«Der Sport hat zu wenig Interesse an der Dopingbekämpfung»
Russisches Staatsdoping, manipulierbare Kontrollflaschen und ein Berner Arzt unter Verdacht: Warum die Enthüllungen den obersten Schweizer Dopingbekämpfer überraschten, was sie für die Winterspiele in Pyeongchang bedeuten und warum er auf Skandale angewiesen ist. Matthias Kamber, scheidender Direktor von Antidoping Schweiz, im Gespräch.
Von Sylke Gruhnwald und Carlos Hanimann, 05.02.2018
Herr Kamber, letzte Woche haben Recherchen gezeigt, dass das Herzstück des Dopingkontrollsystems fehlerhaft ist: Es ist gelungen, die Flaschen für Urinproben zu manipulieren, zu kopieren, zu öffnen. Waren Ihnen diese Probleme bekannt?
Ich wurde letzte Woche darüber informiert, dass die Flaschen in einigen Laboren geöffnet werden konnten. Ich bin sofort nach Lausanne zu unserem Labor gefahren. Aber dort haben sie diese Probleme nicht festgestellt.
Warum nicht?
Das weiss ich nicht. Wir haben sehr gut ausgebildete Kontrolleure. Entweder wir handhaben die Flaschen besser als andere. Oder das Material ist teilweise fehlerhaft.
Matthias Kamber, 64, ist seit der Gründung im Jahr 2008 Direktor von Antidoping Schweiz. Zuvor arbeitete Kamber im Bundesamt für Sport und leitete dort den Fachbereich Doping. Er gilt international als renommierter Dopingspezialist. Kamber tritt im März als Direktor von Antidoping Schweiz zurück und verlässt die Organisation als Mitarbeiter im Mai.
Was bedeutet es für die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang, dass die Flaschen geöffnet werden konnten?
Die Schweizer Firma Berlinger, die die Flaschen herstellt, wird wieder das bisherige, bewährte System der Kontrollflaschen nach Pyeongchang liefern, das mit einer zusätzlichen Sicherung ausgestattet ist.
Olympia beginnt in wenigen Tagen. Ist das in so kurzer Zeit überhaupt möglich?
Ja, das ist eine kleine Firma, flexibel und innovativ. Die können schnell reagieren, solange nicht etwas Grundsätzliches geändert werden muss. Das System als Ganzes ist gut, aber vielleicht waren einige technische Details nicht ausgereift.
Die Kommentare auf die Enthüllungen waren verheerend. Die «Süddeutsche Zeitung» schreibt: «Einladung zur Drogenparty».
Nein, so wird das nicht sein. Die Flasche ist ein Element des ganzen Sicherheitskonzepts. Bei einem Geldtransport ist auch nicht nur der Tresor ausschlaggebend. Es gibt eine ganze Reihe von Sicherheitsmassnahmen.
Also ist alles halb so wild?
Nein. Es ist sehr wichtig, dass die Schwächen aufgedeckt wurden. Ich bin auch froh, dass das vor den Winterspielen geschah, damit man das Konzept überprüfen und verbessern kann. Man muss die Enthüllungen ernst nehmen. Das finde ich wichtig – auch den Athleten gegenüber.
Dann sind Sie zuversichtlich, dass es in Pyeongchang saubere Spiele geben wird?
Das hat doch nichts mit sauberen Spielen zu tun. Es geht darum, ob der Prozess der Dopingkontrollen sicher ist. Und wenn man jetzt den ganzen Ablauf prüft, dann sage ich: Ja, der Prozess ist sicher. Das heisst natürlich nicht, dass es zwangsläufig dopingfreie Spiele werden.
Ein Dokument, das uns vorliegt, zeigt, dass das russische Staatsdoping bis London 2012 und Peking 2008 zurückgeht. Ein Schock für Sie?
Ich bin überrascht. Ich ging bisher immer davon aus, dass Russland nach dem elften Rang in Vancouver 2010 sagte: In Sotschi müssen wir besser sein – in allem. Und erst dann kam der Befehl. Deshalb war ich überrascht, dass bereits 2008 systematisch gedopt wurde.
Whistleblower Grigori Rodschenkow sagt, der Befehl sei von ganz oben gekommen, vom Präsidenten. Putin soll alles gewusst haben.
