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Grosse Freude!
Absolut
Besten Dank für das hervorragend geführte, sehr interessante Interview! Das muss uns allen zu denken geben...
Die Gefängnispopulation widerspiegelt die gesellschaftliche Ungleichheit. Viele sind nicht wegen massiver Straftaten in Haft, sondern etwa wegen Betäubungsmitteln und der damit verbundenen Kleinkriminalität. In anderen sozialen Schichten gibt es Menschen, die mit ihrem Handeln einen viel grösseren Schaden für die Gesamtgesellschaft anrichten und nicht in Haft kommen. Sie machen sogar Karriere damit.
Dem ist definitiv so!
Bei abgewiesenen Asylsuchenden in einigen Kantonen, wird das sogar auf die Spitze getrieben und ad absurdum geführt.
Manche von ihnen kommen rein aufgrund von ihrer Anwesenheit (rechtswidriger Aufenthalt und rechtswidrige Einreise Art. 115 AIG, Verstoss gegen Eingrenzung oder Ausgrenzung Art. 74 AIG) monatelang, manchmal sogar jahrelang ins Gefängnis. Für nichts!
Dazu kommt die Administrativhaft, welche eigentlich rein dem Zweck des Nicht-Untertauchens dienen würde, welche oft strenger ist als in einem richtigen Gefängnis (Vorbereitungshaft Art. 75 AIG, Durchsetzungshaft Art. 78 AIG, Ausschaffungshaft Art. 76 AIG) und viele verschwinden Jahre hinter Gittern! Manchmal wird bei Art. 75-78 AIG nicht mal die zulässige Höchstdauer der Administrativhaft geprüft und jemand kommt länger in Administrativhaft als gesetzlich erlaubt! Denn einen Anwalt können sich die wenigsten leisten und schon nur der Kontakt zu einem ist oft gar nicht möglich.
Also rein durch die Anwesenheit, ohne sich sonst etwas zuschulde kommen zu lassen, kann man in der Schweiz jahrelang in Haft kommen! Aber natürlich nur als Ausländer.
Dann gibt es abgewiesene Asylsuchende, die haben noch kleine Dinge gemacht. Ihre Lebensumstände sind nicht einfach, sie dürfen nicht arbeiten, was keine Entschuldigung sein soll aber viel erklärt. Ihr Strafregister liest sich dann nämlich so als wären sie Schwerverbrecher mit den vielen Einträgen.
Schaut man genauer hin, kann man es dann jedoch kaum fassen, was für "schlimme Delikte" das sind:
Art. 115 AIG - rechtswidrige Einreise und Aufenthalt wird nämlich dann immer zu einem anderen Delikt dazugerechnet, was das Strafmass extrem erhöht! Dazu kommt die Wiederholung, welche das Strafmass noch zusätzlich erhöht. Man ist dann ein "Wiederholungstäter". Rechtswidriger Aufenthalt ist ein Dauerdelikt. Es erfolgt eine undurchsichtige Mischrechnung, bei welcher gar nicht mehr klar ist, welches "Delikt" welchen Anteil hat. Das Strafmass aber ist dadurch fast immer exorbitant und absurd hoch.
Zum Beispiel erfolgt eine Mischrechnung von rechtswidrigem Aufenthalt nach Art. 115 AIG mit:
Übernachten bei einem Familienmitglied oder Freund in einem anderen Asylzentrum > Leitung meldet der Polizei "Fremdschläfer" > Hausfriedensbruch > mehrere Monate Haft!
Einen Joint rauchen > Cannabis Konsum > Verstoss gegen BtMG > mehrere Monate Haft!
Im Migros etwas zu Essen mitgehen lassen für 10 CHF > Diebstahl/geringfügiges Vermögensdelikt > mehrere Monate Haft!
Ein Kleidungsstück oder Schuhe klauen > Diebstahl/geringfügiges Vermögensdelikt > mehrere Monate Haft!
Streit mit jemandem im Asylzentrum, der physisch wird, da es Sprachschwierigkeiten gibt > leichte Körperverletzung > mehrere Monate Haft!
