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In den späten 80er Jahren habe ich 2 Jahre an einer Realschule unterrichtet. Ich hatte in der Klasse einen Schulverweigerer. Er hat wochenlang nur gezeichnet und zwar wandfüllende Bleistiftzeichnungen. Er kam auch mit der Nähmaschine in die Schule und hat Fussballtrikots für seine etwa 30 Plüschtiere genäht. Ich liess ihn gewähren. Heute ist der Mann Professor an einer Kunstakademie in Deutschland. Ich habe mich oft gefragt, ob sein Weg der gleiche gewesen wäre, hätte ich ihm das Zeichnen und Nähen verweigert.
Kaum.
Das wichtigste:
Das Kind annehmen wie es ist.
Beziehung.
Geduld.
Statt Motivation nach aller didaktisch/methodischer Kunst: Das sorgfältige Bewahren der kindlichen Freude am Lernen und Entdecken. (man beobachte wieder einmal Babys und Kleinkinder)
...schulischer Stoff und schulische Abschlüsse können jederzeit auch später nachgeholt werden. Der Weg aus verlorener Lebensfreude, Desinteresse, Angst etc. ist viel länger und steiniger.
Ich habe den Bericht sehr gern gelesen und fühle mit Jim mit - durchaus. Nur: sollen wir wegen Jim, den es schon immer gegeben hat und den es immer wieder geben wird, die Noten abschaffen? Ersetzen? Durch Berichte? Von unschuldigen VolksschullehrerInnen, die, weil längst gschtudiert, auch noch in Psychologie machen können?
Als Mutter, aber auch als ehemalige Primarlehrerin, verstehe ich bis heute nicht, warum es nicht einfach "bestanden/verstanden" und "noch nicht verstanden" gibt, und warum Kinder im Gleichtakt lernen sollten. Das widerspricht doch allem, was man über das Lernen weiss! Es ist ja nicht nur der Notendruck, der die Kinder stresst, sondern auch, dass die Langsamen nicht mehr Zeit bekommen und die Schnelleren Gelegenheit, den Schwächeren zu helfen. Noten in Zahlen durch Noten in Worten à la Arbeitszeugnis zu ersetzen, bringt da natürlich gar nichts. Was es bräuchte, sind andere Strukturen.
Die Unterstufe und Mittelstufe im Kanton Neuenburg funktioniert genau so: Lernziel erreicht/ Lernziel mit Mühe erreicht / Lernziel nicht erreicht. Dazu zweimal im Jahr ein "Qualigespräch" mit dem Kind und seinen Eltern, um den individuellen Lernfortschritt zu besprechen.
Benotung gibt es erst ab der 6. Klasse und man kann beim Übergang gut beobachten, wie sich die Lernmotivation verändert: fortan lernen die Kinder nicht mehr, um den Stoff zu beherrschen (Lernziel zu erreichen), sondern auf die nächste Prüfung und für den Notendurchschnitt.
Ja, wir sollten wegen Schüler*innen, die unter dem Notendruck leiden, davon wegkommen. Berichte sind keine nötig, allerdings gibt es zumindest im Kanton Zürich schon sehr gute kompetenzorientierte Rückmeldungen, die Kindern und Eltern helfen, Entwicklungen zu verstehen – aber keinen Druck erzeugen, weil sie keinen Vergleich erzwingen. Grundsätzlich reicht es aber Kindern Ziele vorzugeben und sie dabei zu unterstützen, diese zu erreichen – so, wie das im Schwimmunterricht gemacht wird.
Noten sind nachweislich sehr ungenau, obwohl sie eine Genauigkeit von einem Zehntel oder Hunderstel vortäuschen. Abgesehen davon, dass sie eine Leistung zu einem bestimmten Zeitpunkt abbilden, welche durch Faktoren wie Prüfungsangst, allgemeiner Gesundheitszustand usw. beeinflusst wird und deshalb nicht der „Durchschnittsleistung“ entsprechen muss, sind Noten sehr stark von der Lehrperson und der Klasse abhängig. Ein normal intelligentes Kind, welches das Pech hat, in eine Klasse mit vielen sehr starken Mitschülerinnen zu kommen, wird leicht zu einem 4,5-Kind und in die Realschule versetzt, währenddem es in einer anderen Klassenzusammensetzung mit gleicher Leistung die Noten 5 und 5,5 nach Hause bringen, später in die Sek versetzt und vielleicht sogar in den Gymer gehen könnte.
