Geheimsache Doping: Der «Plan Sotschi»
Sotschi war nicht der Anfang – in Sotschi wurde das russische Staatsdoping perfektioniert. Wenige Tage vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Südkorea sagt Whistleblower Grigori Rodschenkow: Russlands Dopingprogramm läuft seit mindestens zehn Jahren – und Putin soll alles gewusst haben.
Von Sylke Gruhnwald, Carlos Hanimann, Grit Hartmann, Hajo Seppelt und Florian Wicki (Text) und Maurizio di Iorio (Bild), 29.01.2018
Sotschi, 7. Februar 2014
Putin wartet. Es ist 20.23 Uhr, er steht in der Präsidentenloge des Fischt-Stadions, gleich beginnen die Olympischen Winterspiele, auf die er so lange hingearbeitet hat. Auf einem Bildschirm läuft die Übertragung der Eröffnungsfeier. Putin prüft die Fingernägel seiner linken Hand.
Im Stadion leuchten fünf stilisierte Schneeflocken. Gleich sollen sie sich in fünf olympische Ringe verwandeln. Aber es gibt eine Panne, jeder im Stadion kann es sehen: Eine der Schneeflocken bleibt, wie sie ist.
Doch auf dem Bildschirm in der Loge, auf Millionen Fernsehern ... erscheinen fünf Ringe. Die russische Regie hat die Aufnahmen überblendet, mit Bildern, die bei einer Probe aufgenommen wurden. Eine erste Täuschung. Am Ende werden die Spiele von Sotschi als gigantischer Betrug in die olympische Geschichte eingehen.
Im Stadion steigt nun IOK-Präsident Thomas Bach auf eine Bühne, sie hat die Form Russlands. «Guten Abend, Sotschi!», ruft er, «guten Abend, Russland!» Bach, der deutsche Sportfunktionär, ist seit wenigen Monaten im Amt. Mehr als 2000 Sportlerinnen und Sportler werden in den nächsten beiden Wochen um Medaillen ringen, Bach appelliert an sie: «Respect the rules. Play fair. Be clean.»
Was noch niemand weiss: Neben dem offiziellen Dopingkontrolllabor von Sotschi hat der russische Geheimdienst ein Schattenlabor eingerichtet. Dort sollen die Urinproben der russischen Bobpiloten und Langläufer heimlich ausgetauscht werden.
Noch ahnt die Welt nichts vom russischen Staatsdoping. Aber im gleichen Jahr wird sie davon erfahren, zuerst in einer Dokumentation der ARD, recherchiert vom deutschen TV-Journalisten Hajo Seppelt. Der Titel: «Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht».
Es folgt Enthüllung um Enthüllung. Es wird ein irrer Thriller, in dem Hacker und Agentinnen, Whistleblower und Sportfunktionäre miteinander ringen. Gedopte Athleten werden gesperrt, Sportfunktionäre geschasst, russische Antidopingfunktionäre sterben unter mysteriösen Umständen. Und Grigori Rodschenkow, einer der Architekten des russischen Staatsdopings, flieht in die USA. Inzwischen lebt er in einem Zeugenschutzprogramm des FBI.
Sotschi war der Gipfel des Betrugs. Dem Rechercheverbund aus der ARD-Dopingredaktion, der britischen Zeitung «Sunday Times», des schwedischen Fernsehens SVT und der Republik liegt jetzt ein Dokument vor, das zeigt: Die Geschichte des russischen Staatsdopings reicht zurück bis zu den Sommerspielen in Peking 2008 und London 2012.
Bis heute ist unklar, welche Rolle der Mann in der Loge spielte, Russlands Präsident Wladimir Putin. War er Mitwisser? Oder befahl er sogar den Betrug? Das behauptet Grigori Rodschenkow, der in die USA geflohene Architekt des russischen Staatsdopings.
New York City, 18. Dezember 2017
ARD-Journalist Hajo Seppelt sitzt in einem Anwaltsbüro in New York, um mit Rodschenkow zu sprechen. Doch der ist nicht da. Das FBI hält ihn versteckt; die Geheimdienste glauben, dass Auftragskiller unterwegs sind, um ihn zu beseitigen. Die letzten Aufnahmen zeigen Rodschenkow mit Schnauz, Brille und Silberblick. Es heisst, er habe nicht nur eine neue Identität, sondern auch ein neues Gesicht. Angeblich weiss nicht einmal sein Anwalt, wo er sich aufhält.
