Die Demokratie-Hacker aus Argentinien

Wie eine Gruppe junger Tech-Unternehmer die Welt verändern will – und dabei auf Widersprüche stösst, die auch eine elegante Software nicht so einfach beseitigen kann.

Von Adrienne Fichter, 05.04.2018

Die Demokratie-Hacker aus Argentinien
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Politikwissenschaftlerin und Programmierer: Pia Mancini und Santiago Siri sind die Gründer von Democracy Earth. Gabriela Hasbun

Buenos Aires, ein Abend im Januar 2014. Santiago Siri, Anfang dreissig, öffnete eine E-Mail eines Entwicklers seines Teams. Im Betreff stand: «Kommt dir das irgendwie bekannt vor?» Darin fand er einen Link: vot-it.org. Er folgte ihm und landete auf einer arabischen Website. Irgendwann begriff Siri, dass es sich um eine Adaption seines eigenen Werks handelte: Democracy OS.

Die Software wurde gerade dazu benutzt, die Verfassung Tunesiens zu kommentieren, eines von Unruhen schwer gebeutelten Staats. Abschnitt für Abschnitt arbeiteten sich Tausende von tunesischen Usern durch. Mit Anmerkungen und Verbesserungsvorschlägen zu einzelnen Paragrafen. Siri freute sich.

Siri und seine Lebenspartnerin Pia Mancini sind Gründer von Democracy Earth und waren die Macher von Democracy OS*. Er ist Programmierer und Spieleentwickler, sie Politikwissenschaftlerin, und gemeinsam mit anderen wollen sie die Politik verändern und damit auch die Welt. Die beiden haben 2012 auf eigene Faust in Argentinien begonnen, heute sitzt Democracy Earth in New York. Das Fernziel, wie es auch als Slogan ihre Website ziert: «Eine grenzenlose Peer-to-Peer-Demokratie – für alle Menschen, überall.»

Siri und Mancini sind Teil einer digitalen Bewegung, wie sie in vielen Ländern aktiv und spürbar ist. Junge Menschen, die an Transparenz und Bürgerermächtigung glauben, an vollständige Mitbestimmung, nicht aber an Nationalstaaten, an Grenzen und ein in ihren Augen veraltetes Parteiensystem. Geschickt eingesetzte Technologie soll den Menschen befreien – man kennt die Argumentation auch aus Deutschland oder der Schweiz. Dabei verstricken sich die Reformer auch in Widersprüche, die sich so einfach nicht auflösen lassen. Denn Politik bleibt schmutzig und unperfekt, selbst mit der elegantesten Software.

Das Herzstück der neuen tunesischen Demokratie

Drei Tage vor Siris E-Mail-Erlebnis, 11’000 Kilometer weit entfernt. Achref Aouadi war frustriert. In zwei Tagen sollte die entscheidende Abstimmung der verfassungsgebenden Versammlung Tunesiens stattfinden. Drei Jahre lang hatten die Bürgerinnen des Landes in Cafés, auf Facebook oder in Studentenveranstaltungen diskutiert, wie eine neue Verfassung Tunesiens aussehen sollte – der von allen ersehnte Neuanfang nach Jahren des Tumultes. Und nun würde nur wieder ein kleiner Zirkel von Abgeordneten über das Herzstück der neuen tunesischen Demokratie befinden. Das, fand der Aktivist Aouadi, war grundlegend falsch. Die Bevölkerung sollte sich doch äussern und abstimmen dürfen. Also wollte er wenigstens eine virtuelle Abstimmung simulieren.

Auf Github, einem bekannten Webserver für öffentlich einsehbare Softwareprojekte, stiess Aouadi auf Democracy OS, eine ihm bis dahin unbekannte Plattform aus Argentinien. Gemeinsam mit seinem Freund Radhouane Fazai, dem seiner Meinung nach «talentiertesten Coder von Tunesien», schaltete er über Nacht eine neue Seite auf. Fazai programmierte mithilfe des Github-Quellcodes, Aouadi pflegte Verfassungsartikel ein und schrieb eine schnelle Pressemitteilung. Die Nachricht ging in Tunesien viral, Tausende strömten auf die Website. Der nächste Tag war der Tag der Verfassungsabstimmung, der 26. Januar 2014, und die Bürger debattierten auf Vot-it parallel zur verfassungsgebenden Versammlung. «Die Qualität der Kommentare war gut», sagte Aouadi später. Die Menschen waren nicht gefragt worden, aber sie erhoben trotzdem ihre Stimme.