Dass Noten je nach dem ungenau, ungerecht, relativ, ... sprich schlecht sind, weiss man, seit es Noten gibt. Und schon immer und auch weiterhin gibt es unter 100 SchülerInnen immer wieder einmal 1, 2 SchülerInnen, die nicht den von der Schule vorgegebenen Weg beschreiten. Wobei nur die erwähnt werden, welche es zu mehr als prophezeit gebracht haben.
So weit so schlecht.
Die wohl einzigen Alternativen sind eine andere Form der Bewertung und/oder gar keine Bewertung. Gar keine Bewertung ist widernatürlich, und eine andere Form der Bewertung, welche auch immer, ist/wäre noch schlechter.
Der Mensch will existentiell (nicht erst, seit es Schule gibt), bewertet werden - das brauchen wir gar nicht erst zu diskutieren geschweige denn zu bestreiten. Nun unterscheiden sich die Noten in genügend, bestanden, ... (4 bis 6, in der CH) und ungenügend / nicht bestanden, ... (1 bis 3). Diese Benotung findet nicht nur in der Schule, sondern immer, überall statt. Kinder, Jugendliche, Erwachsene erleben, ja erheischen sich diese Benotung fortwährend.
Prüfungen:
Unser Leben ist eigentlich nichts anderes als eine endlose Reihe von Prüfungen. Sie schreiben, ich schreibe - und wir benoten uns gegenseitig. So einfach ist das.
Lieber Herr R., danke für Ihren Input. Darüber, ob Noten sinnvoll sind oder nicht, gibt es natürlich diverse Meinungen. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang aber, zu bedenken, dass das Argument gegen Noten sich eben gerade nicht nur darauf abstützt, dass sie für Schüler wie Jim schädlich sind. Philippe Wampfler sagt im Artikel, dass Noten generell ein Stressfaktor für Kinder und Jugendliche sind und zu übermässiger Selbstkritik führen. Und dass sie einerseits bei Kindern, die schlechte Noten erhalten, zu einem schlechten Selbstwert führen. Und andererseits bei Kindern, die sehr gut abschneiden, oft zu einem sogenannten imposter syndrome. Mit freundlichen Grüssen! Bettina Hamilton-Irvine
Keine Angst: Einige Schweizer Kantone haben schon seit vielen Jahren keine Noten mehr und aus diesen Kindern wird auch was.
Guten Abend Herr R., mit Interesse habe ich die verschiedenen Berichte gelesen, kann mich jedoch an dieser fachlichen Aussagen nicht beteiligen.
Als Aussenseiter stimme ich aber Ihren Aussagen in Etwa zu. Ich habe Noten oder Prüfungen meistens als eine positive Erfahrung empfunden, dabei war ich eigentlich ein eher durchschnittlicher Schüler aber eine Bewertung ist doch nicht negativ besetzt. Bewertungen bewusst oder unbewusst sind so natürlich wie das Leben selbst. Wir sollten vielleicht eher versuchen dem Negativen einer Bewertung den Stachel ziehen und lernen auch mit negativem umzugehen und akzeptieren das auch das zum Leben gehört.
An Hand Ihrer negativen Bewertungen (schon wieder wird bewertet) haben Sie sich wohl in ein Wespennest gesetzt:-)
Meine Schwierigkeit liegt darin all diese Probleme der Jugend zu verstehen (bin ja auch kein Psychologe) aber ich könnte mir denken es hat mit uns, mit der Gesellschaft zu tun. Die Vorbilder der Gesellschaft sich unter anderen ja auch die Älteren.
Ein grosser Teil von meinem Leben habe ich in verschiedenen Länder gelebt und gearbeitet, (nicht als Tourist) habe viele Schicksale, Armut und Reichtum gesehen und wie die Leute sich arrangieren und den täglichen Herausforderungen umgehen.
Ich frage mich was wir machen würden wenn wir richtige Probleme hätten, darum meine Schwierigkeit in unser so Guten und Behüteten Schweiz solch eine fast epidemischen Ausbreitung der Problem der Jungen zu hören. Oder ist vielleicht nicht alles so Gut und Behütet??
In manchen Fällen ist genau diese Behütung das Problem, denn wer seinem Kind alle Probleme löst nimmt dem Kind die Möglichkeit, Probleme selber zu lösen, und dadurch Lösungsstrategien auszuprobieren und weiterzuentwickeln, und durch erfolgreich bewältigte Probleme Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aufzubauen.