Eine Aushilfsarbeit gegen Geld verrichten > nicht bewilligte Erwerbsarbeit > mehrere Monate Haft!
Oder auch nur rechtswidriger Aufenthalt für sich alleine oder mit rechtswidriger Einreise > mehrere Monate Haft!
Ein Schweizer oder eine Schweizerin wäre da gar nie in Haft gekommen, hätte keinen einzigen Strafregistereintrag.
Die Illusion von einem "Rechtsstaat", der für alle Menschen mit gleichen Ellen misst, ist bei mir weg.
Ein Rechtsstaat sind wir sicher nicht. Wenn man betrachtet, was alles in der Bundesverfassung steht und wie es dann umgesetzt wird, hat man keine Illusionen mehr. Kommt noch dazu, dass ein Rechtsstaat keine Garantie für Gerechtigkeit ist, gar nie sein kann. Gerecht bedeutet je nach Sachverhalt bei jeder Person etwas anderes.
Spannend, einleuchtend. Frau Karin Keller Sutter interviewen?
Thomas Galli:
"Es brauchte einfach einen Justizminister, der sich nicht um seine Wiederwahl kümmert, sondern die Gestaltungsmöglichkeiten ausnützt."
Das finde ich sehr überzeugende Ideen. Vor allem der Vorschlag, dass Opfer beim Findungsprozess der geeigneten Wiedergutmachungsmassnahmen beteiligt sind, scheint mir sehr wichtig.
Und dem Täter wird im Idealfall auch eine gewisse Empathie dem Opfer gegenüber ermöglicht, was wohl eine Rückfallgefahr mindert.
Danke für das interessante Interview!
Ein kleines Schrittchen hat auch der Strafvollzug in der Schweiz in Richtung Einbezug der Opfer gemacht mit der im Strafgesetz verankerten Forderung nach Wiedergutmachung. Als Beispiel das Konzept der Strafanstalt Saxerriet, deren langjähriger Direktor nach einem Theologiestudium u.a. als Redaktor, Theologe, Lehrbeauftragter für Ethik und Seelsorger tätig war, bevor er 1998 den Direktorenposten übernahm.
Aber auch unter guter Leitung bleibt Strafvollzug natürlich Strafvollzug. Der Umgang mit Menschen, die aus Ungeschick, Unglück oder Rücksichtslosigkeit keine Grenzen respektieren und andere in erheblichem Ausmass schädigen, fordert uns als Gesellschaft grundsätzlich heraus. Das Thema immer wieder dorthin zurückzuholen, wo es hingehört, finde ich eine grosse Leistung. Danke dafür.
Der Historiker Rutger Bregman (siehe auch Interview in Republik) führt im Kapitel 16 seines Buches „Im Grunde Gut“, einige Beispiele für eine Abkehr von hiesigen Gefängnissen auf. Zum Beispiel Halden in Norwegen ohne Zellen oder Gitterstäbe, keine Wachen mit Pistolen. Ein Musterbeispiel für ein nicht-komplementäres Gefängnis. Oder die Insel Bastøy, auf der die Häftlinge gemeinsam mit den Wachen den Tag organisieren, arbeiten und zusammen eine Gemeinschaft bilden. Deren Direktor Tom Eberhardt meint:
Behandelt man Menschen wie Abschaum, werden sie Abschaum sein. Behandelt man sie wie Menschen, werden sie sich wie Menschen verhalten.
Danke, Herr Litschig, ein eindrückliches Zitat!
Wenn nur schon die Sprache dahingehend anders angewandt würde, dass von Opferschutz oder Gesellschaftsschutz und von Wiedergutmachung anstatt von "Strafe" im Sinne von Rache gesprochen würde, wäre viel gewonnen.
Die Feststellung, dass jegliche Gefängnisstrafe den bisherigen und möglichen zukünftigen Opfern direkt gar nichts bringt, finde ich sehr erhellend. Indirekt - da bin ich ganz einverstanden - kann der Freiheitsentzug als Schutzmassnahme der Allgemeinheit vor dem Täter notwendig sein. Jegliche Repression innerhalb des Freiheitsentzuges ist jedoch unnötig; da gehe ich mit Herrn Galli einig.