Grundsätzlich glaube ich, dass es in nichtdemokratischen Staaten einfacher ist, solche Befehle zu geben. Wir wissen: Wo mehr Korruption ist, gibt es auch mehr Doping. Da besteht ein Zusammenhang. Die Schweiz liegt auf dem Antikorruptionsindex von Transparency International auf Rang 5, Südkorea auf Rang 52. Und Russland steht irgendwo auf den hintersten Plätzen. Ich kann mir also nicht vorstellen, dass der Präsident nichts wusste. Gab er den Befehl dazu? Ich weiss es nicht.
Wenn es diesen Zusammenhang gibt, heisst das, dass es in der Schweiz so gut wie kein Doping gibt.
Ich bin überzeugt, dass wir in der Schweiz Doping haben. Es ist klar, dass es einzelne Zellen gibt. Aber ich bin ebenso überzeugt, dass wir in der Schweiz kein systematisches Doping haben.
Wir haben einen Berner Arzt verdeckt dabei gefilmt, wie er einem Sportler Testosteron anbot, ein verbotenes Dopingmittel. Was wissen Sie über den Arzt, den Sie ja schon länger beobachten?
Wir sind mittlerweile Teil der Untersuchung der Staatsanwaltschaft und unterstehen somit dem Amtsgeheimnis. Wir müssen deshalb leider an die Staatsanwaltschaft verweisen.
Sie spielen in der Untersuchung eine aktive Rolle?
Das Gesetz erlaubt uns und der Staatsanwaltschaft Informationen auszutauschen. Wenn wir Informationen über das Umfeld von Sportlern haben – Trainer, Ärzte, Physiotherapeuten –, dann teilen wir das den Staatsanwälten mit. Das hilft uns. Aber das bringt eben auch eine Geheimhaltungspflicht mit sich.
Trotzdem: Der Berner Doktor soll ein in Russland entwickeltes Medikament an Sportlerinnen getestet haben. Ist so etwas üblich?
Nein. Die Ärztegesellschaft FMH hat Standesregeln, dass Ärzte nicht beim Doping helfen dürfen. Die Gesellschaft für Sportmedizin hat ebenfalls eigene Regeln. Mir ist kein Fall bekannt, wo ein Arzt in der Schweiz unbekannte Substanzen an Menschen getestet hätte. Das ist gegen das Gesetz. Für solche Forschung gibt es ethische Richtlinien. Dass Ärzte das auf eigene Faust machen, ist in der Schweiz sicher nicht gang und gäbe.
Sie haben selber gegen den Arzt ermittelt. Warum kamen Sie nicht weiter?
In diesem Fall haben wir das spezialisierte Rechtsberatungsunternehmen Birkeblue engagiert. Ich muss Ihnen leider allgemein antworten: Antidoping Schweiz hat eine eigene Ermittlungsabteilung, die gegen Athleten, Trainer oder auch Ärzte ermittelt. Aber wir sind eine privatrechtliche Stiftung: Wir können keine Telefone abhören, keine Hausdurchsuchungen durchführen, keine Computer spiegeln. Wir gelangen schnell an die Grenze des Machbaren.
Hätten Sie mehr machen müssen?
Bei derartigen Fällen heisst es schnell: Warum habt ihr nichts gemacht? Aber wir sind eine kleine Agentur. Wir haben schlicht die Mittel nicht. Die Anforderungen an uns sind in den letzten Jahren massiv gestiegen, aber unsere finanziellen Mittel sind seit 2010 eingefroren.
Wird man für Dopingvergehen in der Schweiz mit Samthandschuhen angefasst?
Wir hatten einige kleinere, aber keine richtig grossen Fälle. Wenn wir mit Indizien und Dokumenten auf einen Staatsanwalt zugehen, der sonst mit Mord und Totschlag zu tun hat, dann hat Doping für ihn nicht notwendigerweise höchste Priorität. Aber vielleicht bietet der aktuelle Fall Anlass, dass Polizei und Ermittlungsbehörden künftig noch schärfer hinschauen.
Wie viele Dopingärzte gibt es in der Schweiz?
Es gilt die Unschuldsvermutung. Aber wenn sich der aktuelle Fall bestätigen sollte, wäre das der erste. Wir haben in der Schweiz eine relativ gut funktionierende Dopingbekämpfung. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass die Schweiz Drehscheibe für Spitzensportler wäre, die dopen wollen.