Wenn die einzige Problemlösungsstrategie des Kindes darin besteht, seine Hilflosigkeit zu inszenieren damit ihm geholfen wird, wird es in der Schule, wo die Bezugsperson ja nicht verfügbar ist, völlig hilflos sein.
Meine Schwester, Heilpädagogin mit langjähriger Berufserfahrung, schätzt dass vor Einführung des integrativen Schulmodells etwa ein Drittel der Kinder wegen Sprachproblemen, ein Drittel wegen Behinderungen, und ein Drittel wegen Überbehütung in der Sonderschule musste (mittlerweile hat sie den Überblick nicht mehr so gut, weil es im integrativen Schulmodell nur noch Regelklassen gibt).
Danke für Ihre Artikel! Es ist so wichtig, dass diese schwierige Situation für Kinder/Jugendliche und deren Eltern endlich mehr Beachtung findet.
(Entschuldigt die Länge des Dialogbeitrags. Ich schreibe aus eigener Betroffenheit)
Es ist richtig, dass es für psychische Probleme meistens mehrere Faktoren braucht. Ich schreibe hier aus dem, für mich in meinem beruflichen Umfeld 1:1 beobachtbaren Faktor: der Schule.
Im Gegensatz zu persönlichen Traumata oder genetischen Ursachen hätte es die Gesellschaft hier in der Hand aktiv gegen Missstände vorzugehen. Aber es würde halt etwas kosten… (siehe im Link die Grafik zu den Ausgaben für Bildung in verschiedenen Ländern)
Ergänzend zu meinem Beitrag unter Anonym 5 im ersten Teil, möchte ich noch weitere Themen zur Diskussion bringen.
Bereits vor zwei Jahren, also vor der Pandemie wollte sich ein Oberstufenschüler:in aus einem der Schulhäuser an welchen in tätig war am gleichen Tag zweimal das Leben nehmen. Zum Glück konnte er/sie aus beiden Situationen gerettet werden.
Grund: er/sie ist in der Klasse durch starke Schweigsamkeit und Schüchternheit aufgefallen (eher in Richtung selektiver Mutismus) Dies reizte einige in der Klasse ihn/sie durch Cybermobbing auf schlimmste Weise bloss zu stellen. Die Bilder kursierten mindestens in zwei Oberstufenschulhäusern.
Zwei weitere Kinder (aus anderen Schulgemeinden) wurden in der gleichen Zeit (also vor der Pandemie) wegen Mobbing und Beschämung vor der Klasse aus der Schule genommen und zu Hause weiter geschult. Lispeln und schwere Spracherwerbstörungen waren Auslöser. Als der eine Schüler:in nach einem erholsamen Time out in der Oberstufe wieder eingeschult werden sollte, ging es keine zwei Monate, bis er/sie wegen suizidalen Gedanken/Äusserungen in die psychiatrische Tagesschule überwiesen werden musste. (Wenig verständnisvolle Lehrer:innen, die von Anfang an bei der Wiedereinschulung starken Druck sowohl auf den Schüler:in, wie auch auf die Eltern ausübten, obwohl sie von der Schulpsychologin vorbereitet wurden)
Kinder und Jugendliche können untereinander extrem brutal sein. Schon kleinere Abweichungen in Aussehen, Verhalten oder Fähigkeiten können zu Mobbing, Blossstellung und Ausgrenzung führen. (Randbemerkung: wie gehen wir als Gesellschaft mit Diversität um, welche Vorbilder erleben die Schüler? Mit welchen Vorbildern/Normen vergleichen sie sich selber? Insbesondere auch medial?) Gehänselt wurde schon früher. Heute gibt es jedoch diverse viel perfidere Möglichkeiten.
Ein weiterer Missstand: der chronische Lehrermangel wäre keiner, wenn man die schon heute ausgebildeten Lehrpersonen in der Schule halten könnte. (siehe Situation in der Pflege) Als Beispiel die Erzählung einer jungen Sekundarlehrerin, die auch nur noch ein kleines Pensum unterrichtet: (2021, drei Jahre nach Studienabschluss), die KollegInnen aus ihrem Studiengang haben zu einem grossen Teil nach dem ersten Unterrichtsjahr ihre Lehrtätigkeit aufgegeben, die restlichen fast alle bis nach drei Jahren. (keine Ausnahme leider)
Heute morgen im Regionaljournal: In Bern fehlen auf nächstes Schuljahr noch 500 Lehrpersonen, obwohl bereits jetzt jede 10. Lehrperson über keine pädagogische Ausbildung verfügt. (schweizweit leider keine Ausnahmeerscheinung. z.T. übernehmen Quereinsteiger anscheinend nach 3 Stunden Einführung!)