Die Schönheit von Open Source

Argentinien und Tunesien. Das eine Land gilt seit 1994 als eine freie Demokratie. Im anderen Land löste der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi Ende 2010 den Arabischen Frühling aus, indem er sich selbst anzündete. Die beiden Länder haben komplett verschiedene Vergangenheiten und Probleme. Und waren doch einen Tag lang über dieselbe digitale DNA verbunden.

«Das ist die Schönheit von Open Source», sagt Mancini, Co-Gründerin von Democracy Earth. Dank offenen Quellcodes wird Wissen weitergegeben, weiterentwickelt und verbessert. Das Gründerpaar erfährt immer ganz zufällig, wo seine Technologie gerade eingesetzt wird.

Alle Regierungen und Parteien weltweit können Democracy OS installieren. Es gibt bereits Dutzende von Fassungen, in den verschiedensten Sprachen. «Statt dass man wie bei Technologiekonzernen um Erlaubnis fragen muss, erhält man ein grosses Dankeschön», sagt sie im Gespräch mit der Republik. Ein klarer Seitenhieb gegen Facebook, wo die Politikerinnen in Washington und London noch heute um die vollständige Herausgabe aller Werbedaten betteln müssen.

Die Software war nicht nur den tunesischen Aktivisten eine grosse Hilfe.

  • In Kalifornien wollte der Vizegouverneur Gavin Newsom mithilfe von Democracy OS herausfinden, was die Bürgerinnen über Cannabisfreigabe denken.

  • In Hongkong hielten Aktivistinnen parallel zu den offiziellen, von Peking eng begleiteten Wahlen des Chefs der Sonderverwaltungszone offene Wahlen mit Democracy OS ab. Alle Bürger durften ihre Stimme abgeben, nicht nur die tausend offiziellen Wahldelegierten – und sie entschieden sich mit überwältigender Mehrheit gegen die Kandidatin von Chinas Gnaden, Carrie Lam, und für den langjährigen Volksfavoriten John Tsang. Die offizielle Wahl gewann Lam.

In den Debattenforen von Democracy OS diskutiert eine kosmopolitische, gebildete, netzaffine Elite unter sich. Die Software ist zu einer respektierten Marke der Netzszene geworden; sie gilt als eines der wichtigsten Betriebssysteme der digitalen Demokratie. Dabei hatten ihre beiden Schöpfer bei der Gründung ein eng definiertes Ziel: die Politik in ihrem Heimatland transparenter zu machen. Damit ihre Politikerinnen endlich dem Wähler verpflichtet wären. Und nicht mehr nur dem eigenen Portemonnaie.

Das korrupteste Land Lateinamerikas

In der Tat: Mexiko und Argentinien galten 2013 laut Transparency International als die korruptesten Länder Lateinamerikas. Während die meisten Südamerikaner die Polizei als Institution mit den meisten Schmiergeldern nannten, bezeichneten die Argentinier die Parteien als Hauptübel. Und allen voran: Cristina Fernández de Kirchner, die damalige Präsidentin.

Nicht nur Mancini und Siri machte das wütend. Tausende von Studenten und Rentnerinnen gingen 2012 auf die Strasse und skandierten auf Kochtöpfe schlagend «Korruption tötet!» und «Vor Gericht mit de Kirchner». Die Regierung Fernández hatte sich darangemacht, die Justiz an die Kandare zu legen. Angeklagte Geschäftspartner, die Gelder über ein komplexes Netz von Offshore-Firmen gewaschen hatten, sollten entlastet werden. (Abgewickelt hatte viele der mutmasslichen Transaktionen eine Kanzlei namens Mossack Fonseca, die später durch die Veröffentlichung der «Panama Papers» zweifelhaften Ruhm erlangte.)

Die Strassenproteste bestärkten Mancini und Siri in ihrer Auffassung, dass sich endlich etwas ändern musste. Sie glaubten jedoch nicht an die Wirkung von zivilem Ungehorsam. Die repräsentative Demokratie musste ihrer Ansicht nach von innen verändert werden. Man musste selbst Teil des Spiels werden. Und sich für die Wahlen aufstellen lassen.

