«Die Leute kommen nicht besser aus den Gefängnissen raus, sondern eher schlechter und geschwächt»
Der ehemalige Gefängnisdirektor, der die Gefängnisse abschaffen will: Thomas Galli lässt sich durch Empörung und Widerspruch nicht beirren bei seiner Forderung nach einem menschenwürdigen Strafsystem.
Ein Interview von Brigitte Hürlimann (Text) und Manuel Nieberle (Bilder), 29.07.2020
Ist er ein Nestbeschmutzer? Ein Träumer oder Spinner gar? An Fachtagungen wird er als Vollzugsfeind oder Vollzugsverräter bezeichnet – ohne dass er dort seinen Standpunkt hätte erläutern dürfen.
«Ach was, diesen schlechten Ruf habe ich nur in den Justizministerien oder bei konservativen Parteien», sagt Thomas Galli und winkt ab. Widerspruch, Empörung und Unverständnis ist er gewohnt – doch am 46-jährigen promovierten Juristen und Rechtsanwalt aus dem bayrischen Augsburg kommt derzeit niemand vorbei, der die Strafjustiz reformieren will. Dass ausgerechnet ein ehemaliger Gefängnisdirektor die Gefängnisse für unnütz, ja sogar schädlich hält, lässt auch die Hardliner aufhorchen.
In seinem neusten Buch «Weggesperrt», das im Mai erschienen ist, schreibt Galli: Gefängnisse seien weder notwendig noch geeignet, die Kriminalität zu reduzieren. Und: «In ihrer plumpen und schädlichen Art zu strafen sind sie unter unser aller Würde.»
Thomas Galli studierte Rechtswissenschaft, Kriminologie und Psychologie. 2016 vollzog er die radikale Kehrtwende. Seither verwaltet und diszipliniert er nicht mehr Häftlinge, sondern steht ihnen als Rechtsanwalt bei. Das führt ihn nach wie vor regelmässig in Gefängnisse.
Herr Galli, warum sperren wir Menschen ein?
Weil wir sie bestrafen.
Und warum strafen wir?
Instinktiv scheint es logisch und sinnvoll zu sein, dass bestraft wird. Aber es lohnt sich, zweimal darüber nachzudenken. Müssen wir einem Menschen, der Übel verursacht hat, zwingend ebenfalls Übel zufügen? Fast jeder stellt an sich selbst ein Strafbedürfnis fest, den Wunsch nach Rache oder Vergeltung. Das ist der erste Impuls, wenn man verletzt oder gekränkt wurde. Man möchte, dass es dem anderen zurückbezahlt wird.
Ist dieser Wunsch nach Vergeltung legitim?
Es ist wichtig, den menschlichen Drang nach Vergeltung und Sühne anzuerkennen. Und nicht alles, was damit verbunden ist, ist schädlich. Er weckt Aufmerksamkeit und setzt Energien frei. Der Vergeltungsgedanke greift auch dann, wenn wir nicht selber betroffen sind, wenn Dritte verletzt werden. Würde dieser Impuls verschwinden, könnte es passieren, dass uns die Schädigung kaltlässt. Wir gehen daran vorbei und sagen: «Das interessiert mich nicht, es ist mir wurscht, ich setze mich nicht damit auseinander, auch nicht mit dem Menschen, der dies getan hat. Ich habe keine Energie und keinen Trieb dazu.» Die Aktivierung von Energie, die im Rache- oder Sühnebedürfnis steckt, finde ich sinnvoll und notwendig. Aber so, wie wir diese Energie einsetzen, ist es nicht mehr zeitgemäss. Das muss überwunden werden.
Wenn bestraft wird, landen die Leute oft im Gefängnis, auch Kleinkriminelle. Das ist gesellschaftlich und politisch akzeptiert. Jahrelang waren Sie Teil dieses Systems – und sind heute zu dessen schärfstem Kritiker geworden. Warum?
