Geheimsache Doping: Die Akte Bern
Die Spur des russischen Dopingskandals reicht bis in die Schweiz – zu einem Arzt aus Bern. Seit Jahren soll dieser verbotene Substanzen an Sportler verkaufen. Jetzt zeigen verdeckte Aufnahmen, wie er einem Athleten Testosteron anbietet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Von Sylke Gruhnwald, Carlos Hanimann, Grit Hartmann, Hajo Seppelt und Florian Wicki, 29.01.2018
Ein Sportler betritt eine Arztpraxis in Bern. Es ist eisig kalt an diesem Wintermorgen, alle paar Minuten schaufelt ein Tram Pendler zur Arbeit. Die Sonnenstrahlen, die zwischen den Häusern auf die Strasse fallen, nützen so wenig gegen die Kälte wie lauwarmer Tee. Drinnen, an den blassgrün gestrichenen Wänden der Altbauwohnung, hängen Fotos und Autogrammkarten von Athleten: Läufer, Radfahrerinnen, Kampfsportler. Einige signiert mit persönlicher Widmung.
Der junge Mann ist Skilangläufer. Seine Geschichte: Obwohl er hart trainiere, gelinge es ihm nicht, seine Bestleistungen abzurufen. Ob Doktor M.* ihm helfen könne?
Doch das ist nur eine Legende. In Wahrheit wurde der Athlet vom Rechercheverbund aus der ARD-Dopingredaktion, der britischen Zeitung «Sunday Times», dem schwedischen Fernsehen SVT und der Republik zum Arzt geschickt. Seit Jahren wird über diesen Doktor M. erzählt, dass er Dopingmittel verkaufe und verabreiche, dass zu ihm gehe, wer «etwas» wolle. Deshalb trägt unser Lockvogel eine versteckte Kamera bei sich.
So eine verdeckte Recherche ist die schärfste Waffe von Journalisten. Sie darf nur eingesetzt werden, wenn ein öffentliches Interesse an Aufklärung besteht – und diese Informationen nicht anders zu beschaffen sind. Seit langem haben Staatsanwaltschaft und Antidoping Schweiz versucht, dem Berner Arzt auf die Schliche zu kommen. Vergebens. Nur eine verdeckte Recherche kann in diesem Fall Klärung bringen.
Der junge Langläufer trifft Doktor M. an diesem Wintermorgen zum zweiten Mal. Das erste Gespräch diente nur zum Aufwärmen. Aber schon da kamen die beiden schnell auf das Thema Doping zu sprechen. Freimütig erzählte der Arzt, er habe Erfahrungen mit Doping im Radsport gesammelt.
Sportler: Waren Sie dann richtig Teamarzt?
Arzt: Ja.
Sportler: Nehmen die Sachen?
Arzt: Ja, die nehmen alle Sachen. Unmöglich, so zu fahren.
Doktor M. sagt, er habe den Fahrern eines bekannten deutschen Teams geholfen, ihre Dopingpraktiken zu verschleiern. Er kenne sich aus mit Antidopinggesetzen. Früher, in den Neunzigerjahren, sei alles einfacher gewesen. Da hätten alle Doping verschrieben. Aber heute? Da heisst es «Finger weg», «zu gefährlich».
Arzt: Wenn die eine Nacht im Gefängnis waren, dann plaudern die. Dann können sie sagen: Der Physio wars, der Arzt war schuld. Und dann kommen alle ins Verhör. Und ich kann mir das nicht leisten.
Damals, bei diesem ersten Treffen, zapfte Doktor M. dem Sportler Blut ab und schickte es ins Labor. Jetzt, beim zweiten Treffen, besprechen die beiden die Ergebnisse.
Arzt: Schauen wir das Blut an. (…) Sieht alles gut aus. Nichts auffällig. Was wir in der Sportmedizin immer diskutieren, ist das Hämoglobin und den Hämatokrit. Mit 14,9 ist das gut. Hochnormal. Hämatokrit 44 ist sehr gut. Man sieht auch, dass nichts manipuliert wurde. Viele Ausdauersportler heben den auf 50 und den etwa auf 17,5. Weil 17,5 ist die Limite. Das würde helfen.
Sportler: Wie kann man den hochheben?
Arzt: Nur EPO. EPO oder Testosteron. (…) Das würde sicher einen Leistungszuwachs bringen.
Testosteron, das Sexualhormon, ist zugleich ein Dopingmittel, mit dem Muskeln schneller aufgebaut werden. Ein Anabolikum, das in der zwölfseitigen roten Liste von Antidoping Schweiz ganz oben steht. Testosteron ist jederzeit verboten, ganz gleich, ob die Sportler an Wettkämpfen teilnehmen oder nicht.