Völlig überzeugende Ansichten von einem, der weiss, wovon er spricht, kombiniert mit ausgezeichneter Befragung. Vermutlich prägt auch die Behandlung von Kriminalität in Medien und Film das Verständnis der Bevölkerung über den Strafvollzug. Für mich als Laiin ist es jedenfalls so. Der Normkriminalfilm als Genre bestätigt Klisches und dient mit der Lösung der Fälle durch eine hypersmarte, aber menschliche Detektivfigur mit sympathischen kleinen Schwächen der Bereitschaft, das herrschende Rechtssystem kritiklos anzunehmen. Das archetypische Bild einer durch und durch bösen Täterschaft dient dabei als Aufhänger und führt letztlich auch zur Akzeptanz der Wegsperrindustrie in der Bevölkerung.
Gegen dieses Bild ist der Film "The Shawshank Redemption" (1994) mit Tim Robbins und Morgan Freeman zu empfehlen (der interessanterweise seit langem als Nummer 1 in IMDB's Top Rated Movies firmiert). Oder, neuer, die Drama-Serie "Orange Is the New Black" (2013-19), die trotz oder wegen der komödiantischen Dimension (sog. dramedy), das Humane und Dehumanisierende des Gefängnisses näher bringt, indem die Hintergrundgeschichten der Insassinnen, die Dynamiken zwischen ihnen, aber auch die Interaktion mit den Wärter*innen und dem System erzählt wird.
Was nicht erwähnt wurde: Gefangene arbeiten und verdienen für "ihr" Gefängnis gutes Geld für einen äusserst minimalen Lohn. Weil so viele von den Gefangenen und Gefängnissen leben, braucht es eine grosse Anzahl Gefangene, wie im Interview bei den Gutachten angesprochen.
Ausserdem stammt in Deutschland das zivile Gesetzbuch aus Bismarcks Zeiten. Das ist bei uns nicht der Fall, und es wird auch weniger hart und absurd bestraft wie dort. Dennoch bin ich ganz auf der Seite von Herrn Galli: Strafen verhärtet, helfen macht den besseren Menschen, sowohl aus dem der hilft, als auch aus dem, dem geholfen wird.
Wir bauchen einen Umgang mit Straftäterinnen, die ihnen das Gefühl gibt, von der Gesellschaft als Menschen wahrgenommen zu werden, die zwar etwas gut zu machen haben, an denen man sich aber nicht für ihre meist misslichen Lebensumstände rächt.
Danke für dieses spannende Interview. Eine Position, die leider zuwenig gehört und diskutiert wird. Nebst den Aspekten aus dem Artikel gibt es noch eine gesellschaftliche Dimension. Die Fragen der Ethik bzw. in der Umsetzung was definiert die Gesellschaft als gültige Moral? Dies scheint im ersten Moment verwirrend aber ist eine logische Folge des Verständnisses der Strafe an sich. Wenn wir Gewalt mit Gegengewalt begegnen, sind wir bei Law and Order in ihrer repressivsten Form.