Es gibt also nur zwei Schlüsse daraus: Entweder gibt es hier kein Doping. Oder Sie wissen es nicht.
Beides ist möglich. Ich sage nicht, es gibt kein Doping in der Schweiz, aber es würde mich überraschen, wenn wir ein grosses Netzwerk aufdecken würden.
Der Arzt hat gegenüber der NZZ alles abgestritten.
Dazu kann ich nichts sagen. Ich weiss ja nicht mal, ob die NZZ den richtigen Arzt angerufen hat.
Der Dopingkontrollprozess ist ein hochkomplexes System. Wie die Anschuldigungen gegen Wladimir Putin zeigen, haben Sie auch mit grossen Machtinteressen zu kämpfen. Ist das für Sie als Dopingjäger nicht manchmal zum Verzweifeln?
Das habe ich mich auch schon gefragt. Wenn die Schweizer einen neuen Bob wollen, suchen sie Sponsoren, erhalten ein paar Millionen und lassen sich von der ETH ein Topgerät bauen. Wenn wir aber sichere Materialien oder neue Testverfahren entwickeln wollen, haben wir kein Geld, keine Sponsoren. Der Sport setzt in der Schweiz jedes Jahr rund 2 Milliarden Franken um. Wir erhalten von Bund und Swiss Olympic 4,6 Millionen Franken. Es liegt viel Geld im Sport, aber das Doping, das Match-Fixing, die Schattenseiten – das wird ausgeblendet. Und wenn man es aufbringt, dann stört es. Darum bin ich so froh um unabhängige, kritische Medien, die den Finger in die Wunde legen. Aber am Ende landen wir immer am gleichen Punkt: Der Kampf gegen Doping ist unterfinanziert.
Woran liegt das?
Das ist klar: Der Sport ist zu wenig interessiert an einer effektiven Dopingbekämpfung.
Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihre Arbeit sinnlos sei?
Nein. Ich bin seit dreissig Jahren im Geschäft. Wir machen immer wieder Fortschritte. Aber leider nur immer dann, wenn es einen Skandal gibt, wenn die Medien etwas aufdecken.
Sie brauchen den Skandal, um weiterzukommen?
Das ist das Gute am Skandal, ja. Aber es ist natürlich ermüdend, dass es immer Skandale braucht, um etwas zu verändern.
Wenn Sie einen grossen Helden wegen Dopingvergehen vom Thron stürzen, wäre das auch nicht gern gesehen.
Der ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt hat mal gesagt: Vom Doping profitieren alle. Man kann den Sport abfeiern, aber Dopingbekämpfung stört. Das ist leider immer noch so. Niemand sagt: Wir wollen einen sauberen Sport, Antidoping Schweiz ist der Garant dafür. So eine Aussage habe ich noch fast nie von einem Schweizer Sportler gehört. Die Athleten sprechen sich nicht öffentlich für den Kampf gegen Doping aus. Das finde ich schade.
Debatte: Wie viel Spass machen dopingverseuchte Winterspiele?
Am 9. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Südkorea. Im Vorfeld sorgen spektakuläre Enthüllungen beim Doping für Aufsehen. Die Recherchen führen bis tief in die Schweiz hinein. Diskutieren Sie mit der Autorin Sylke Gruhnwald und dem Autor Carlos Hanimann – hier gehts zur Debatte.
Zur «Geheimsache Doping» recherchieren Reporterinnen und Reporter der ARD-Dopingredaktion, des schwedischen Fernsehens SVT, der britischen Zeitung «Sunday Times» und der Republik. Die ARD zeigt den zweiteiligen Film «Geheimsache Doping: Das Olympia-Komplott. Der scheinheilige Kampf gegen den Sportbetrug» (Teil 1, Teil 2). Gemacht haben den Film Hajo Seppelt, Grit Hartmann, Edmund Willison und Jürgen Kleinschnitger. Die Republik berichtet zeitgleich mit den Partnern in mehreren Teilen über das russische Staatsdoping – und die Verbindungen in die Schweiz.
Teil 1: Der «Plan Sotschi»
Teil 2: Die Akte Bern
Teil 3: Falsche Flaschen