Arzt: Sagen wir, wir würden das Testosteron auf 40 oder 50 anheben, was dann über der Norm wäre, würde automatisch, das wissen viele Ärzte auch nicht, würde das Hämoglobin und den Hämatokrit auch heben.
Sportler: (zögert) Okay, ähm …
Arzt: Aber ist natürlich Liste. Ist dann positiv, wenn Sie Urin geben müssen. Verstehen Sie?
Seit fast zehn Jahren unter Verdacht
Der Berner Arzt ist Anfang fünfzig, hat erst in Spitälern gearbeitet und betreibt seit über zehn Jahren eine eigene Praxis. Zugleich ist er selbst ein ambitionierter Sportler, bei einem international renommierten Wettkampf landete er auf einem Spitzenplatz. Viel mehr kann man über seine Biografie nicht verraten, wenn man seine Identität schützen will.
Seit Jahren ranken sich Gerüchte, Mutmassungen und Anschuldigungen um Doktor M. Doch Beweise, dass er Dopingmittel verkauft, gab es nie. Bis heute.
Im Frühling 2009 meldet sich ein Informant beim Internationalen Radsportverband UCI. Er ist besorgt, weil der Berner Arzt einen Verwandten von ihm mit Dopingmitteln versorge – und vermutet, er gehöre einem Schweizer Dopingnetzwerk an, vergleichbar mit dem des spanischen Arztes Eufemiano Fuentes. Fuentes war im Vorfeld der Tour de France 2006 aufgeflogen, der damalige Dopingskandal ist einer der grössten im Radsport. Gibt es in der Schweiz ein ähnliches Netzwerk?
Die Vorwürfe klingen unwahrscheinlich, aber Patrick McQuaid, der damalige Präsident des UCI, nimmt sie ernst. Denn der Informant scheint die Praktiken des Berner Arztes im Detail zu kennen. Immer wieder wendet er sich mit neuen Einzelheiten an den Radsportverband, die E-Mails liegen der Republik vor: Manchmal verabreiche er den Athleten die Dopingmittel selbst, dann wieder müssten die Sportlerinnen sie selber einnehmen. Auf der Verbotsliste geführte Substanzen wie EPO, Insulin und Kortison, Medikamente, die er aus einer Apotheke im Tessin beziehe. Er soll zudem falsche Atteste ausstellen, ein gängiger Trick, der es Sportlern erlaubt, einen Asthmaspray zu benutzen und so ihre Leistung zu steigern. Ausserdem im Angebot: Eigenblutdoping. Die Transfusionen mache er in seiner Praxis oder im Berner Wankdorfstadion. Er habe eigens eine Wohnung in Bern gemietet, wo er die Blutkonserven lagere. Eine Behandlung koste rund 500 Franken, in bar zu begleichen.
Der Informant geht weit, sehr weit. Einmal folgt er dem Berner Arzt offenbar, sammelt Beweise und verschickt sie in einem Paket. Der Adressat: der Internationale Radsportverband. Der Inhalt: Dopingutensilien. Darunter befinden sich unter anderem ein Infusionsbesteck, Spritzen, Schlauchklemmen, eine Ampulle und zwei leere Schachteln Genotropin, eine Flasche Esafosfina, eine Schachtel Kenacort, alles verbotene Substanzen. Dazu ein Nasenspray und Schokoschnitten.
Der Informant schreibt an den Internationalen Radsportverband: «ich hoffe das bald das verfahren gegen den DOC in Bern eröffnet wird – das ist ein gangster!!!» (sic!)
Am 16. Juni 2009 wendet sich der Radsportpräsident Pat McQuaid mit einem dreiseitigen Schreiben an die Berner Staatsanwaltschaft und bittet sie, «die notwendigen Massnahmen einzuleiten». Er titelt im Brief, der der Republik vorliegt: «Réseau de dopage soupçonné en Suisse». Verdacht auf ein Dopingnetzwerk in der Schweiz.
Die Berner Staatsanwaltschaft erhält die E-Mails und die gesammelten Dopingutensilien. Sie hält den Verdacht für begründet und ermittelt gegen den Arzt in Bern. Anfang 2010 lädt sie den Informanten als Zeugen vor. Er will aussagen, verlangt aber, dass sein Name anonym bleiben muss, um seinen Verwandten nicht zu gefährden. Offenbar ist das ein Wunsch, den ihm die Staatsanwaltschaft nicht erfüllen kann. Nach einer kurzen Unterredung bricht die Einvernahme ab. Der Informant verweigert die Aussage. Die Ermittlungen stecken fest. Am 31. März 2010 schliesst die Staatsanwaltschaft Bern die Akte, «weil sich die Vorwürfe nicht erhärten liessen».