Stellt man sich auf den Standpunkt, dass die Gesellschaft intakte moralische Werte lebt, sollte sie sich selbst nicht auf die Stufe des Täters stellen. Strafe sollte also resozialisieren und nicht primär vergelten. Das zeigt sich in Extremis bei der Todesstrafe. Wir delegieren das Töten an das System. Ausführen muss es jedoch in letzter Instanz ein Mensch, auch wenn dazu Technik eingesetzt wird um den Tod herbeizuführen und nicht eine Waffe. Dieser ausführende Mensch (auch: Mitarbeiter, Nachbar, Freund, Familienmitglied) ist legitimiert zu Strafen in unserem Auftrag. Wie gehen diese Menschen mit ihren legitimierten Strafen um? Wie steht es um ihr Gewissen? Wie fühlen wir uns letztlich, wenn in unserem Auftrag eine vergleichbare Tat vollbracht wird? Sie scheint uns legitim, da damit unser Gefühl von Ohnmacht (Un-/Gerechtigkeit) ausgelöscht werden kann. Was geschieht aber dann mir uns selbst? Was ist mit unserer eigenen Moral? Diese erfährt in diesem Augenblick auch eine massive Verzerrung! Was wir normalerweise aus ethischen Überlegungen ablehnen ist dann selbstverstänlich legitimiert durch den emotionalen, körperlichen oder materiellen Schaden den wir erlitten haben. Es geht hier mehr um Rache als um Sühne. In den USA gibt/gab es Staaten in welchen die Todesstrafe von den angehörigen der Opfer selbst vollzogen werden kann/konnte. In 33 Bundesstaaten ist die Todesstraffe erlaubt. In 8 gibt es keine Altersuntergrenze für Täter für die Todesstrafe, in 14 ist das Mindestalter unter 18.
Dies ist Aug um Aug, Zahn um Zahn. Eine erwachsene Gesellschaft sollte sich davon emanzipieren. Die Gesellschaft und Ihre Organe müssen moralisch über der Tat stehen. Sie dürfen auch als Handlanger nicht zum Erfüllungsgehilfen der Rache werden. Auch die Kirche hat ihr altes Testament durch das neue ersetzt (ergänzt) und damit einen Entwicklungsschritt vollzogen.
Als Gesellschaft muss uns das auch gelingen. Den Opfern primär bedingungslos helfen, egal der gesellschaftlichen Kosten. Sekundär den Täter auf menschenwürdige Art zu behandeln, wie es Mitglieder der Gesellschaft erwarten dürfen unter Einhaltung aller Menschenrechte. Wenn wir im Sinne von Thomas Galli diskutieren, reflektieren und bewusst handeln und die Gefängniskultur infragestellen und entwickeln, haben wir die Chance mit weniger Repression zu einer offenen und moralisch intakten Gesellschaft zu wachsen.
Ich finde das Interview gut, keine Frage, der Mann weiss wovon er spricht. Allerdings ist das ja alles nicht neu. Jedenfalls waren dies schon in meiner Ausbildungszeit vor zig Jahren Themen, welche intensiv diskutiert wurden. Würde sich also die Frage stellen, warum wir heute nicht weiter sind...
Wow! Wie viel doch einige gute Zeilen bewirken können.
Besonders spannend und erfrischend finde ich den Ansatz, dass Thomas Galli die gesellschaftliche Moral nicht in den Vordergrund stellt und seine Argumentation nicht direkt darauf hinausläuft. Gesellschaftliche Moral wird im Einzelfall weder den Tätern, noch den Opfern gerecht, weil sie eben auf einer übergeordneten Ebene (der moralischen) funktioniert und nur von Romanfiguren so verinnerlicht wird, dass die persönliche Haltung absolut danach ausgerichtet wird. Deshalb funktioniert das Argument in der politischen und persönlichen Diskussion nicht. Der Gegenpol des echten oder vorgestellten Unrechts, übertrifft die Moral immer.
In diesem Zusammenhang finde ich den Ansatz der unabhängigen Kommission, die das Strafmass bestimmt, besonders interessant.
Moral entsteht bei der Bestrafung von Tätern, aus dem Wunsch nach Wiedergutmachung und Rache, respektive deren Relativierung. Opfer haben moralisch ein Recht auf Wiedergutmachung UND Rache. Also nicht nur materielle, sondern auch emotionale Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Täter und Opfer. Das kann auch moralisch nicht wegdiskutiert werden – Moral schränkt das Handeln ein, nicht das Motiv. Wenn dieses Rachebedürfnis ernstgenommen wird, wird die moralische Diskussion dort geführt, wo sie zu einer wahrhaft moralischen Gesellschaft beträgt.