Pia Mancini verteilt in Buenos Aires Sticker für die Bewegung Partido de la Red. Joao Pina

Ein trojanisches Pferd

Also gründeten sie eine Partei – den Partido de la Red – mit dem kurzen Wahlprogramm: direkte Demokratie und Transparenz. Sollten Kandidaten des Partido de la Red gewählt werden, wären sie lediglich Vollzugsbeamte. Jeder Abgeordnete verpflichte sich, bei jedem parlamentarischen Geschäft so zu stimmen, wie es die Democracy-OS-User gemeinsam beschliessen würden. Es war eine Art direkte Demokratie durch die Hintertür.

Die Partei trat 2013 bei den lokalen Wahlen in Buenos Aires an. Sie erregte Aufmerksamkeit. Mit einem trojanischen Holzpferd zog die junge, laute Gruppe durch die Strassen und verteilte Flugblätter. Der Trojaner stand symbolisch dafür, das parlamentarische System zu hacken. Von innen.

Der Partido de la Red verfehlte mit nur 1,2 Prozent aller Stimmen klar den Einzug in das Lokalparlament. Doch Mancini und ihre Truppe konnten ihren Trojaner trotzdem installieren. Die Verwaltung genehmigte ihren Antrag, auf der Zuschauerbühne die parlamentarischen Beratungen für die Netzöffentlichkeit zu dokumentieren. Von nun an besuchten ehrenamtliche Democracy-OS-Nutzer hartnäckig jede parlamentarische Sitzung und speisten die Ergebnisse gleich in die App ein. Im Frühling 2014 stimmten die Parteien dem Antrag zu, die Software für die laufende Session zu testen. Alle Democracy-OS-User konnten parallel zu den Parlamentariern über politische Geschäfte abstimmen. Der Trojaner hatte es geschafft.

Laut und bunt: Wahlkampf der Netzbewegung mit einem hölzernen trojanischen Pferd in Buenos Aires 2013. via Facebook Partido de la Red

Wenn Mancini von dieser Episode erzählt, lächelt sie zufrieden. «Das System ist auf die Privilegierten ausgerichtet, es sind Gesetze von Juristen für Juristen», sagt Mancini. Doch fortan würde jede Abweichung zwischen Bürgerinnenvotum und Abgeordneten transparent im Netz ersichtlich. Und manchmal sind diese Abweichungen deutlich. Einmal stand der Verkauf von öffentlichen Grundstücken zur Diskussion. Die Abgeordneten wollten Unternehmen damit beauftragen, dort Einkaufszentren zu bauen. Ganz anders die Sicht der Bürgerinnen: Die Democracy-OS-User waren strikt dagegen. Sie wünschten sich billigen Wohnraum, der in Stadtbesitz blieb. Teilweise herrscht aber auch harmonischer Konsens: zum Beispiel darüber, dass das Haus, in dem Papst Franziskus seine Kindheit verbracht hatte, unter Denkmalschutz gestellt werden sollte.

Volksvertreter als Feinde

Bereits in dieser Gründungszeit von Democracy Earth wird etwas deutlich, was Mancini und Siri mit vielen Demokratie-Aktivistinnen gemein haben: ein tiefes Misstrauen gegenüber Volksvertretern. Nach Mancini und Siri haben gewählte Volksvertreterinnen keinerlei Recht auf Eigenständigkeit. Sie schliessen einen Vertrag mit ihren Wählern ab, und den haben sie einzuhalten. Dieses Prinzip übersetzen sie in Code.

Gegner und schärfstes Feindbild von Mancinis Gruppe sind nicht Populisten oder Behörden. Es sind die Berufspolitiker. Sie werden als abgebrüht, saturiert und von eigenen Interessen geleitet skizziert. Als eine Kaste, die es endlich abzulösen gilt. Im «Social Smart Contract», einem 26-seitigen Manifest von Democracy Earth, wird der Gründer der Piratenpartei Rick Falkvinge zitiert mit den Worten: «Wir leben in einer Welt, in der eine Online-Generation heranwächst und eine Offline-Generation immer noch an den Schalthebeln der Macht sitzt.» Ein Anachronismus, den es zu beseitigen gilt. Ebenfalls keine Daseinsberechtigung mehr haben Nationalstaaten. Auf Twitter retweetet Mancini ein Zitat von Erich Fromm aus dem Jahr 1955: «Nationalismus ist unsere Form von Inzest.»