Zu diesem Zeitpunkt weiss auch Antidoping Schweiz von den Anschuldigungen und stellt eigene Ermittlungen an. Aber auch die Schweizer Dopingjäger kommen nicht weiter.
Doktor M. hat von all dem nichts mitbekommen. Warum sollte er also nicht auf eine E-Mail eingehen, die ihn Anfang 2013 aus Russland erreicht, von einem gewissen Sergei Portugalow?
Die Schweiz-Connection des russischen Dopingskandals
Sergei Portugalow ist zu diesem Zeitpunkt Chefmediziner der russischen Leichtathleten. Nach aussen gilt er als Antidopingexperte. Aber wie sein damaliger Freund Grigori Rodschenkow – der Leiter des russischen Dopingkontrolllabors, der zum Whistleblower wurde – führt er ein Doppelleben: Er verkauft und verabreicht Doping an russische Athletinnen, manipuliert Dopingtests und erpresst russische Sportler. Er verschreibt ihnen EPO, Somatropin und Testosteron und lagert die Dopingmittel in seinem Büro. Wenn die Athletinnen Siegerprämien gewinnen, müssen sie ihm fünf Prozent abgeben – eine Dopinggebühr.
Nachdem das russische Staatsdoping 2015 aufgeflogen ist, wird der Dopingarzt weltbekannt – und später für immer vom Sport ausgeschlossen. Jetzt zeigen Recherchen der Republik, dass Portugalows Spuren bis in die Schweiz reichen, in die Praxis des Berner Arztes Doktor M. Das belegen E-Mails und Vertragsunterlagen.
Am 21. Februar 2013 erkundigt sich Portugalow in seinem ersten Schreiben nach einer möglichen Zusammenarbeit, weil beide «auf dem gleichen Problem arbeiten». Portugalow schlägt ein Treffen vor. Doktor M. willigt ein.
Fünf Monate später ist es so weit: Am 26. Juli 2013 landet Portugalow mit Flugnummer 2412 in Mailand. Vorgängig hat er den Berner Arzt gebeten, für vier Tage ein Hotelzimmer am Flughafen zu buchen. Warum sich die beiden in Italien und nicht in der Schweiz treffen, ist unklar. Aber sie werden es auch bei späteren Treffen so handhaben.
In den kommenden vier Jahren pflegen Doktor M. und Portugalow einen regen Austausch. Sie schreiben einander E-Mails, sie besuchen sich gegenseitig: Portugalow reist nach Mailand, der Berner Arzt nach Moskau. Sie unterzeichnen einen Vertrag: Doktor M. soll ein in Russland entwickeltes Präparat an Sportlern testen – und sich mit Testergebnissen zurückmelden. Portugalow erklärt ihm, wie das Präparat zu dosieren und zu lagern sei, klärt auf über mögliche Nebenwirkungen.
Die letzte E-Mail von Doktor M. an Portugalow stammt vom 30. Januar 2017, über zwei Jahre nachdem der russische Dopingskandal aufgeflogen und Portugalow als einer seiner Drahtzieher entlarvt worden ist. In dieser letzten E-Mail attestiert M. dem getesteten Präparat «eine signifikante positive Wirkung». Wenige Wochen später wird Portugalow weltweit vom Sport ausgeschlossen.
«Dreimal spritzen, bevor der Wettkampf ist»
Zurück in Bern, an einem Wintermorgen im Januar. Unser Langläufer sitzt im Behandlungszimmer von Doktor M. Das Gesprächsthema: Dopingkontrollen.
Sportler: Ich weiss halt nicht, ob die beim Wettkampf auch testen, aber …
Arzt: Das ist egal. Die Chance ist vielleicht 1:100’000, dass Sie pissen. Und wenn Sie in der Schweiz pissen und man findet das Testo, dann passiert nichts. Dann kriegen Sie vielleicht 100 Franken Busse und dürfen dann für diesen Verband an diesem Wettkampf für ein Jahr nicht starten. (…) Das hat keine strafrechtlichen Konsequenzen in der Schweiz. Wir sind da relativ grosszügig. Weil das Problem ist: Der ganze Pharmamarkt läuft über uns. Und die wollen ja auch ihr Zeugs verkaufen.
Der Sportler will jetzt wissen, wie er das Testosteron einnehmen müsse. Spritze in Arm oder Bein, erklärt der Arzt. Er zeigt ihm das Testosteron, führt aus, wie viel und wie häufig es gespritzt werden muss: alle zwei Wochen 250 Milligramm. Dann drückt er ihm die Packungsbeilage von Testoviron Depot in die Hand. Der Sportler ist unsicher, will erst in Ruhe darüber nachdenken.
