Jugend und Psyche – Teil 2

«Ich sah in Jim mich selbst. Es war wie ein sich wieder­holender Albtraum»

Kinder erben nicht nur Gene – sondern manchmal auch Belastendes aus der Vergangenheit. Wie sie trotzdem resilient werden können. «Jugend und Psyche», Teil 2.

Von Marah Rikli (Text) und Masha Krasnova-Shabaeva (Illustration), 17.05.2022

Synthetische Stimme
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Ich bin ängstlich und scheu, weil in mir etwas von diesem Gespenster­haften sitzt, das ich niemals loswerde. Aber fast glaube ich, dass wir alle eine Art von Gespenstern sind. Nicht nur das, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, lebt weiter in uns. Da gibt es noch alle möglichen alten, abgestorbenen Meinungen, abgestorbenen Glauben und so etwas.

Henrik Ibsen: «Gespenster», 1881.

Dao, 35 Jahre alt, über ihren Sohn Jim, heute 15 Jahre alt (beide Namen zu ihrem Schutz geändert): «Jim mochte andere Menschen nie besonders, auch keine Gruppen oder laute Orte. In der Öffentlichkeit war er immer zurück­haltend und sprach selten mit jemandem. Zu Hause sortierte er gerne Dinge, ordnete diese immer wieder neu und beschäftigte sich am liebsten mit Zahlen. Weil er trotzdem Freunde hatte und regelmässig draussen mit den Nachbars­kindern Fussball spielte, machte ich mir nicht zu viele Gedanken.

Das begann erst, als er in den Kinder­garten kam und die Kinder­gärtnerin sich besorgt zeigte über Jims Zurück­haltung. Sie schilderte mir in einem Eltern­gespräch, dass er in der Gruppe den ganzen Tag stumm bleibe, kein einziges Wort sage. Zu Hause hingegen redete er wie ein Wasserfall. Sie wollte ihn daher bei einer Psychologin abklären lassen. Ich hingegen hatte Bedenken, dass er durch eine mögliche Diagnose schubladisiert würde, und wollte ihm lieber noch mehr Zeit geben, im Schul­alltag anzukommen. Zum Glück erkannte damals seine Kinder­gärtnerin, wie intelligent Jim ist, und zwang ihn nicht, sich zu öffnen, und mich nicht, ihn abzuklären. So hatte er zwei schöne Jahre.

Als er in die 1. Klasse kam, änderte sich die Stimmung. Jim musste in die vorderste Reihe sitzen und stand plötzlich unter Dauer­beobachtung, was für ihn Stress pur bedeutete. Weil Jim so wenig redete, stellte der Lehrer ihn immer wieder vor der Klasse bloss. Er lachte ihn aus, wenn er nicht auf seine Fragen antwortete. Ich wusste bis zu jenem Zeitpunkt nicht, dass es solche Lehr­personen heute noch gibt. Durch das Verhalten des Lehrers wurde Jim noch schweigsamer, er zog sich immer mehr zurück.

Die Situation eskalierte, als der Lehrer vor der Klasse erklärte, Jim müsse zurück in den Kinder­garten, weil er sich nicht genug bemühe. Da nahm ich Jim für ein paar Wochen aus der Schule und unterrichtete ihn selbst. Ich bin aus Thailand, auch Jims Vater ist Thailänder, und ich vermute bis heute, dass das Verhalten des Lehrers rassistisch motiviert war. Er involvierte mich viel zu spät, traute mir kaum Erziehungs­kompetenz und psychologisches Wissen zu und Jim keinen hohen Intelligenz­quotienten.»


Gemäss dem Nationalen Gesundheitsbericht 2020 gibt es zwar keine repräsentativen Erhebungen zu psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Fachpersonen gehen dennoch davon aus, dass etwa jedes 5. Kind in der Schweiz von einer psychischen Störung betroffen ist, gut die Hälfte wird bis zum 18. Lebensjahr einmal behandlungs­bedürftig. Eine neue Unicef-Studie schlägt insbesondere bei den Jugendlichen Alarm: Gemäss dieser ist ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen in der Schweiz und in Liechtenstein von psychischen Problemen betroffen. Im Pandemie­sommer 2021 waren es sogar nochmals mehr: 47,1 Prozent der Befragten schätzten ihre psychische Gesundheit nämlich schlechter ein als vor der Pandemie.