Vor zwei Tagen:
https://www.nau.ch/politik/bundesha…t-66175619
Trotz des Mangels an Fachkräften haben vor einem Jahr alle freischaffenden Logopäd:innen einen lapidaren Brief vom Kanton erhalten, dass externe Therapien nicht mehr bezahlt werden. Meine Praxiskolleg:innen haben seit 25/30 Jahren eine eigene Praxis…
Was heisst dies nun für die Eltern und die betroffenen Kinder mit Mutismus, schweren Sprach- und Spracherwerbsstörungen, Hörbeeinträchtigungen, Lispeln, die eh schon unter ihren Beeinträchtigungen leiden:
Sie müssen neu in der öffentlichen Schule betreut werden. Statt zwei volle Stunden Therapie pro Woche wie bis jetzt, wenn sie Glück haben, noch 45 Min. bei einer ausgebildeten Logopäd:in. Immer häufiger jedoch bei einer unausgebildeten Hilfskraft, welche von ausgebildeten Logopäd:innen betreut, angelernt und unterstützt werden muss – was wiederum deren Stress massiv erhöht.
Das gleiche Bild in den Regelklassen. Wie sollen so eh schon psychisch belastete Situationen adäquat aufgefangen werden? Wie soll unausgebildetes Personal mit solcherart herausfordernden Situationen klarkommen, wenn schon ausgebildete Lehrpersonen immer öfter an Grenzen kommen?
Wir als Gesellschaft hätten es in der Hand wenigstens da Abhilfe zu schaffen. Was ist uns das wert?
Erstmal Danke für die beiden guten Beiträge.
Seit ich das erste Mal von generationenübergreifendem Trauma gehört habe, machten die Probleme in meiner Familie viel mehr Sinn. Meine Schwestern und ich hatten alle psychische Probleme, die in der Kindheit starteten. Und durch das, was ich von der Kindheit meiner Mutter und ihrer Mutter weiss, sind da definitiv Traumata vorhanden. Diese haben eben zu diesen, im Text beschriebenen, passiven Bewältigungsstrategien geführt. Alle drei Kinder hatten zwar eine sehr enge Beziehung zu unserer Mutter, aber diese Beziehung war nicht wirklich gesund. Sie versuchte zu helfen, wo sie konnte, in dem sie uns so gut wie möglich auffing, aber da sie selber keine guten Strategien zur Bewältigung von schwierigen und belastenden Situationen hatte, konnte sie uns nur ihre eigenen Wege beibringen mit der Welt umzugehen. Bei Sitzungen am Familientisch (inklusive Vater), wenn etwas sehr dringend war, drehten wir uns oft im Kreis und zurück blieb vor allem ein Gefühl der Hilfslosigkeit.
Als ich 16/17 war, habe ich schliesslich darauf gedrängt psychologische Hilfe zu bekommen. Ich ging in eine Jugendklinik und kurz darauf tat dies auch meine jüngste und dann die mittlere Schwester. Es dauerte einige Jahre, bis wir alle einen besseren Weg gelernt haben, mit den Dingen in und um uns umzugehen. Und auch jetzt, 10+ Jahre später, sind noch Probleme offen. Jedoch sind wir alle soweit, dass wir wissen, was geschieht und wieso, und können dies hoffentlich an die nächste Generation so weitergeben, wenn es mal soweit ist.
Das war jetzt ein sehr persönlicher Blick auf das offene Problem der psychischen Gesundheit von Kinder und Jugendlichen.
Deshalb bin ich auch stark für bessere und frühere Möglichkeiten solche in Kindern zu erkennen und aufzufangen. Aber vor allem auch für Sensibilisierung der Allgemeinheit, denn gerade in den ärmeren oder ungebildeteren Familien ist das Verständnis oft kleiner und das Misstrauen gegenüber Hilfe grösser.
Liebe:r Anonymous, vielen herzlichen Dank für das Teilen dieser sehr persönlichen Erfahrung und Ihrer Gedanken.
Ich danke für ihren Artikel.
Dazu ein altes schwedisches Sprichwort:
Das Kind hat drei Lehrer: der erste sind die anderen Kinder, der zweite ist der Raum dazu und der 3. ist der Lehrer.
Was braucht es, dass auch die neuen Schulen entsprechend gestaltet und mit Inhalten gefüllt werden? Wann werden Noten ersetzt durch Lehrbausteinen und Projekte?