Arzt: Also, das müssen Sie entscheiden am Schluss. Machen könnte man das. (…) Ich kann auch mal am Freitagabend oder am Samstag. (…) Überlegen Sie sich das. Ist kein Problem. Wenn Sie das mit Testo machen, kann ich Ihnen zeigen, wie. Dann können Sie das auch selber machen.
Der Sportler verlässt die Praxis. Wenige Tage später meldet er sich noch einmal telefonisch beim Arzt, um alles zu bestätigen. Es geht jetzt nur noch um das Testosteron.
Sportler: Würden Sie mir das mitgeben?
Arzt: Das kann ich Ihnen mitgeben.
Sportler: Aber nicht, dass der Zoll mir da Probleme macht.
Arzt: Nee, wegen Kleinmengen sicher nicht.
Sportler: Mein Wettkampf ist am 4. März.
Arzt: Ah, da müssen wir schon vorher anfangen, spätestens in der zweiten Februarwoche. Dreimal spritzen, bevor der Wettkampf ist.
Sportler: Okay, also Sie zeigen mir das dann einmal, und die anderen dreimal kann ich das dann selber machen?
Arzt: Ja genau, so meine ich das, genau.
Ein Fall für die Staatsanwaltschaft?
Matthias Kamber ist der Leiter von Antidoping Schweiz. Seit Jahren ist ihm der Name des Berner Arztes ein Begriff. Als er die Aufnahmen mit versteckter Kamera sieht, ist für ihn der Fall klar: «Er sagt dem Athleten, wie man etwas anwendet, dass es verbotene Substanzen braucht, dass er auch schon verbotene Substanzen abgegeben hat an Spitzensportler.» Kamber widerspricht auch der Darstellung des Arztes, dass die Strafen dafür in der Schweiz gering seien. «Nach dem Sportförderungsgesetz hat er etwas zu befürchten. Es ist ganz klar ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Und wer in der Schweiz Doping verschreibt, abgibt oder verteilt, dem drohen Strafen von bis zu drei Jahren Haft.»
Die Berner Staatsanwaltschaft bestätigt, dass eine Untersuchung gegen Doktor M. läuft, äussert sich aber nicht zu Details, «weil es sich um laufende Ermittlungen handelt».
Und Doktor M.? Was sagt der Arzt zu den Vorwürfen, die gegen ihn vorgebracht werden?
Die Republik hat Doktor M. einen detaillierten Fragekatalog geschickt: Hat er in der Vergangenheit Radsportlern Dopingmittel verkauft? Warum stand er in regelmässigem Austausch mit dem russischen Dopingarzt Sergei Portugalow? Testete er ein unbekanntes Dopingmittel? Hatte er eine Bewilligung für eine klinische Studie? Wie viel Geld erhielt er dafür? Was sagt er zum Vorwurf, er habe einem Athleten in seiner Praxis das verbotene Dopingmittel Testosteron angeboten?
Der Berner Arzt antwortete nicht auf die Fragen. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.
* Der Name des Arztes wurde geändert.
Die Mitarbeit an «Geheimsache Doping» wurde aus dem Etat für grosse Recherchen, grosse Geschichten und grosse Ideen der Project R Genossenschaft realisiert.
Debatte: Wie viel Spass machen dopingverseuchte Winterspiele?
Am 9. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Südkorea. Im Vorfeld sorgen spektakuläre Enthüllungen beim Doping für Aufsehen. Die Recherchen führen bis tief in die Schweiz hinein. Diskutieren Sie mit der Autorin Sylke Gruhnwald und dem Autor Carlos Hanimann – hier gehts zur Debatte.
Zur «Geheimsache Doping» recherchieren Reporterinnen und Reporter der ARD-Dopingredaktion, des schwedischen Fernsehens SVT, der britischen Zeitung «Sunday Times» und der Republik. Die ARD zeigt den zweiteiligen Film «Geheimsache Doping: Das Olympia-Komplott. Der scheinheilige Kampf gegen den Sportbetrug». Gemacht haben den Film Hajo Seppelt, Grit Hartmann, Edmund Willison und Jürgen Kleinschnitger (Teil 1, Teil 2). Die Republik berichtet zeitgleich mit den Partnern in mehreren Teilen über das russische Staatsdoping – und die Verbindungen in die Schweiz.
Teil 1: Der «Plan Sotschi»
Teil 2: Die Akte Bern
Teil 3: Falsche Flaschen