Auf dem Schreibtisch steht ein Lautsprecher, aus dem nun Rodschenkows Stimme tönt. Der Anwalt hat die Verbindung hergestellt. Es ist das erste Interview, das Rodschenkow aus dem Zeugenschutzprogramm heraus gibt.
«Ich geniesse jeden Tag, an dem ich am Leben bin», sagt Rodschenkow. Er ist 59 Jahre alt, Doktor der Philosophie und der Chemie. Als das russische Dopingprogramm 2015 aufflog, setzte er sich in die USA ab und packte aus. Er wird jetzt als Russlands Staatsfeind Nummer eins bezeichnet. Im Februar 2016 starb ein enger Freund, der Chef der russischen Antidopingagentur Rusada und Rodschenkows Komplize beim «Plan Sotschi». Herzversagen, hiess es. Wirklich? Bis dahin sei er doch bei bester Gesundheit gewesen, wundert sich Rodschenkow.
Russland sucht ihn per internationalem Haftbefehl, Putin bezeichnete ihn als «Überläufer», er sei schizophren. – Rodschenkow, der Verräter. Man solle ihn für seine Lügen erschiessen, sagte der Ehrenpräsident des russischen olympischen Komitees im November 2017 im russischen Radio – «so, wie Stalin das gemacht hätte».
Das Gespräch beginnt. Journalist Seppelt fragt nach dem russischen Staatsdoping. «Natürlich kam es von ganz oben, vom Präsidenten», sagt Rodschenkow. «Denn nur der Präsident konnte den Geheimdienst FSB für so eine Spezialaufgabe verpflichten.»
Seppelt: «Sind Sie zu 100 Prozent sicher, dass Wladimir Putin von den Plänen für die Dopingvertuschung Kenntnis hatte?»
Ehe alles aufflog, war Rodschenkow ein weltweit führender Antidopingexperte, er entwickelte Dopingtests und leitete das Dopingkontrolllabor in Moskau. Doch er führte ein Doppelleben. Tatsächlich war er der Chefdoper der russischen Athletinnen und Athleten. Nach aussen kämpfte er für einen sauberen Sport. Hinter verschlossenen Türen mixte er Steroidcocktails, um aus Spitzensportlern Medaillengewinner zu machen. Mit Erfolg: Allein in Sotschi gewann Russland 13 Goldmedaillen, 11 Silbermedaillen und 9 Bronzemedaillen. Wobei nachträglich 14 Medaillen vom IOK aberkannt wurden.
Als junger Mann war Rodschenkow Mittelstreckenläufer. Im Dokumentarfilm «Ikarus» erzählte er, wie ihm seine Mutter Stanozolol gab, ein anaboles Steroid, mit dem sich auch der kanadische 100-Meter-Läufer Ben Johnson 1988 in Seoul zur Goldmedaille spritzte. Später tauschte Rodschenkow das Lauftrikot gegen den Kittel, ab 2005 leitete er das Dopinglabor in Moskau. Zeitgleich wurde er Agent des russischen Inlandgeheimdienstes FSB. Sein Codename: Kuz. Nach dem sowjetischen Langstreckenläufer Wladimir Kuz, der 1956 zwei Goldmedaillen holte. Ein Kompliment – und ein Auftrag.
2011 wurde die russische Polizei auf ihn aufmerksam. Hatte ihn ein Kollege angeschwärzt? Vielleicht Sergei Portugalow, der Chefmediziner der russischen Leichtathletinnen, mit dem er sich kurz zuvor überworfen hatte? Dann wurde Rodschenkows Schwester verhaftet, ebenfalls eine Läuferin. Es gibt Stimmen, die sagen, sie habe den Kopf für ihren Bruder hingehalten.
Rodschenkow versuchte, sich das Leben zu nehmen, und wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Um wieder herauszukommen, schloss er einen teuflischen Pakt: Freiheit gegen Medaillen. Die Ermittlungen wurden eingestellt, dafür sollte er Russland bei den Heimspielen in Sotschi zu einem Medaillenregen verhelfen. Der «Plan Sotschi» begann.