Weil die Frauen und Männer im Gefängnis entmenschlicht werden. Sie verlieren das Recht, als Subjekt Entscheidungen zu treffen. Es ist eine strukturelle Entmenschlichung. In Deutschland müssen die Häftlinge in den meisten Bundesländern eine Gefangenenkleidung tragen; eine graugrüne Kluft, die irgendein Gefangener vor ihnen getragen hat. Da findet schon rein optisch eine Entwertung statt. Und sie werden in eine Zelle gesperrt, verbringen dort viele Stunden. Die meisten wollen eine Einerzelle, aber es gibt bei weitem nicht genügend Hafträume. Auch in einem reichen Bundesland wie Bayern sind sechs bis acht Gefangene in einer Zelle untergebracht, teilen sich eine Toilette. In den Anstalten herrscht ein strenges Regime, ohne das könnten die Gefängnisse gar nicht funktionieren. Es sind immer ein paar hundert in einer Anstalt untergebracht. Deshalb muss alles minutiös vorgegeben sein: wann aufgestanden und gegessen wird, wann gearbeitet, wann es Hofgang und Freizeit gibt, wann die Zellen geöffnet und geschlossen werden.
Ist das strenge Regime Teil der Strafe?
Nein, hier geht es nicht um die Freiheitsstrafe, sondern um Ordnung und Kontrolle im Betrieb. Wenn man das hört, könnte man meinen, das sei doch nicht so schlimm, weil es im Militär ähnlich zu- und hergeht. Doch im Gefängnis wird einem erwachsenen Menschen für jede Minute vorgegeben, was er tun darf und was nicht. Und das manchmal jahrelang. Er muss alles beantragen: wenn er ein Buch haben will oder ein neues T-Shirt. Aussenkontakte sind nur erschwert möglich. In Bayern zum Beispiel dürfen die Gefangenen nur selten telefonieren.
Viele denken wohl: Das ist in Ordnung so, die Gefangenen sollen es nicht zu nett haben.
Diese Auffassung gibt es bestimmt. Sie widerspricht aber dem Rechtssystem, denn nach diesem ist nur der Freiheitsentzug Teil der Strafe. Es gehört nicht zur Strafe, vorzuschreiben, dass jemand seine Ehefrau oder seine Kinder bloss zweimal pro Monat sehen darf. Eigentlich besteht die Freiheitsstrafe nur darin, dass man eine bestimmte Umgebung nicht verlassen darf. Viele der tatsächlichen Belastungen im Gefängnis entstehen ausserhalb der Strafe. Sie sind einzig der effizienten Bürokratie geschuldet, dem Bestreben, möglichst viele Häftlinge möglichst kostengünstig zu verwalten.
Die Häftlinge sind nicht nur den Regeln der Gefängnisverwaltung unterworfen, sondern auch den ungeschriebenen Gesetzen der Subkultur.
Diese Subkultur gibt es trotz der strengen Verwaltung, man kann sie nicht unterbinden. Die Gefangenen verbringen sehr viel Zeit miteinander. Da leben ein paar hundert Männer – bei den meisten Insassen handelt es sich um junge Männer – eng aufeinander. Sie haben im Gefängnis ihre Peergroups mit Normen und Werten. Es gibt Hierarchien, denen man sich fügen muss, und Regeln, die einzuhalten sind. Vor allem darf man nicht mit der Anstalt beziehungsweise mit dem Staat kooperieren, sonst fällt man bei den Mitgefangenen durch, muss man mit körperlichen Repressionen rechnen.
Was lernen die Insassen von ihrer Gefängnis-Peergroup?
Kriminelles Wissen. Zum Beispiel, wie man einen Tresor knackt oder Ähnliches. Noch stärker ist aber der Effekt, dass Häftlinge in eine Oppositionshaltung zur Gesellschaft und zum Staat abgleiten, weil man Teil der Gefängnis-Subkultur wird und dort seine Identität findet. Die meisten, die rauskommen, haben eine grosse Frustration, Wut, aber auch Angst. Je länger die Haft gedauert hat, desto grösser ist ihre Angst vor der Freiheit. Manche haben dort niemanden mehr. Meiner Erfahrung nach ist es extrem selten, dass die Menschen die Haft verlassen und im positiven Sinn gestärkt sind. Dass sie also davon ausgehen, es fortan zu schaffen, ein straffreies Leben zu führen. Sie sind im Gegenteil ängstlicher und unsicherer geworden, wissen nicht, was mit ihnen draussen werden soll. Das ist eine schlechte Ausgangslage und nützt der Gesellschaft nichts.
Die Gesellschaft erwartet, dass die Häftlinge im Gefängnis resozialisiert werden, damit die Rückfallgefahr verringert wird.