Unicef schreibt dazu weiter: «Jeder elfte befragte Jugendliche hat schon versucht, sich das Leben zu nehmen. Um die psychische Gesundheit von Jugendlichen nachhaltig zu stärken, braucht es vor allem Investitionen in die Sensibilisierung und Prävention.»

Doch warum werden Kinder krank?

Die Frage nach den Ursachen treibt viele Eltern stark um. Einige Ursachen sind dabei schwer erkennbar, und die Wissenschaft beginnt erst, sie zu erforschen. Dazu gehören die Genetik und insbesondere Traumata, die nicht die Betroffenen selbst erlebten – sondern ihre Vorfahren. Andere Ursachen sind offensichtlicher: ein schwieriges Familien­umfeld, sexuelle, physische oder körperliche Gewalt, eine Krankheit, der Verlust einer nahestehenden Person. Oder Schuldruck.

Prüfungen, Hausaufgaben oder Streit in der Klasse bedeuten für viele Kinder Stress. Ob sie die Schule als sicher und motivierend erleben oder als bedrohlich und belastend, hängt massgeblich von den Beziehungen zu den Lehrern und anderen Betreuungs­personen ab.

Auch Kinder und Jugendliche, die psychiatrische Betreuung brauchen, nennen sehr oft den Schulstress als Belastungs­faktor. Das sagt Dagmar Pauli, Chefärztin für Kinder- und Jugend­psychiatrie an der Psychiatrischen Universitäts­klinik Zürich.

Jugend und Psyche

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Schweiz ist seit Jahren chronisch überlastet. Die Situation hat sich während der Pandemie noch einmal drastisch verschärft. Was bedeutet der Notstand konkret für die Betroffenen? Zur Übersicht.

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Die Geschichte von Dao und Jim

Stress ist schädlich für Kinder und Jugendliche – und er kann auch psycho­somatische Beschwerden auslösen, wie Kopfweh, Bauchweh, Schwindel oder Appetitlosigkeit. Stress kann auch zu dauerhaften Ängsten und Lustlosigkeit führen, zu Nieder­geschlagenheit und Traurigkeit – alles auch mögliche Symptome einer Depression.

Trotzdem gehört Stress für viele Menschen in der Schweiz zum Alltag. Gerade während der Pandemie fühlten sich viele junge Menschen stark unter Druck, der Schul­stress galt dabei als gewichtigster Sorgenfaktor.

Doch bereits 2015 ergab eine Studie der Jacobs Foundation, dass fast die Hälfte der Jugendlichen in der Schweiz häufig bis sehr häufig Stress empfinden und über die Hälfte der Jugendlichen bei ihrer Ausbildung oder Erwerbs­tätigkeit häufig bis sehr häufig unter Leistungsdruck leiden. Fachpersonen waren damals vor allem beunruhigt, weil die meisten der befragten Schüler angaben, sich diesen Druck selbst aufzuerlegen. Anscheinend können viele jungen Menschen Stress­quellen nicht benennen und sehen daher die Verantwortung dafür bei sich.

Wenn Schulnoten krank machen

Dass sich so viele Kinder und Jugendliche gestresst fühlen, wirft bei Chefärztin Pauli diverse Fragen auf: «Kann es sein, dass der zunehmende gesellschaftliche Perfektions­druck auf sie abfärbt? Haben sie Angst, den eigenen Ansprüchen nicht mehr genügen zu können? Und vor allem: Wie muss sich die Schule verändern, um Jugendliche gezielt zu unterstützen und Stress abzubauen?»

Zunehmend stehen auch Schulnoten, die hohen Anforderungen bei der Lehrstellen­suche oder Aufnahme­prüfungen unter Verdacht, Kinder und Jugendliche psychisch zu belasten. Damit beschäftigt sich unter anderem der Gymnasial­lehrer und Kultur­wissenschaftler Philippe Wampfler. In seinem Buch «Eine Schule ohne Noten» schildert er, dass Noten bereits für Kinder in der Primar­schule frustrierend sein können. Und er sagt: «Ich kenne Erwachsene, die haben bis heute Traumata deswegen oder Angst, zu versagen.»