Der politische Willen das Schulsystem / die Schulsysteme wieder zu stärken (Die Tendenz ist eher umgekehrt).
Den Respekt für die Berufsgattung der Lehrerinnen, Schulpsychologen, Jugendarbeiterinnen etc. steigern. (Ich höre und spüre ein grosses Misstrauen in unserer Gesellschaft ggü. diesen Berufen)
Geld, Geld, Geld. (Oder wir gehen in die Richtung Schulsystem die wir aus dem angelsächsischen Raum kennen - Nur wer sich gute Bildung leisten kann, kriegt auch welche).
Das alles könnte helfen Lehrpersonen wieder mehr Zeit und Ausdauer zu geben, auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einzugehen und der düsteren Entwicklung im Artikel entgegenwirken zu können. Zusätzlich zeigt die Zahl der unbesetzten Stellen von Lehrpersonen in die falsche Richtung.
Editiert: Formatierungsfehler
Was mich während des ganzen Artikels beschäftigte, genau so wie während der Berufszeit, war "die Norm" als Massstab. Was ist die Norm in einer Gesellschaft?
Bei uns in der Schweiz ein Nachkriegsmittelstand, es ging immer aufwärts, keine Erinnerung an Krisen, Bedrängnis, bedrohliche Krankheiten, Armut. Aus dieser Gesellschaftsschicht kommen viele Lehrpersonen. Die allermeisten waren gute Schüler:innen.
Arm sind die Versager, auch wer etwas Schlimmes erlebt hat in der Familie ist irgendwie selber schuld. In letzter Zeit wird die Schule nicht nur mit den Kindern, auch mit dem Personal, diverser.
Die klare Vorstellung, was die Norm ist, wie ein normaler Mensch funktionieren muss, ist sehr falsch und hat nichts mit dem wirklichen Leben und den Menschen mit ihren weit zurückreichenden Geschichten zu tun. Wahrscheinlich sollten noch etliche Lehrbücher kritisch unter diesem Aspekt betrachtet werden. Und zuallererst braucht es einen neuen Blick für die jungen Menschen, die meistens freudig und lernbegierig in die Schule eintreten. Diese Freude und Lernbegierde ist der Leitfaden, der nicht abreissen sollte.
Es ist nicht so wichtig, was gelernt wird, sondern dass die Fähigkeit zu lernen nicht versiegt.
Tief betroffen lese ich die Geschichte von Jim und seiner Mutter Dao.
Als Logopädin arbeite ich jede Woche mit Kindern, welche von selektiven Mutismus betroffen sind. Die Geschichte von Jim hat einen von mir aus gesehen üblichen Anfang und dann eine unübliche, für Jim und seine Mutter (und wahrscheinlich für das ganze Familiensystem) dramatische, traurige und gefährliche weitere Entwicklung genommen.
Üblich daran ist, dass selektiv mutistische Kinder in ihrem Umfeld sprechen, wobei es bereits auch da grosse Unterschiede gibt, mit wem genau gesprochen wird
Nach einer oft nicht speziell auffälligen ersten Sprachentwicklung, kommt mit einer grossen Veränderung, wie z.B. dem Eintritt in den Kindergarten (es kann aber auch eine andere grosse Veränderung sein) eine Anforderung auf das Kind zu, der es im Moment nur mit Schweigen begegnen kann. Im Kindergarten fallen diese Kinder natürlich auf und das ist auch gut so, weil hier eine Fachperson dazugeholt werden kann und muss.
Selbstverständlich werden die Eltern des betroffenen Kindes von Beginn an einbezogen und informiert. Dazu sind wir als Fachpersonen verpflichtet.
Es geht in der Folge zuerst darum, das Kind und seine Eltern im Rahmen einer Abklärung kennenzulernen und zu beraten. In meiner Erfahrung sind Eltern immer froh, um diese Gespräche und meistens stimmen sie einer logopädischen Therapie im Kindergarten oder Schulrahmen zu. Oft genügt das bereits, dass betroffene Kinder Mut und Zutrauen fassen und zu sprechen beginnen.
Es gibt auch Kinder, welche zusätzlich psychologische Hilfe brauchen. Auch das wird von der Schule über entsprechende Abklärungen angeboten und / oder aufgegleist.
Selektiver Mutismus ist eine sehr ernsthafte Entwicklung im Leben eines Kindes und seines Umfeldes. Auch als Fachperson kann man nicht wissen, wie lange es dauern wird, bis der / die Betroffene zur lausprachlichen Kommunikation findet.