Stattdessen propagieren Mancini und Siri eine weltweite dezentrale digitale Entscheidungsstruktur, die mit Blockchain-Technologie gebaut wird. Ihr Traum ist der von digitalen kosmopolitischen Bürgerinnen, von der Anwältin in Ecuador, die mit dem Metzger aus Reims und dem Informatiker aus Bangladesh stundenlang an Lösungen zur Förderung von erneuerbaren Energien feilt. Jeder soll mit jedem vernetzt sein, jeder hat eine Stimme in einem System, das fälschungssicher, nicht korrumpierbar, anonym und fair funktioniert.

Keine Nihilistin, sondern Systemkritikerin

Dieses radikale Demokratieverständnis, wonach alles im Netz verhandelt werden kann, teilen immer mehr Netzaktivisten. Die Software Democracy OS findet weltweit zahlreiche Nachahmer: in den USA die App Countable, in Deutschland sind Projekte wie Democracy oder Licracy am Start. Alle wollen es normalen Bürgern ermöglichen, in die Rolle der Parlamentarierin zu schlüpfen.

Radikalkritik an etablierten Institutionen, Misstrauen gegen eine politische Elite – in ihrer Rhetorik ähneln manche der Aktivistinnen anarchistischen Bewegungen aus dem libertären oder gar dem Alt-Right-Spektrum. Das Democracy-Earth-Manifest ist gespickt mit schmissigen und pathosschweren Sätzen wie: «Unsere Körper gehören nationalen Regierungen, unsere Seelen gehören Tech-Konzernen.» Es war ein ebenso griffiger Satz in einem «Ted Talk» im Jahr 2014, der Mancini auf einen Schlag berühmt machte: «Wir sind Bürger des 21. Jahrhunderts, die unser Bestes tun, um mit Institutionen aus dem 19. Jahrhundert zu interagieren, die auf einer Informationstechnologie aus dem 15. Jahrhundert beruhen.»

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Pia Mancini: How to upgrade democracy for the Internet era

Doch Mancini ist keine Nihilistin, die alles Bestehende in Schutt und Asche legen will, keine Separatistin, die Kryptostaaten frei von Regulierungen anlegen will. Am ehesten würde auf sie wohl der Begriff Systemarchitektin zutreffen. Ihr schwebt ein Update der repräsentativen Demokratie vor, eines Systems, das Democracy Earth als «Unfall» des 18. Jahrhunderts bezeichnet. Und dieses Update machen ihrer Ansicht nach heutige Technologien möglich. Die drängendsten globalen Probleme – die Bekämpfung des Terrorismus, Fragen zur Automatisierung und Künstlicher Intelligenz oder zum Klimawandel – machten nicht halt vor territorialen Grenzen, so ihr Argument.

Wie viele Utopien hadert auch diese mit der Wirklichkeit. Dass globale Probleme nicht territorial gelöst werden können, wissen auch die alten Politikerinnen schon länger, die angeblich überflüssige Offline-Kaste, die weichen soll. Sie scheitern nicht nur am Unvermögen und am Machthunger einer «Elite», sondern auch an ganz realen Interessenkonflikten und Managementproblemen. Wie die ihr vorschwebende neue globale Weltordnung etabliert, gesichert und verteidigt werden sollte, dazu hat Mancini denn auch wenige Antworten parat. Denn für eine supranationale Global-Governance-Ordnung mit zentralistischem Gewaltmonopol kann auch sie sich nicht richtig erwärmen.

Wegen 10 Prozent gescheitert

Vielleicht gelingt ihnen aber, was manchen Visionären vor ihnen nicht gelang: die Welt nicht ganz neu, aber vielleicht im Kleinen ein wenig besser zu machen, indem sie demokratische Entscheidungsprozesse optimieren.

Beispielsweise in Kolumbien. Dort stimmte im Oktober 2016 die Bevölkerung gegen das Farc-Abkommen, das die Regierung Juan Manuel Santos in leidenschaftlicher Arbeit über Jahre ausgehandelt hatte. (Santos bekam später den Friedensnobelpreis dafür.) Doch die Kolumbianer, die im Ausland leben, waren nicht stimmberechtigt – und Democracy Earth ortete die Chance für ein weiteres Experiment. Die oberste Wahlbehörde Kolumbiens gab grünes Licht, und so simulierten sie die Abstimmung für die Auslandskolumbianerinnen mit ihrer neuen Plattform Sovereign, mitsamt Marketingaktion im Netz.

Es meldeten sich 7000 Personen aus 76 verschiedenen Ländern.