Noten seien generell ein Stressfaktor für Kinder und Jugendliche, sagt Wampfler: «Bei Lernenden, die schlechte Noten erhalten, führen Noten oft zu Frustration und einem schlechten Selbstwert. Und bei leistungs­orientierten Kindern zu einem sogenannten imposter syndrome – dem Hochstapler-Syndrom.»

Menschen, die unter einem solchen Syndrom leiden, haben ständig Angst, zu versagen oder als unfähig und unwissend entlarvt zu werden. Sie verausgaben sich daher im Beruf oder in der Schule so stark, dass manche an einem Burn-out oder einer Depression erkranken.

Noten würden Kinder viel zu selbst­kritisch machen, sagt Wampfler. Sie hätten etwa das Gefühl, eine gute Note sei nur durch Glück entstanden oder sie stehe ihnen eigentlich gar nicht zu. «Die Vorstellung, Noten würden junge Menschen motivieren, ist absurd: Sie verengen den Fokus und verunmöglichen es Lehrenden wie Lernenden, ganzheitlich über Lern­prozesse nachzudenken.» Zudem rückten durch den starken Fokus auf Noten andere Faktoren in den Hinter­grund, die für die psychische Gesundheit der Schüler relevant wären.


Auch Dao hat erlebt, welche hohen Ansprüche Jim an sich selbst hatte: «Glücklicherweise fand ich für Jim nach dem Home­schooling einen Platz in einer Privat­schule, die für ihn sehr heilsam war. Er war der älteste Schüler und begann durch die behutsame und achtsame Art der Lehrerinnen sogar in der Gruppe frei zu reden.

Finanziell war es mir jedoch nicht möglich, ihn mehrere Jahre dort unterrichten zu lassen. Daher musste er zurück in die Volks­schule. Zuerst hatte Jim Glück: Er kam zu einem sehr feinfühligen Lehrer und erbrachte mit dessen Unter­stützung gute Leistungen. Der Lehrer erkannte, dass Jim anders war und sehr auf Beziehungen und ein stress­freies Umfeld angewiesen ist.

Er warnte uns aber schon früh vor dem Übertritt in die Mittel­stufe: Der Stress würde zunehmen, vielleicht käme es wieder zu Schwierigkeiten für Jim. Der schul­psychologische Dienst versprach uns daher, Lösungen zu suchen, falls nötig. Doch dazu kam es nie. Alles ging viel zu schnell. Kaum kam Jim in die 4. Klasse, begann er im Unterricht wieder zu schweigen. Es war noch viel schlimmer als zuvor. Seine Leistungen wurden schlechter und schlechter, sein Verhalten auffälliger: Er sperrte sich immer wieder in den Toiletten der Schule ein, wenn es ihm zu viel wurde.

Mehrmals musste ich ihn abholen. Da Jim mittler­weile noch zwei Geschwister bekommen hatte, war ich so belastet, dass ich manchmal fast zusammen­gebrochen wäre.»


Eine deutliche Mehrheit der 11- bis 15-jährigen Schülerinnen in der Schweiz ist mit ihrem Leben zufrieden – zumindest war das so, bevor die Pandemie einsetzte. Das zeigen etwa die Ergebnisse einer internationalen Studie von 2018. Trotzdem leidet ein beträchtlicher Teil unter physischen oder psychischen Belastungen. Für sie gilt: Je früher und einfacher sie Zugang zu passenden Unterstützungs­angeboten bekommen, desto kleiner ist die Chance, dass aus den Belastungen eine Krankheit wird.

Dafür braucht es nicht nur menschliche Ressourcen, sondern auch finanzielle – für die Aufklärung, für Therapie­plätze, Anlauf­stellen, Betreuung und ambulante sowie stationäre Versorgung.

Der Kanton Zürich scheint das zumindest in gewissen Bereichen erkannt zu haben. So betreibt er etwa ein kantonales Programm zur Stärkung der psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen, das in Kitas, Schulen oder der Jugend- und Eltern­beratung umgesetzt wird. Jérôme Weber von der Gesundheits­direktion weist zudem auf den Kindesschutz­radar hin, den die Bildungs­direktion entwickelt hat. Dieser soll die Befindlichkeit von Kindern, Jugendlichen und Familien im Kanton Zürich erfassen und die Entwicklung beobachten.