Während der ganzen Zeit ist professionelle Hilfe angezeigt, Kinder und Eltern müssen begleitet und aufgefangen werden. Es muss alles für die Entwicklung von Resilienz unter besonderen Umständen getan werden. Sekektiver Mutismus verschwindet nicht von selbst.
Unüblich - aus meiner Sicht - ist, dass im Kindergarten nicht mehr insistiert wurde, dass eine Fachperson sich Jim und seiner Mutter annimmt. Gab es überhaupt eine Logopädin in der Gemeinde?
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass diese tragische Geschichte sich nicht wiederholen muss, dass einerseits die Hilfe, welche da ist angenommen wird, dass Eltern aufgezeigt wird, dass es Fachpersonen für das Problem ihres Kindes gibt und dass eine breitere Öffentlichkeit mehr über den selektiven Mutismus erfährt.
Gerne verweise ich hier auf die Page von Mutismus Schweiz: https://www.mutismus-schweiz.ch
Vielen herzlichen Dank, Frau B., für diese Gedanken!
Leistungsdruck? Notenstress? Noten als Motivationsinstrument? Meine Erfahrung war ganz anders.
Dabei hatten meine Eltern durchaus konkrete Erwartungen im Bezug auf die Schule. Aber diese Erwartungen bezogen sich auf mein Verhalten, nicht auf Ergebnisse. Schien ich demotiviert folgte beispielsweise ein langer Vortrag über das Privileg, eine Schule besuchen zu dürfen, den ich auch Jahrzehnte später fast Wort für Wort wiedergeben könnte :-). Und eine zeitnahe und gewissenhafte Erledigung der Hausaufgaben war ihr wichtig. Noten hingegen wurden achselzuckend zur Kenntnis genommen, und mussten schon sehr schlecht oder sehr gut sein um überhaupt eine Reaktion auszulösen (Standardspruch: "Du lernst nicht für die Schule, du lernst für das Leben"). Entsprechend waren Noten mir nie wichtig.
Und irgendwie wurden die Noten immer besser. Eher schwach in der Unterstufe. Mittelmässig in der Mittelstufe. Gut in der Sekundarschule. Jahrgangsbester im Gymnasium. Erster Universitätsabschluss in der ganzen Verwandtschaft.
Und das alles weitgehend stressfrei.
Weil mir meine Eltern, statt einfach Leistung zu fordern, gezeigt haben wie und wieso man lernt.
Und so wundere ich mich, dass Notenstress als ein Problem der Schule, aber nicht als Problem der Eltern wahrgenommen wird.
Ich finde es nicht gerecht, Notenstress allein auf die Eltern zu schieben. Insbesondere in der Oberstufe wird da ein massiver Druck aufgebaut, sobald es um den Abschluss und das Finden einer Lehrstelle geht.
Uns geht es als Erwachsene ja gar nicht anders. Der Leistungsdruck ist insbesondere in kompetitiven Berufsfeldern auch bei uns hoch und die Angst vom Versagen treibt unzählige zu Meisterleistungen, welche leider oftmals in einem Burn-out enden.
... und genau deshalb ist es wichtig, dass Eltern ihren Kindern Techniken vermitteln, mit Druck umzugehen, statt selber unnötig Druck aufzusetzen.
"Es wird massiv Druck aufgebaut" - es ist genau diese passive Formulierung, die mich inne halten lässt. Wer baut Druck auf? Wie wird dieser Druck vermittelt? Über welchen Hebel verschafft er sich Zugang zur Psyche des Kindes? Und wie könnte das Kind damit sinnvoll umgehen? Wer alle diese Aspekte ausblendet hat eine sehr eingeschränkte Sicht auf das Problem, und beraubt sich wertvoller Handlungsoptionen.
So ist es ja nicht ein blosses Unvermögen, das als belastend empfunden wird. Ich habe zum Beispiel eine furchtbare Handschrift. Erfüllt mit deshalb der blosse Anblick eines Kugelschreibers mit Panik? Nein. Panik ist ein Gefühl. Wovor sollte ich Angst haben? Inwieweit ist es schlimm, wenn ich das jetzt nicht kann? Wenn ich das für meine Ziele nicht können muss, es meine wichtigen Bezugspersonen nicht von mir erwarten (oder mir verzeihen würden, wenn ich es nicht kann), ich es später noch lernen kann, jemand anders darum bitten kann, jemanden dafür bezahlen kann, das Problem mit technischen Mitteln lösen kann (für die Handschrift: Computer sind super), das Problem sonst irgendwie umgehen kann, oder einfach meine Ziele ändern kann, muss mich das überhaupt nicht ängstigen. Und bei neuen Problemen: Vielleicht könnte ich es, wenn ich es anders anpacke? Vielleicht könnte ich es unter anderen Umständen? (ausgeruht, nicht hungrig, nicht überhitzt, nicht abgelenkt, ...)?