Seppelt hakt nach: «Sind Sie zu 100 Prozent sicher, dass Wladimir Putin von den Plänen für die Dopingvertuschung Kenntnis hatte?»
Rodschenkow: «Ich bin zu 146 Prozent sicher.» Eine Anspielung auf ein gefälschtes Wahlresultat in Russland. «Ich weiss, dass Putin vollständig und im Detail von Mutko informiert wurde.» Witali Mutko, der damalige Sportminister. «Mutko sagte mir, dass sich Putin an meinen Namen gut erinnern könne. Noch einmal: Er wusste alles. Denn es war eine ganz simple Befehlskette. Ich berichtete an Nagorny, der an Mutko, und Mutko an Putin.»
«Aus Ihrer Sicht ist es absolut klar», insistiert Seppelt, «dass Putin über die Pläne für die Dopingvertuschung bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi Bescheid wusste?»
«Ja. Das kann er nicht abstreiten.»
Wladimir Putin hat mehrfach zum Dopingskandal Stellung genommen: Als der Betrug aufflog, stritt er alles ab, dann räumte er ein, dass Russlands «Dopingbekämpfung gescheitert» sei, zuletzt warf er den USA vor, den Dopingskandal zu instrumentalisieren.
Zu den neuen Vorwürfen Grigori Rodschenkows will sich Putins Pressestab auf Anfrage nicht äussern. Das Internationale Olympische Komitee verweist auf den Untersuchungsbericht von Alt-Bundesrat Samuel Schmid, der keine Beweise dafür fand, dass Putin von der Dopingvertuschung gewusst oder sie unterstützt hätte.
Sotschi, 23. Februar 2014
Es ist der letzte Tag der Olympischen Winterspiele. Der russische Langläufer Alexander Legkow setzt zum Schlussspurt ins Laura-Stadion an – und flitzt als Erster über die Ziellinie. Lächelnd wirft er sich in den Schnee. Auf der Anzeigetafel im Stadion leuchtet seine Zeit auf: 1:46:55,2. Die Zuschauer jubeln, schwenken russische Fahnen. Gold für Legkow!
Rodschenkow leitet in diesen Tagen das Antidopinglabor von Sotschi. Die Weltantidopingagentur Wada hat es geprüft und akkreditiert. Sie wurde 1999 gegründet, nach dem Dopingskandal bei der Tour de France, als das Team Festina gedopt war. Seither leitet die Wada den weltweiten Kampf gegen den Betrug im Spitzensport und akkreditiert über dreissig Labore. Die führen die Dopingtests durch, sammeln Blut und Urin von Athleten, fahnden nach verbotenen Substanzen und melden positiv getestete Sportler an die Verbände.
Rodschenkow führt Tagebuch. An diesem 23. Februar 2014 notiert er: «Ich schaute 50 Kilometer Männer – Legkow ist ein toller Hecht – Gold.»
Ein Dopingkontrolleur wartet im Ziel und bittet Langläufer Legkow zur Urinabgabe. Die beiden Flaschen tragen die Prüfnummer 2890803 – und werden noch am gleichen Tag in das Dopinglabor von Sotschi gebracht. Gemeinsam mit all den anderen Proben, die an diesem Tag gesammelt wurden. Doch die Russen haben erreicht, dass sie nicht sofort analysiert werden, sondern frühestens am nächsten Morgen. So haben sie eine Nacht lang Zeit.
Raum 124
Raum 125
Erdgeschoss
Gesicherter Bereich
Eingang
Raum 124
Eingang
Raum 125
Raum 125
Offizielles
Dopingkontrolllabor.
Raum 124
Schattenlabor, in dem Grigori Rodschenkow
und sein Team die
Urinproben austauschen.
Erdgeschoss
Raum 124
Raum 125
Gesicherter
Bereich
Eingang
Raum 124
Raum 125
Raum 125
Offizielles
Dopingkontrolllabor.
Raum 124
Schattenlabor, in dem
Grigori Rodschenkow
und sein Team die
Urinproben austauschen.
