleicht gar nicht so schlimm ist, homosexuell zu sein. Dass da vielleicht gar nicht so viel dabei ist. Dieses Erlebnis gibt ihm Mut.
Er offenbart sich einigen Freundinnen. Und beginnt Schritt für Schritt, seine Schauspielrolle als Hetero-Pascal abzulegen. Achtet plötzlich nicht mehr ständig darauf, ob er männlich genug spricht, sich männlich genug kleidet.
Seiner Familie erzählt er erst mal nichts. Seine Mutter ist christlich-orthodox, der Vater Muslim. Sie leben ihren Kindern in Sachen Sexualität konservative Werte vor. Dazu gehört eben auch, dass Homosexualität ekelhaft, abscheulich und abnormal ist. Wenn Pascal Pajic aus Zürich nach Hause zurückkehrt, gibt er wieder sein Alter Ego zum Besten. Er trinkt, erfindet Frauengeschichten und gibt sich hetero.
Und jetzt?
Pascal Pajic sitzt in einem kleinen Park hinter dem Bahnhof von Bern unter einem Baum. Auf der Wiese sonnen sich Menschen, einige Jugendliche hören laut Musik. Pajic trägt kurze Hosen und ein buntes T-Shirt, einen schwarzen Vollbart und im Ohr einen schwarzen Ring. Er ist jetzt 25 und in der Geschäftsleitung der Juso Schweiz. Aber er plant, seinen Posten abzugeben, um sich auf das Medizinstudium zu konzentrieren. Er wirkt selbstsicher, wenn er von seinem Outing erzählt, er hat schon auf Veranstaltungen darüber gesprochen, er will Jugendlichen zeigen, dass sie sich nicht verstecken müssen. Und immer, wenn er davon redet, wie lange er selbst sich versteckt hat, ist zu spüren, wie nah ihm das immer noch geht.
Nach seinem Outing brauchten seine Eltern eine Weile, um ihn zu akzeptieren. «Aber heute stehen sie wieder hinter mir, und das ist ein unglaublich gutes Gefühl», sagt Pajic. «Ich komme vom Balkan, dort werden Homosexuelle noch immer beschimpft, bedroht und manchmal sogar von ihren Familien verstossen.» Aber Homophobie sei auch in der Schweiz noch ein Problem.
Darum ist der Kampf gegen Unterdrückung und für die Akzeptanz von LGBT zu seinem politischen Hauptanliegen geworden. Ob in Chur, in Zürich oder in Fribourg – wo Pajic jetzt studiert –: In Sachen Toleranz gebe es überall Nachholbedarf.
Und auch privat geht Pascal Pajic in die Offensive. Hetero-Pascal hat er schon vor langer Zeit gekillt. Völlig unverkrampft spielt er mittlerweile mit Geschlechteridentitäten. Er schminkt sich für sein Leben gern und geht in Frauenkleidern auf Partys, mit High Heels, Perücke und Vollbart. Ein wenig erinnert er dann an Conchita Wurst. Wobei, er nennt sich anders: «Jeanne Nötig» ist sein Drag-Queen-Name.