Die Resozialisierung kam erst vor ein paar Jahrzehnten zur Strafe hinzu, so wie alle zukunftsorientierten Strafzwecke. Aber dieser Gedanke hat nichts am Wesen der Strafe geändert.
Und das wäre?
Dass es einen Automatismus gibt: Je nach Höhe des Unrechts und der Schuld gibt es eine gewisse Anzahl Monate oder Jahre Freiheitsentzug. Weil man irgendwann fand, es sei nicht sinnvoll, die Verurteilten nur ins Gefängnis zu schicken und sie dort ihre Strafen absitzen zu lassen, fing man mit Ausbildung und anderen Massnahmen an. Doch die Zeit, die jemand im Gefängnis verbringt, hat wenig mit Resozialisierung zu tun. Es geht um die Verbüssung von Schuld. Wenn man wirklich resozialisieren und Rückfälle verhindern will, muss man das System ändern, von der Gefängnisstrafe wegkommen.
Mit dem heutigen System gelingt das nicht?
Vielleicht in Einzelfällen, aber nicht für die Mehrheit der Gefangenen. Und wenn es gelingt, dann eher trotz des Gefängnisses und nicht wegen des Gefängnisses. Für die meisten Inhaftierten ist das Gefängnis ein Schuss, der nach hinten losgeht. Es gibt genügend Rückfallstudien, die zeigen, dass die Mehrheit der Inhaftierten später wieder straffällig wird. Das Gefängnis verringert die Kriminalität nicht, im Gegenteil: Die Rückfallgefahr wird vergrössert. Viele gehen in die prekären Zustände zurück, aus denen sie kamen, finden nur mit Mühe eine Wohnung oder einen Job – der Ausbildung im Gefängnis zum Trotz. Das verschlechtert die vorher schon prekären Verhältnisse. Darauf müsste man den Fokus legen und frühzeitig intervenieren. Unser Strafsystem ist ungerecht, weil man an den Verhältnissen, aus denen die Menschen kommen, nichts ändert.
Stammen viele Insassen aus prekären Verhältnissen?
Ja, die grosse Mehrheit der Strafgefangenen kommt aus prekären sozialen Verhältnissen; der Topmanager und der Arzt sind die Ausnahme. Die Gefängnispopulation widerspiegelt die gesellschaftliche Ungleichheit. Viele sind nicht wegen massiver Straftaten in Haft, sondern etwa wegen Betäubungsmitteln und der damit verbundenen Kleinkriminalität. In anderen sozialen Schichten gibt es Menschen, die mit ihrem Handeln einen viel grösseren Schaden für die Gesamtgesellschaft anrichten und nicht in Haft kommen. Sie machen sogar Karriere damit. Ich habe festgestellt, dass mehr als achtzig Prozent der Insassen aus bestimmten gesellschaftlichen Schichten kommen. Weil ich die Hintergründe der Häftlinge kennenlernte, dachte ich oft: «Unter solchen Umständen wäre ich viel schlimmer geworden.» Das hat nichts damit zu tun, dass man die Straftaten rechtfertigt oder bagatellisiert.
Aber es ist doch ein wohltuender Gedanke, dass Straftäter hinter Schloss und Riegel sitzen. Wir fühlen uns geschützt, weil die Bösen eingesperrt sind.
Diese Symbolfunktion der Gefängnisse mag wohltuend sein, sie ist jedoch irreführend. Ich kenne die Innensicht. Die Leute kommen nicht besser aus den Gefängnissen raus, sondern eher schlechter und geschwächt. Mit dem Sicherheitssymbol der Gefängnisse lügen wir uns in die Tasche.
Sie hatten vermutlich ähnliche Gedanken über die wohltuende Wirkung von Gefängnissen, als Sie Ihre erste Stelle im Strafvollzug antraten.
Klar.
Dann haben Sie fünfzehn Jahre lang in leitender Funktion im Gefängnis gearbeitet, in Bayern und in Sachsen, drei Jahre als Gefängnisdirektor. Und irgendwann hat sich Ihre Haltung komplett geändert.