Ausgerüstet mit einer solchen Vielzahl an Bewältigungsstrategien sind Herausforderungen in der Schule und anderswo Gegenstand kreativer kollaborativer Problemlösung statt Panik.
Wer Herausforderungen hingegen amorph externalisiert ("wird massiver Druck aufgebaut") kann damit nur Scheitern rechtfertigen, aber das Problem nicht lösen. Und genau deshalb ist es so erschreckend, dass viele Kinde ihre Belastungen nicht identifizieren können. Denn das zeigt, dass sie keine Idee (mehr) haben, was sie tun könnten. Und dann ist Angst und Panik absolut verständlich.
Mir ist klar, dass nicht alle Eltern perfekt sind oder ihre Rolle unter perfekten Umständen ausüben. Aber wenn von Noten als Motivation die Rede ist läuft meines Erachtens etwas völlig schief, und ich wollte mit meinem Werdegang darauf hinweisen, dass solche Methoden für gute schulische Leistungen weder notwendig noch hinreichend sind.
Ich weiss nicht, ob noch ein Teil 3 der Reportage folgt. Aber die Wichtigkeit einer früh genug einsetzenden und sorgfältig abgestimmten ambulanten Behandlung, die je nach Schweregrad der Erkrankung halt auch langfristig und immer entwicklungsorientiert angelegt werden sollte, ist herauszustreichen, lange bevor stationäre und teilstationäre Massnahmen in Anspruch genommen werden müssen. Und auch hier ist die Versorgungslage - insbesondere im Kinder-und Jugendbereich - prekär und führt deshalb zu einer Zunahme an psychiatrischen Hospitalisierungen. Es kann oft sehr viel erreicht werden mit einer ambulanten Behandlung und es lassen sich Chronifizierungen vermeiden bzw nachhaltige Stabilisierungen erreichen. Es wäre eine vergebene Chance, wenn dies bei einer Reportage über psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nicht thematisiert würde. Stationäre und teilstationäre Massnahmen sind nur ein Baustein einer Behandlung und kommen in der Regel dann zum Zug, wenn das ambulante Angebot nicht ausreicht. In den zwei bisherigen Beiträgen könnte der Eindruck entstehen, wie wenn die (teil) stationären Angebote „die Behandlung“ darstellen würden. Dies ist nicht der Fall.
Irgendwie habe ich Mühe diese Downvotes hier nachzuvollziehen...
Etwas fällt mir in diesem Dialog zum 2. Teil auf: Bei einem Thema rund um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, völlig überlasteten Kliniken und ambulanten Therapien (was uns alle aufrütteln sollte) drehen sich hier fast die Hälfte der Beiträge um eine Diskussion über die "richtige" Bewertung und Benotung von Schülern...
Das schlimmste daran: Es erstaunt mich nicht.
Am allerersten Elternabend der ersten Primarschulklasse war die Vorbereitung auf das Gymnasium schon das Hauptthema. Damals erstaunte mich das sehr. Leider bin ich aus dem Staunen nie herausgekommen, da die Tendenz das Gymnasium als Tor zum Glück zu betrachten nicht abgenommen hat. Und der Weg zum Glück geht scheinbar über Noten!
Aus meiner Sicht ist das Wichtigste, das Menschen und Menschenkinder gehört und gesehen werden. Wie auch im Artikel erwähnt wird, kann schon EINE enge und liebevolle Bezugsperson viel zur Resilienz beitragen.
Zurück zu den Noten: Da wir alle einmalig sind, kommt mir "Bewertung" durch Vergleich mit anderen untauglich vor.
Sehr guter Beitrag, der sehr gute Denkanstösse gibt.
Ich sehe folgendes Dilemma:
Es wurde richtig erkannt, dass viele Eltern ihren Kindern die Steine aus dem Weg räumen, was deren Resilienz wohl reduziert, da sie daran gehindert werden, gute Problemlösungsstrategien zu entwickeln.
Dann aber wegen den Schulnoten: Inwiefern ist es da hilfreich, die Noten abzuschaffen, wenn die Kinder später im Erwachsenenleben praktisch täglich bewertet werden?