Infografik: Bodara, Quelle: Jeremy White/«New York Times»
Das offizielle, von der Wada akkreditierte Antidopinglabor ist in Raum 125. Nebenan, in Zimmer 124, haben Rodschenkow und der russische Geheimdienst ein Schattenlabor eingerichtet. Die Räume sind verbunden, durch eine Art Mauseloch knapp über dem Boden. Erstmals berichtete darüber im Mai 2016 die «New York Times». Die Öffnung ist mit einer weissen Plastikkappe verschlossen. So eine, wie sie Elektriker benutzen, wenn sie eine Steckdose abdecken. Tagsüber steht ein Möbelstück davor, damit niemand Verdacht schöpft.
Im geheimen Schattenlabor wartet Rodschenkow. Eine einzige Lampe spendet ihm Licht. Er beugt sich hinab zum Mauseloch – durch das ihm ein Vertrauter aus dem offiziellen Labor heraus die Urinproben der russischen Athleten reicht. Rodschenkow prüft den «Fang des Tages», notiert die Menge des Urins, das Gewicht und die Farbe. Er passt auf, dass die Glasflaschen unversehrt sind.
Hergestellt werden die Flaschen in der Schweiz, von einem Familienbetrieb im Toggenburg. Seit den Olympischen Sommerspielen 2000 in Sydney kommen von hier die Dopingkontrollkits. Jeder Athlet gibt zwei Flaschen ab: die A-Probe für die erste Analyse, die B-Probe für das Gegengutachten. Entscheidend ist der Deckel. Unter keinen Umständen darf er von Unbefugten geöffnet werden. Nur mit speziellem Werkzeug soll die Flasche aufgehen. Jeder Versuch, die Flasche anderweitig aufzubekommen, verletzt den Verschluss, einen Ring, der früher aus Metall war, heute ist er aus Plastik. Wie ein Siegel, das man bricht. Jede Manipulation soll ausgeschlossen werden.
Doch nun, nach Mitternacht, reicht Rodschenkow die Flaschen mit den Urinproben einem bereitstehenden Agenten, der sie in die Kommandozentrale des Geheimdienstes mitnimmt, ein unscheinbares Gebäude in der Nähe. Dort öffnen Geheimdienstler die Flasche. Wie? Selbst Rodschenkow kennt den Trick nicht. Er erinnert sich nur an «Werkzeuge wie beim Zahnarzt». Er selbst bleibt in Raum 124, im Schattenlabor, trinkt Kaffee und wartet. Und raucht dann und wann eine Zigarette.
Schliesslich bringen die Agenten die Urinproben zurück: Die Flaschen sind geöffnet. Im Schattenlabor schüttet Rodschenkow den «dreckigen» Urin weg, säubert die Flaschen und füllt sie mit altem, sauberem Urin bis zur Markierung wieder auf. Mit Urin, den die Athletinnen Monate zuvor abgeben mussten, in Cola- und Saftflaschen. Und weil Menge, Gewicht und Farbe der Proben absolut identisch sein müssen, füllt er die Flaschen auf, mischt dann Wasser oder Salz unter, um den Urin schwerer oder leichter, heller oder dunkler zu machen. So wie das Original.
Am Ende verschliesst Rodschenkow die Flaschen wieder: mit den richtigen Deckeln, mit dem unversehrten Ring aus Metall. Er beugt sich hinunter zum Mauseloch und reicht sie hinüber, zurück ins offizielle Labor. Und geht schlafen.
«Am 23. Februar 2014 tauschte ich Legkows Urinproben an den Spielen in Sotschi», gibt Rodschenkow später eidesstattlich zu Protokoll, für einen Untersuchungsbericht des IOK: «Ich erinnere mich daran, weil es die Nacht der Abschlussfeier war und ich mit Blochin, Kudryawtsew und Chizhow witzelte, dass wir mit der Urinprobe von Legkow ja auch den Abschluss unserer Dopingvertuschung hätten. In dieser Nacht haben wir unseren letzten wichtigen Urintausch für die Sotschi-Spiele abgeschlossen und Legkow beschützt.»