Das war ein langer Prozess. Ich habe Jura studiert und wusste nicht, wohin mit dieser Ausbildung. Ich dachte, dann gehe ich halt zum Staat, da hat man nicht allzu viel Arbeit und einen sicheren Lohn. Das war damals meine Motivation, heute ist es anders. Ich brauchte Geld und ging zum Staat. Es war eine Stelle in der bayrischen Justizvollzugsanstalt Amberg frei. So bin ich da reingeraten. Ich wollte nicht unbedingt in ein Gefängnis oder Leute bestrafen.
Wie muss man sich Amberg vorstellen?
In diesem Gefängnis sitzen die Häftlinge im Durchschnitt für drei Jahre, manche auch lebenslänglich. Ich war für eine Abteilung mit ungefähr 200 Gefangenen zuständig, die teilten sich zu acht einen Haftraum; so nennt man bei uns neuerdings die Zellen. Es gab einen riesigen Drogenmarkt, wir haben die ganze Zeit nur Drogen gesucht, Drogen gefunden und mit Disziplinarmassnahmen reagiert. Ich realisierte schnell, dass die Resozialisierung vor allem etwas ist, was man nach aussen vertreten muss. Oder als Argument einem Gefangenen gegenüber, wenn man etwas ablehnt – einen Aussenkontakt, beispielsweise. Weil es angeblich schädlich für seine Resozialisierung sei. Doch das ganze System hat nicht viel mit Resozialisierung zu tun. Je länger ich in Amberg war, desto öfter habe ich erlebt, dass Gefangene, die entlassen worden waren, wieder zurückkamen.
Anschliessend wechselten Sie in die bayrische Justizvollzugsanstalt Straubing, ein Gefängnis mit der höchsten Sicherheitsstufe.
In Straubing sind 800 bis 900 Gefangene untergebracht, darunter solche mit lebenslangen Strafen oder Verwahrte. Bei einigen wenigen Insassen war ich der Auffassung, ihnen sollte für immer die Freiheit entzogen werden – zum Schutz der Bevölkerung. Aber auch bei diesen Schwerverbrechern muss man hinschauen; woher sie kommen und wie es geschehen konnte, dass sie derart Schlimmes tun. Das kann man nie ganz verhindern, aber es war kein einziger Täter darunter, wo ich das Gefühl hatte, das kam aus dem Nichts.
Wie meinen Sie das?
Derzeit wird in Deutschland das Thema Kindesmissbrauch stark diskutiert, weil einige Fälle publik wurden. Die Politik verschärft nun die Strafe gegen Kinderschänder, doch das wird keine einzige Tat verhindern. Wer so etwas macht und derart gestört ist, dem ist es egal, ob er fünf oder sechs Jahre Gefängnis riskiert. Mit der Gesetzesverschärfung wird dennoch signalisiert, man habe das Problem erkannt, die Gefahr sei gebannt und die Lösung gefunden – obwohl sie nichts bringt.
Wie würden Sie Kindesmissbrauch verhindern wollen?
Ich habe keine Patentlösung. Meine Frau und ich haben Kinder, solche Straftaten belasten uns sehr. Aber auch da: Fast die Hälfte der Kinderschänder wurde als Kind selbst missbraucht. Man muss sich um die Kinder kümmern, nicht höhere Strafen für die Täter einführen. Klar muss man auch mit den Tätern etwas machen. Bei schlimmen Fällen oder bei Wiederholungsfällen könnte ich mir vorstellen, dass ihnen ein Leben lang die Freiheit entzogen wird. Hingegen zweifle ich daran, ob die Zwangstherapien im Gefängnis, wie sie heute durchgeführt werden, viel bringen. Wenn jemand so etwas immer wieder macht, muss man sagen können: «Wir behandeln dich menschenwürdig, aber die Allgemeinheit, vor allem die Kinder, müssen vor dir geschützt werden.»
Sie halten nicht viel von Therapien im Gefängnis?
Ich zweifle sehr an der Therapiegläubigkeit, ebenso am Begutachtungswesen. Die Prognose-Begutachtungen sind schrecklich. Das ist eine Industrie, die Leute verdienen sich dumm und dämlich dabei, das muss auch einmal gesagt werden. Dabei fehlt es an überzeugenden empirischen Hinweisen dafür, dass die Prognosen eine hohe Aussagekraft haben. Für Prognose-Gutachten werden Tausende von Euro ausgegeben. Doch wie soll gutachterlich erfasst werden, wie sich ein Mensch in Zukunft verhalten wird? Das gelingt am ehesten bei Schwerstkriminalität und bei ganz leichter Kriminalität. Dort ist man einigermassen treffsicher. Der weit überwiegende Teil der Fälle liegt dazwischen, im Mittelfeld. Da wäre die Trefferquote höher, wenn eine Münze geworfen würde. Die Gerichte, Juristen, all die Entscheider wollen sich mit der Begutachterei absichern. Und der Gutachter sichert sich ab, indem er im Zweifel von einer Gefahr ausgeht. Dann kann nichts passieren. Man muss also davon ausgehen, dass die meisten Menschen viel weniger gefährlich sind, als sie von gutachterlicher Seite eingeschätzt werden.