Wenn das Opfer seine persönlichen Rachebedürfnisse und Wiedergutmachungsansprüche einbringen und in der Entscheidungsfindung (gestützt durch entsprechende gesellschaftliche Regeln und relativierende Elemente) mit einer gesellschaftlich (moralisch) vertretbaren «Rachehandlung» zufriedengestellt werden kann, entsteht gelebte, gesellschaftliche Moral. Moralische Entscheidungen werden so gestärkt und können zu einer gesellschaftlichen Veränderung beitragen.
Im besten Fall mit einem veränderten Täter und einem gestärkten Opfer, das «nur» noch an den direkten Folgen zu leiden hat und nicht auch noch an der von ihm empfundenen Ungerechtigkeit.
Ich hoffe, das Thema nimmt langsam Fahrt auf!
Ich besuche einen Verwahrten in der Schweiz seit Anbeginn der Haft. Due Strafe ist abgesessen. 14 Jahre. Dem Rachbeduerftnus und dem Suehnegedanken ist damit Genuegegetan. Nun also die Verwahrung. Grund: schutz der Gesellschaft und nicht Strafe. Gutachter attestieren Unfaehigkeit zur Veraenderung. Damit kann Schuld nicht behauptet werden.
Nun sind aber die Haftbedingungen gleich wie in der Zeit der Strafe. Gefaengniskleidung, fast keine Bewegungsfreiheit in der Anstalt. Kaum Moeglichkeiten zur persoenlichen Tagesgestaltung. Verwahrung ist nicht Strafe. Sondern Schutz fuer uns. Es widerspricht meiner Vorstellung von Menschenwuerde, wenn eine Massnahme zu unserem (!) schutz mit fuer den Betroffenen Schkanoesem Haftregime umgesetzt wird. Dabei sind die Gefaengnismitarbeiten korrekt und freundlich.Hieralso kein Problem. Das Problem liegt in den Haenden der parlamentarier und der Stimmbuerger. Liebe SchweizerInnen: wir haben definitiv kein Kuscheljustiz.
Lieber Herr F., einen kleinen Hinweis noch, was die Verwahrten betrifft. Wie Sie korrekt schreiben, bleiben sie inhaftiert, obwohl sie ihre Strafe verbüsst haben. In Deutschland hat das Verfassungsgericht schon vor einigen Jahren klargestellt, dass sich der Vollzug einer Verwahrung deshalb deutlich vom Vollzug einer Freiheitsstrafe abgrenzen muss; eben, weil die Verwahrung nicht der Strafe dient. In Deutschland nennt man dies "Abstandsgebot". Denkbar wäre, dass Verwahrte in gesicherten Häusern leben, ihren Alltag aber weitgehend selber gestalten dürfen. Ähnlich, wie es Thomas Galli mit den von ihm vorgeschlagenen Dorfgemeinschaften vorschlägt. Davon sind wir in der Schweiz aber noch meilenweit entfernt. Ausserhalb von Fachkreisen wird das "Abstandsgebot" nicht diskutiert. Freundliche Grüsse, Brigitte Hürlimann
Dass wir keine Kuscheljustiz hätten, würde ich nicht generell behaupten. So werden Steuerhinterzieher sehr sanft behandelt. Die Öffentlichkeit erfährt manchmal gar nichts davon. Gewisse Tatbestände werden einfach administrativ von einer Behörde erledigt, obwohl der Diebstahl sehr viel grösser sein kann, als zum Beispiel der an einem Gericht verhandelte Betrug. Erleichtere ich die Mirgros um ein paar Packungen Kaugummi, geht es mir schlechter, als wenn ich bei der Mehrwertsteuer ein paar Tausender nicht gesetzeskonform 'erwirtschafte'.
Wir haben aber noch ganz andere Probleme. Nur wer Geld hat, kann sein Recht durchsetzen. Da sieht man ganz schön bei Asbestopfern oder beim Dieselskandal. Und es bleibt ein Gefühl von Ungerechtigkeit, wenn man Jahre lang prozessieren muss für etwas, das von Anfang an von fast allen als 'nicht ok' eingestuft wird.