Am Abend des 23. Februar 2014, kurz vor der Abschlussfeier, steigt ein strahlender Alexander Legkow im Fischt-Stadion auf das Siegerpodest. Neben ihm stehen zwei weitere Russen: Maxim Wylegschanin und Ilia Tschernusow, sie gewinnen Silber und Bronze. IOK-Präsident Thomas Bach hängt ihnen die Medaillen um den Hals. Die russische Hymne erklingt. Die Zuschauer jubeln. Wenig später sind die Spiele von Sotschi vorbei.
Schlägt man heute in den olympischen Annalen nach, dann findet man dort nur den Drittplatzierten, Ilia Tschernusow. Legkow und Wylegschanin, die Gewinner von Gold und Silber? Sind gelöscht. Man hat ihnen die Medaillen nachträglich aberkannt.
Lausanne, 5. Dezember 2017
Vor dem Kongresszentrum in der Stadtmitte haben Dutzende Kamerateams ihre Stative aufgebaut; Übertragungswagen stehen bereit für die Liveschaltungen der Reporter. Das IOK hat zur Pressekonferenz geladen. Gleich wird Präsident Thomas Bach die Entscheidung verkünden: Dürfen die russischen Athletinnen und Athleten mit zu den Winterspielen nach Südkorea?
Seit langem ist das Internationale Olympische Komitee dafür bekannt, bei Problemen wegzuschauen. Vor den Sommerspielen von Peking 2008 wurden Menschen zwangsumgesiedelt, Kritikerinnen unter Hausarrest gestellt oder in Haft genommen, Internetseiten zensiert. 2014 prangerte der russische Aktivist Jewgenij Witischko die Umweltsünden von Sotschi an und wurde zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Das IOK protestierte, wenn überhaupt, so leise, dass es niemand hörte. Gerade dann, wenn es um die Interessen grosser Nationen ging.
Und Russland sieht sich als eine der grossen Sportnationen. Der Kreml hat viel Geld investiert, um Eishockeyspieler und Biathleten auf die Siegerpodeste zu bringen. Sport als Propagandainstrument, als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. 1976 holten die UdSSR Gold im Eishockey. 1980 wurden sie in einem packenden Duell von den USA besiegt. Bis heute erinnern die Amerikanerinnen und Amerikaner dieses Spiel als «Miracle on Ice». Eishockey als Analogie zum Kalten Krieg.
Seit dem Betrug von Sotschi haben Wada und IOK vier Sonderkommissionen eingesetzt, die Hunderte Seiten lange Berichte abgegeben haben. Experten haben die Aussagen Rodschenkows überprüft und forensisch untersucht – und für wahr befunden. Die Vorwürfe gegen Russland sind «über jeden berechtigten Zweifel erhaben», urteilt eine der Kommissionen.
Doch schon bei den Sommerspielen von Rio de Janeiro 2016 knickte das IOK ein: Man reichte die Entscheidung, ob russische Athletinnen antreten dürften, an die Verbände weiter. Der Leichtathletik- und der Gewichtheberverband sperrten die Russen. In allen anderen Sportarten nahmen sie teil.
Auch jetzt, vor den Winterspielen von Südkorea, werden bis in das IOK hinein Sanktionen gegen Russland verlangt. Der Betrug sei zu systematisch, als dass der russische Verband teilnehmen dürfe. Und Thomas Bach hat mehrfach gesagt: Der Betrug von Sotschi war «ein beispielloser Angriff auf die Integrität der Olympischen Spiele und den Sport».
Es ist 19.30 Uhr, als Thomas Bach in Lausanne vor die Presse tritt und verkündet: «Das russische olympische Komitee ist ab sofort suspendiert.» Es werde in Südkorea keine russischen Fahnen, keine russischen Trikots, keine russische Nationalhymne geben.
Aber: Russische Athleten dürfen an den Spielen teilnehmen – in neutraler Sportkleidung und unter dem Label OAR, «olympische Athleten aus Russland». Hält sich die russische Mannschaft an die Auflagen, kann sie bei der Abschlussfeier wieder in Weiss, Blau und Rot auflaufen, den Farben Russlands.