Das heisst, wir sperren Menschen auf Vorrat ein.
Ja. Es ist ein Teufelskreis, das kriege ich als Anwalt mit, der Insassen vertritt, die vorzeitig entlassen werden könnten. Jedes Gutachten befindet sich in den Akten, und jeder neue Gutachter bezieht sich auf die alten Gutachten. Das ist irre. Ich habe Klienten, die hatten drei, vier verschiedene Gutachter, und jeder stellte eine andere Persönlichkeitsstörung fest. Dann kommt der Obergutachter und sagt, der Gefangene habe gar keine Persönlichkeitsstörung, aber einer der Vorgutachter …
Aber es ist doch sinnvoll, wenn sich Schwerverbrecher therapeutisch mit ihren Taten auseinandersetzen.
Lassen Sie mich mit einem Beispiel antworten. Es gab in der Justizvollzugsanstalt Straubing einen schlimmen Vorfall. Ein Insasse, der als erfolgreich therapiert galt und damit rechnen durfte, demnächst entlassen zu werden, überwältigte seine Therapeutin. Er nahm sie stundenlang als Geisel gefangen, fesselte, knebelte und vergewaltigte sie. Das entsprach seinem Deliktsmuster, deshalb war er verurteilt worden. In mindestens einem Fall hatte er sein Opfer danach getötet. Das wusste die Therapeutin, sie hatte Todesangst. Dieser Vorfall im Gefängnis führte aber nicht etwa dazu, dass der Glaube an die Therapie infrage gestellt worden wäre. Ich habe die Therapeutin ein paar Jahre später wieder getroffen, und sie sagte mir, der Täter werde in der Anstalt erneut therapiert. Das System macht einfach weiter.
Sie hingegen haben sich entschieden, nicht weiterzumachen. Sie plädieren heute dafür, die Gefängnisse abzuschaffen.
Wenn die Leute einzig diese Schlagzeile lesen: «Gefängnisdirektor will die Gefängnisse abschaffen», dann machen sie zu und sagen, das sei Unsinn. Es beleidige die Opfer, und es sei total unrealistisch, dass dies jemals klappen könnte. Mit solchen Schlagzeilen erreicht man nichts. Vieles von dem, was wir mit den Gefängnissen erreichen wollen, ist sinnvoll. Auch unser Strafbedürfnis, unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit, halte ich für berechtigt. Es geht mir darum, neue und bessere Wege zu finden – ausserhalb der Gefängnisse.
Je nach Grad des Unrechts schlagen Sie unterschiedliche Lösungen vor. Beginnen wir mit den Schwerverbrechern. Was soll mit ihnen geschehen?
Die Grenzen zwischen Schwerverbrechern und anderen Straftätern zu ziehen, ist schwierig. Aber bei jenen Menschen, die sich krass von den Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens entfernt und eine absolute Grenze überschritten haben, muss man sagen können: «Von dir wollen und müssen wir keine Gefahr mehr in Kauf nehmen. Dir wird lebenslang die Freiheit entzogen.» Was aber wichtig ist: Wir müssen auch die schlimmsten Täter menschenwürdig behandeln. Das ist nicht nur ein Verfassungsgebot, das dient uns selber. Wenn man sich die USA oder andere Länder anschaut, wo Gefangene gefoltert oder hingerichtet werden, stellt man fest, dass dies zu einer allgemeinen Verrohung führt, die auf alle abfärbt. Damit tun wir uns keinen Gefallen, «einsperren und Schlüssel weg» senkt die Kriminalitätsrate nicht. Es gibt auch keinen Hinweis dafür, dass die Todesstrafe die Gewaltkriminalität reduziert. Es gibt eher Hinweise auf eine gegenteilige Wirkung.