Vielen Dank Brigitte Hürlimann für dieses eindrückliche Interview mit Thomas Galli über das ambivalente Thema der "wiederherstellenden oder korrektiven Gerechtigkeit" (iustitia regulativa sive correctiva) . Aber auch für Deinen Optimismus, dass die Leser*innen nach dem Teaser "Der ehemalige Gefängnisdirektor, der die Gefängnisse abschaffen will" nicht "einzig die Schlagzeile lesen" und 'zu machen', sondern offen bleiben, bis sie lesen:
Wenn die Leute einzig diese Schlagzeile lesen: «Gefängnisdirektor will die Gefängnisse abschaffen», dann machen sie zu und sagen, das sei Unsinn. Es beleidige die Opfer, und es sei total unrealistisch, dass dies jemals klappen könnte. Mit solchen Schlagzeilen erreicht man nichts. Vieles von dem, was wir mit den Gefängnissen erreichen wollen, ist sinnvoll. Auch unser Strafbedürfnis, unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit, halte ich für berechtigt. Es geht mir darum, neue und bessere Wege zu finden – ausserhalb der Gefängnisse.
Gallis Lösung für Schwerverbrecher erinnert unvermeidlich an Strafkolonien in meist weit entlegenen isolierten Gegenden (man erinnert sich: Der ganze Kontinent Australien wurde als Strafkolonie von UK erklärt). Die Dorfgemeinschaften in dicht besiedeltem Gebiet wiederum an Klostergemeinschaften, an kollektive Klausen sozusagen.
Ich finde seine Vorschläge sehr bedenkenswert i. S. von: Man könnte zumindest damit beginnen, indem man sie anhand eines Modell-Dorfes und einer Modell-Wohngruppe erprobt und evaluiert. Um diese bei Akzeptanz und Erfolg auszuweiten.
Das mit dem Modell-Dorf ist etwas, was auch anderswo versucht wurde: https://www.srf.ch/play/tv/10vor10/…3e69f83566
Ich kenne den genauen Stand des CH-Versuches nicht, aber so etwas liesse sich übertragen, denke ich.
"Es ist eine strukturelle Entmenschlichung" (Galli)
Eine der besten Lektüren zu diesem Thema ist immer noch Michel Foucaults "Überwachen und Strafen" (1975/76). Derselbe war auch Aktivist "der Groupe d’information sur les prisons, G.I.P. (Gruppe Gefängnisinformation), die sich ab 1971 dafür engagierte, den Gefangenen in den französischen Gefängnissen die Möglichkeit zu geben, ihre Situation in der Öffentlichkeit darzustellen".
"Die Gefängnispopulation widerspiegelt die gesellschaftliche Ungleichheit" (Galli)
Wichtig, weil die strukturelle Ungerechtigkeit und der institutionelle Rassismus in den USA aufgezeigt wird, ist auch das Buch "The New Jim Crow" (2010/20) von Michelle Alexander (Rezensionen vom New Yorker und Guardian).
Wege vorwärts
Eine internationale Analyse der Rückfallraten in verschiedenen Formen des Strafvollzugs durchführen. Von den besten Fällen lernen. Norwegen und die Niederlanden sind scheinbar auf gutem Weg. Gefängnisstrafen für kleinere Wiederholungsdelikte durch Community Service ersetzen. Drogenvergehen therapeutisch statt durch Einsperren behandeln. Und gesellschaftliche Ungleichheit mindern.
(https://www.theguardian.com/comment…-142699246)
Tolles Interview! Immer wenn ich mir die Horror-Shows aus amerikanischen Gefängnissen ansehe, frage ich mich, was denn eine sinnvolle Lösung sein könnte. Die im Interview erwähnten Ansätze stimmen mich sehr hoffnungsvoll. Falls sich Herr Galli als Justizminister der Schweiz bewerben würde, er hätte meine Stimme :)
Einzig beim Thema gemeinnütziger Arbeit finde ich persönlich, dass dies gar nicht abschreckend, sondern ein sehr schöner Gedanke ist - viele Menschen finden Erfüllung darin. Aber das sehen vielleicht eher Sozis wie ich so... Für "Kriminelle" könnte es wirklich abschreckend sein.
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