Ein Liebesgruss nach Moskau? Seit langem pflegt Bach ein Vertrauensverhältnis zu Russlands Führung, auch zu Putin. Als Bach im September 2013 zum IOK-Präsidenten gewählt wurde, war Putin der Erste, der ihm am Telefon gratulierte. Thomas Bach war einmal Fechter. 1976 gewann er in Montreal die Goldmedaille mit der deutschen Mannschaft im Florett. Ausweichen, zurückweichen, täuschen – glaubt man seinen Gegnern, dann hat Thomas Bach das Fintenschlagen nie verlernt.
Einer von Bachs Kritikern ist Richard «Dick» Pound, Gründungspräsident der Wada, ehemaliger IOK-Vize und an der Aufklärung des russischen Staatsdopings massgeblich beteiligt. Er sagt über Thomas Bach: «Es gibt keinen Raum für ernsthafte Diskussion und Opposition. Und das Risiko ist, das habe ich gemerkt: Du wirst zum Staatsfeind.» Kritik nehme Bach persönlich, anstatt sie auf sein Amt und die Organisation zu beziehen. Pound will nicht hinnehmen, dass Russland einen Sonderstatus erhält. «Wenn all das woanders passiert wäre, sagen wir in Guatemala – Guatemala wäre raus. Gar keine Frage.»
Zürich, Januar 2018
Doping in Sotschi. Das doppelte Labor. Das Mauseloch, das beide verband. Die Monate zuvor abgegebenen sauberen Urinproben. Ein Laborleiter namens Rodschenkow, der auf Konferenzen vom sauberen Sport schwärmte, seinen Athleten aber Oxandrolon, Methenolon und Trenbolon verabreichte, den Männern mit Chivas Regal versetzt, den Frauen mit Martini, weil sich anabole Steroide in Alkohol am besten auflösen.
Doch es gibt eine Vorgeschichte. Der Republik liegt ein Dokument vor – Rodschenkow hat dessen Echtheit bestätigt –, das zeigt: Bereits bei den Sommerspielen von Peking 2008 und London 2012 haben russische Athletinnen und Athleten grossflächig, systematisch und staatlich orchestriert gedopt.
Sotschi war nicht der Anfang. In Sotschi wurde das Staatsdoping perfektioniert.
Rodschenkow hat einmal gesagt: «Wir sind Weltklassebetrüger. Um uns zu übertreffen, braucht man eine Menge Erfahrung.» Russland, das zeigt dieses Dokument, hat diese Erfahrungen über Jahre hinweg gesammelt und in Sotschi zur Blüte getrieben.
Im Interview sagt Rodschenkow jetzt: «Vor Peking war es ganz einfach. Das ganze Leichtathletik-Nationalteam war gedopt.»
«Zwischen Peking 2008 und London 2012 haben wir unsere Strategie des Vertuschens geändert. Wir hatten alles unter Kontrolle.»
Die Mitarbeit an «Geheimsache Doping» wurde aus dem Etat für grosse Recherchen, grosse Geschichten und grosse Ideen der Project R Genossenschaft realisiert.
Debatte: Wie viel Spass machen dopingverseuchte Winterspiele?
Am 9. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Südkorea. Im Vorfeld sorgen spektakuläre Enthüllungen beim Doping für Aufsehen. Die Recherchen führen bis tief in die Schweiz hinein. Diskutieren Sie mit der Autorin Sylke Gruhnwald und dem Autor Carlos Hanimann – hier gehts zur Debatte.
Zur «Geheimsache Doping» recherchieren Reporterinnen und Reporter der ARD-Dopingredaktion, des schwedischen Fernsehens SVT, der britischen Zeitung «Sunday Times» und der Republik. Die ARD zeigt den zweiteiligen Film «Geheimsache Doping: Das Olympia-Komplott. Der scheinheilige Kampf gegen den Sportbetrug». Gemacht haben den Film Hajo Seppelt, Grit Hartmann, Edmund Willison und Jürgen Kleinschnitger (Teil 1, Teil 2). Die Republik berichtet zeitgleich mit den Partnern in mehreren Teilen über das russische Staatsdoping – und die Verbindungen in die Schweiz.
Teil 1: Der «Plan Sotschi»
Teil 2: Die Akte Bern
Teil 3: Falsche Flaschen