Und wie sieht eine menschenwürdige Behandlung von Schwerverbrechern konkret aus, denen für immer die Freiheit entzogen werden soll?
Eine Vorbemerkung noch: Auch Schwerverbrecher sind Menschen und haben eine Geschichte, einen Hintergrund. Man sollte sie nicht quälen oder unnötig roh behandeln. Man muss jedoch die Bevölkerung vor ihnen schützen. Für die wenigen Hochgefährlichen würde ich eine gesicherte, dorfähnliche Einrichtung vorschlagen, unter staatlicher Kontrolle und Verwaltung. Innerhalb dieses Gebiets können die Insassen ziemlich selbstbestimmt leben, ohne dass sie einem rigiden Gefängnissystem ausgeliefert sind, auf die Minute genau fremdbestimmt. Natürlich müssten auch ihnen Rechtsmittel offenstehen, es kann ja zu Fehlurteilen kommen. Solche dorfähnlichen Strukturen kämen für die Steuerzahler viel günstiger, denn was passiert jetzt mit dem Serienvergewaltiger, den man kürzlich in Berlin-Brandenburg gefasst hat? Der wird garantiert über Jahrzehnte hinweg engmaschig therapiert. Das wird Millionenbeträge verschlingen, während die Opfer um jede Therapiestunde kämpfen müssen.
Lassen sich solche Dorfgemeinschaften für Schwerkriminelle in dicht besiedeltem Gebiet realisieren?
Das könnte man auf den heutigen Gefängnisarealen umsetzen, das sind riesige Areale. In Straubing gehörte ein Landwirtschaftsbetrieb dazu, alles innerhalb der Mauern. Man könnte diese Grundstücke nehmen und dort neue, kleinere Häuser bauen, in denen vielleicht je fünfzig Menschen leben. Es käme unter dem Strich viel billiger. Man könnte sich die deliktsorientierten Therapien sparen, die Augenwischerei sind. Natürlich müssen die Leute aus gesundheitlichen Gründen therapiert werden, wenn sie an irgendetwas leiden. Aber Pädophile oder Sadisten leiden nicht unter ihren Störungen – die Umgebung leidet. Da muss nicht für Millionen von Euro therapiert werden.
Die meisten Inhaftierten sind keine Schwerverbrecher. Was soll mit ihnen passieren, wenn die Gefängnisse abgeschafft werden?
Ich würde einen Teil der Handlungen entkriminalisieren, vor allem im Bereich der Betäubungsmittel. Konsumenten sollten nicht bestraft und schon gar nicht ins Gefängnis gesteckt werden. Da würde ein schöner Teil der Gefängnisinsassen wegfallen. Dann gibt es viele Bagatelldelikte, wo man sich fragen muss, ob das mit Freiheitsstrafe bestraft werden soll. Bei Vermögensdelikten könnte man sagen, Diebstahl und Betrug bis 500 Euro sind keine Straftat, sondern eine Ordnungswidrigkeit, die mit Busse geahndet wird.
Dann bleiben immer noch andere Straftäter übrig, für die es eine Lösung braucht.
Ich würde weg vom Automatismus des Bestrafens kommen – dass also die Höhe der Strafe einzig an die Höhe der Schuld anknüpft – und eine Zweiteilung der Kompetenzen vorschlagen. Das Gericht soll nur noch darüber entscheiden, ob der Tatbestand erfüllt ist und wie hoch das Unrecht ist. Es stuft die Handlung in eine Unrechtskategorie ein, zwischen schwerer Kriminalität und Bagatellfall. Alles, was nicht schwere Kriminalität ist, landet anschliessend bei einem interdisziplinär zusammengesetzten Gremium. Dort wären die verschiedensten Fachleute vertreten, Sozialarbeiter, Psychologinnen, Leute aus der Gemeinde, das Opfer und auch der Täter. Das Gremium entscheidet über die nötigen Sanktionen und Massnahmen und bleibt zuständig, bis das Delikt aufgearbeitet ist. Es ist auch eine Art von Vollzugsbehörde. Alle sind stimmberechtigt, ausser der Täter. Der sitzt aber mit am Tisch und nimmt an der Auseinandersetzung teil.
Wie könnte ein Schadensausgleich aussehen?