Wenn es um eine Diskussion geht, wie die zukünftigen Bewertungsmodelle aussehen könnten, um zb. indivuelle Stärken besser hervorzuheben, bin ich offen. Trotzdem braucht es auch eine Referenz, um diese Stärken und Schwächen für den späteren Berufseinstieg zu vergleichen.
Stimmt es denn, dass man im Erwachsenenalter praktisch täglich bewertet wird? Beziehen sie das aufs Berufsleben oder darauf, dass Menschen oft sehr wertend denken? Meine Erfahrung im Berufsleben ist sehr anders, aber ich bin sicher auch sehr privilegiert und mir bewusst, dass es Jobs gibt, wo zB täglich gemessen wird, wie viel man schafft. Dass wir Menschen über uns selber und andere oft sehr hart urteilen sehe ich als Problem und die Schule auch ein Ort, wo man dies leider lernt. Wir kreieren also hier auch das System mit, weil wir denken, unsere Kinder auf dieses System vorbereiten zu müssen und verpassen damit eine Chance. ZB die Chance, dass Kinder sich intrinsisch leiten lassen und von sich aus lernen wollen (was mit der Zeit abhanden kommen kann).
Ich habe im Gymi nach Jahren mit super Noten gemerkt, dass ich mich ja total nach dieser Bewertung ausgerichtet habe. Die Noten ziehen den den Fokus auf eine bestimmte Auswahl von Fähigkeiten. Ich habe dann gemerkt, dass ich meine musische Seite total vernachlässigt habe und zusammen mit anderen ein Musical geschrieben und aufgeführt. Dabei hab ich so viel Wertvolles gelernt und gemerkt, dass mich Projektarbeit interessiert. Meine nicht mehr so glanzvollen Noten haben später keinen interessiert.
Dann folgte eine Ausbildung, die in der Schweiz nicht anerkannt ist, was mir oft sorgenvoll gesagt wurde während dem Studium. Meine Erfahrung war aber, dass Arbeitgeber*innen diese hochspannend fanden und ihnen die Anerkennung oder Nicht-Anerkennung voll egal war. Was will ich damit sagen? Manchmal ist das Ausbrechen aus dem System einfacher als gedacht. (Aber natürlich bin ich mir bewusst, dass ich auch viele Privilegien und Ressourcen habe, die nicht allen zur Verfügung stehen.) Und noch viel besser wäre, wenn man gar nicht ausbrechen müsste. Aber es ist mal ein Anfang.
(Entschuldigt, ich bin etwas abgedriftet vom Artikelthema - das Thema mit den Noten hat mich gepackt).
Dieser Artikel lässt mir keine Ruhe. Es werden Ursachen genannt für das gravierende Problem der Jugendlichen in der Schweiz. Nur einmal jedoch wird von Michael Elpers auch das gesellschaftliche Umfeld als krankmachender Faktor genannt.
Die jungen Menschen haben zu tun mit Klimawandel, Krieg, Pandemie, falsche Zielsetzungen in der Bildung, Strukturen die zum Alkohol-und Drogenmissbrauch und Gewalt einladen. (Als Beispiel einer solchen Struktur: Die Riviera Meile in Basel). Der Tag wird zum Nacht gemacht und umgekehrt.
Elpers ist überrascht wie die meisten Kinder sehr resilient sind, trotz grosse Lasten die sie tragen.
Chefärztin Pauli jedoch wagt es von betroffenen Jugendlichen zu sagen: „ Viele haben nie gelernt, wie man ein Problem löst oder eine Krise bewältigt. DIE STRATEGIE DIE SIE SICH ZUGELEGT HABEN, IST VIELMEHR:
ES GEHT MIR SCHLECHT, ALSO WERDE ICH SUIZIDAL.“ Usw……..
Diese Denkart kann ich nicht nachvollziehen. Es spricht weder Verständnis noch Herz noch Vertrauen präventiv etwas bewirken zu können aus solchen Aussagen. Kurzum : mir fehlt hier Einfühlsamkeit, Liebe und Respekt.
An einer anderen Stelle im Artikel wird darauf hingewiesen, dass eine Beziehung zu Lehrern und andere Bezugspersonen motivierend wirkt. Eine Erfahrung die auch Jim‘s Mutter machte mit einer der Lehrern.
Ich hoffe bald einen Beitrag zu lesen wie gute Pädagogik aussieht. Gute Pädagogen könnten den Psychologen und Psychiater einen Teil der Arbeit abnehmen.
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