Democracy Earth nutzte die Gelegenheit, etwas aufzugreifen, was bei Abstimmungen weltweit ein Schwachpunkt ist: Die Nutzer von Sovereign konnten nämlich nicht nur über das gesamte Abkommen an sich, sondern zusätzlich auch über einzelne Aspekte davon befinden. Das Resultat: Mit über 90 Prozent des Abkommens waren die Exil-Kolumbianer einverstanden. Inbesondere dem Kernstück, dem sofortigen Waffenstillstand, stimmten fast alle User zu.

Es gab jedoch einen entscheidenden Punkt, der das ganze Vorhaben torpedierte: nämlich die Zusicherung, dass die Farc-Rebellen sich für das Parlament aufstellen lassen dürfen. Über 80 Prozent der User sagten bei diesem Punkt Nein – und lehnten deswegen das Gesamtpaket ab. Eine Erkenntnis, die für Santos und seine Regierung essenziell hätte sein können, wäre sie früher bekannt gewesen.

Wo das Schweizer Modell verbessert werden könnte

«Ohne diesen Aspekt wäre die Vorlage ja vielleicht durchgekommen», meint Mancini. Und als ob sie sich mit den jüngsten helvetischen Volksentscheidungen und dem regelmässigen anschliessenden Interpretationsreigen auseinandergesetzt hätte, ergänzt sie: «Solche Deutungsschwierigkeiten gibt es bei euch in der Schweiz sicherlich auch.»

Auch das Schweizer Modell hält Mancini für verbesserungsfähig. «Die direkte Demokratie der Schweiz ist zwar ein grosses Vorbild für uns», sagt sie. «Aber eine dichotome Ja/Nein-Abstimmung über ein Gesamtpaket kann auch bevormundend sein.» Wie solle denn der Volkswille bei 51-Prozent-Entscheiden wie beim Brexit oder bei der Masseneinwanderungsinitiative interpretiert werden?

Immer online: Pia Mancini unterwegs in Buenos Aires. Joao Pina

Profane Alltagssorgen wie die Müllentsorgung

Die Macher von Democracy Earth bieten ihre Dienstleistungen im Moment überall dort an, wo an den Bürgern vorbeipolitisiert wird. Sie machen ihren Umsatz mit Beratung rund um ihre kostenlosen Produkte; ihre Hauptkunden sind politische Organisationen und Regierungen. In Hongkong, Mexiko oder eben: Tunesien. Sie beschäftigen Mitarbeitende rund um die Welt. Und im Januar diskutierte Mancini am WEF mit Bundespräsident Alain Berset.

Die argentinischen Politikunternehmer arbeiten somit ironischerweise mit den Institutionen erfolgreich zusammen, die sie doch eigentlich eliminieren möchten – mit den nationalen Entscheidungsträgerinnen und den Nationalstaaten. Die Nutzung ihrer Technologieprodukte verschafft den Machthabern mehr Legitimität. Mancini ist sich dieses Widerspruchs bewusst: «Wir füttern damit den Wolf.»

Auch die Democracy-OS-Nutzerinnen selbst scheinen andere Probleme zu haben als die schnelle Beseitigung des Nationalstaats: Auf die Frage einer «Wired»-Journalistin, welches die meistdiskutierten Anliegen auf Democracy OS sind, antwortete Santiago Siri: profane Alltagssorgen vor der eigenen Haustür. Also lokale Plagen wie die, dass die Müllentsorgung zuverlässiger werden sollte und der Strassenlärm weniger.

Die Vision der globalen, hypervernetzten Demokratie im Netz – sie wird wohl vorerst nicht so schnell Realität werden.

Debatte: Macht digitale Demokratie Parteien überflüssig?

Die Republik hat zwei Beispiele vorgestellt, die eine radikale Utopie verwirklichen möchten und die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: MoVimento 5 Stelle aus Italien und Democracy Earth aus Argentinien. Die eine Bewegung steht kurz vor der Regierungsbildung, die andere beeinflusst mit ihrer Software weltweit politische Entscheidungsprozesse im Kleinen. Die eine macht mit willkürlichem digitalem Mobbing von sich reden, die andere legt den Quellcode ihrer Technologie offen für weltweite Nachahmer. Ist das repräsentative Parteiensystem in Zeiten der Digitalisierung bald ein Auslaufmodell? Macht Open Source die Welt demokratischer? Oder hilft das Netz vor allem Populisten? – Hier geht es zur Debatte.


* In einer früheren Version hiess es hier, dass Democracy Earth hinter Democracy CS stehe. Heute ist es aber die Stiftung Democracia en Red.