Es muss darum gehen, was dem Opfer helfen würde, was es sich als Schadenswiedergutmachung vorstellt. Sind es finanzielle Leistungen? Sind es Arbeitsleistungen? Soll der Täter bei ihm ein paar Monate lang den Rasen mähen? Manche Opfer wollen nichts mehr mit dem Täter zu tun haben, das ist ihr gutes Recht. Andere wünschen sich Gespräche, einen kommunikativen Prozess, unter der Leitung eines Mediators. Aber es geht nicht nur um die Interessen des Opfers, es geht auch um die Allgemeinheit. Was muss mit dem Täter passieren, damit er nicht mehr kriminell wird? Stammt er aus einem kriminogenen Umfeld, muss er da rausgenommen werden. Bewachte Wohngruppen wären eine Lösung oder Hausarrest mit elektronischen Fussfesseln. Mit dem Täter muss konkret gearbeitet werden. Seine positiven Ressourcen sind zu stärken, die Schwachstellen werden angepackt, aber in einem lebensnahen und realistischen Umfeld, nicht in der fremden Welt einer Haftanstalt. Ein wichtiges Instrument zur Sühne ist die gemeinnützige Arbeit, die aufgewertet werden sollte.
Bei den alternativen Strafen oder Massnahmen wäre der Sühnegedanke noch vorhanden?
Ja, aber er steht nicht mehr im Zentrum. Der Sühnegedanke hat keinen Zweck in sich. Die gemeinnützige Arbeit ist eine Strafe und hat Abschreckungscharakter. Aussenstehende sehen, dass der Täter arbeiten muss, ohne Geld dafür zu bekommen. Er gibt der Gesellschaft etwas zurück, weil er sich zuvor nicht an die Regeln gehalten hat. Das ist null Komma null der Fall, wenn er im Gefängnis sitzt. Davon hat niemand etwas. Und es kostet eine Stange Geld.
Wird bei Ihrem Strafszenario die Rolle der Opfer gestärkt?
Das Opfer hätte Mitgestaltungsmacht, es würde nicht mehr in eine passive Rolle gedrängt. Das hätte eine heilende Wirkung. Die Bedürfnisse der Opfer sind höchst unterschiedlich, und sie ändern sich mit der Zeit. Weil das Gremium, in dem das Opfer vertreten ist, bis zum Ende der Massnahme zuständig bleibt, sind Veränderungen jederzeit möglich. Es bleibt ein Prozess, in dem immer wieder versucht wird, die einzelnen Interessen und Bedürfnisse in Einklang zu bringen. Das heutige System ist viel zu statisch. An einem einzigen Tag werden im Gerichtssaal die Weichen gestellt.
Ihre Vorschläge dürften allerdings kaum Anklang finden.
Doch, das sind ja nicht bloss meine Vorschläge. Solche Ideen gibt es schon lange, und in den Niederlanden oder in Norwegen werden sie teilweise bereits angewandt – mit Erfolg. Eine Mehrheit der Bevölkerung reagiert aufgeschlossen. Das sieht man bei Befragungen in ganz Europa. Bei Vermögensdelikten sagt die weitaus überwiegende Mehrheit, dass es um Schadenswiedergutmachung gehen soll, um den Täter-Opfer-Ausgleich. Gemeinnützige Arbeit wird für viele Delikte als sinnvoller erachtet als eine Gefängnisstrafe. Wenn es um Drogen- oder Bagatellkriminalität geht, sagen fast alle, es ergebe keinen Sinn, diese Leute ins Gefängnis zu stecken. Die Bevölkerung ist weiter, als es unsere Justizsysteme sind. Natürlich gibt es andere Stimmen, doch sie sind in der Minderheit.
Was braucht es denn, damit sich in Deutschland oder in der Schweiz etwas ändert?
Es brauchte einfach einen Justizminister, der sich nicht um seine Wiederwahl kümmert, sondern die Gestaltungsmöglichkeiten ausnützt. Man könnte schnell anfangen. Jedes Bundesland – bei Ihnen wären es die Kantone – könnte eine Struktur von dezentralen Wohngruppen für Kleinkriminelle aufbauen. Es ist mir bewusst, dass man die Gefängnisse nicht von heute auf morgen abschaffen kann. Man muss sie langsam leeren und gleichzeitig die Alternativen ausbauen. Es fehlt nur am politischen Willen.