Für Dao und Jim spitzte sich die Situation zu: «Irgendwann begann Jim, sich die Arme und Beine zu ritzen, ohne dass ich es merkte. Er konnte es gut verstecken, sagte immer, er wolle allein duschen. Er war damals 11 Jahre alt, ich wollte ihm seine Privat­sphäre geben, und natürlich glaubte ich ihm.

Dann kam der Tag, an dem er sich die Arme aufschnitt, ich werde es nie vergessen: Er kam ganz normal von der Schule nach Hause, erzählte nichts und ging mit den Nachbars­kindern Fussball spielen. Als Jim draussen war, kam der Anruf der Schule. Der Lehrer sagte mir, Jim habe sich heute in der Schule mit der Schere bewusst und tief in den Arm geschnitten, man müsse nachsehen, ob man die Wunde nähen müsse. Als ich Jim damit konfrontierte, fing er an zu weinen, er schämte sich so sehr.

Ich habe in jener Zeit sehr stark mit mir gehadert und sah in Jim mich selbst. Es war wie ein sich wiederholender Albtraum: Auch ich verletzte mich als Kind selbst. Mir war es deshalb wichtig, nicht so zu reagieren wie meine Mutter damals. Sie schlug und bestrafte mich, als sie erfuhr, dass ich mich schnitt. Ich wollte es anders machen und sagte zu Jim: ‹Ich weiss, warum du das machst, du spürst dich nicht mehr.› Am nächsten Tag brachte ich seine Geschwister in die Kita und blieb den ganzen Tag allein mit ihm. Für mich stand das Vertrauen im Zentrum. Ich wollte, dass er zu mir kommt, falls es noch einmal passiert.

Wir fanden Hilfe in einer Tages­klinik. Er war also am Tag in der Kinder­psychiatrie, am Abend und in der Nacht zu Hause. Die ersten drei Monate sprach er in der Klinik kein Wort. Die Diagnosen: Mutismus, Depression, Angst­störung. Die Ärztinnen versuchten bei ihm eine Behandlung mit drei verschiedenen Medikamenten gegen ADHS. Diese wirken bei ADHS-Patienten beruhigend, bei Patienten wie Jim haben sie den gegenteiligen Effekt und putschen auf oder bringen sie wieder zum Sprechen. Doch die Medikamente hatten Neben­wirkungen. Es dauerte etwa ein halbes Jahr, bis sich die Situation stabilisierte.»


Der deutsche Kinder- und Jugend­psychiater Michael Elpers schreibt in seinem Buch «Wenn die Kinderseele streikt», dass sich in den meisten Fällen psychische Erkrankungen nicht einfach durch körperliche Befunde erklären lassen. Denn psychische Erkrankungen seien in der Regel das Ergebnis verschiedener Einfluss­faktoren – gesellschaftlichen, genetischen, familiären und neurobiologischen.

Stress vor und nach der Geburt als Risiko­faktor

Klar ist: Vernachlässigung, Misshandlung, aber auch elterliche Über­fürsorge oder überhöhte Ansprüche an das Kind können das Risiko für Sucht, Depressionen und Suizid­versuche erhöhen, das ist belegt. Ebenfalls einen Einfluss haben können traumatische Erlebnisse wie der Tod einer nahe­stehenden Person, eine schwere Krankheit, die Scheidung der Eltern, ein Unfall oder ein längerer Spital­aufenthalt von Geschwistern oder Eltern.

Die Forschung ist sich zudem einig, dass gewisse Faktoren bereits im Mutter­leib auf die Gesundheit und damit auf die Biologie des Kindes wirken. «Starke Ängste der Mutter oder übermässiger, dauerhafter Stress können das Risiko einer kindlichen Störung steigen lassen», sagt Kinder­psychiater Elpers. Denn in der frühen Schwangerschaft werden mit Serotonin, Dopamin und Noradrenalin diejenigen Boten­stoffe aktiviert, die eine zentrale Rolle bei psychischen Erkrankungen spielen: Sie steuern unter anderem, ob wir wach, aufmerksam und motiviert sind oder nicht.

Von diesen vorgeburtlichen Faktoren will der Bundesrat bis jetzt aber nichts wissen: Letztes Jahr empfahl er die Ablehnung einer Motion zum Mutterschutz vor der Geburt, die darauf hinwies, dass eine möglichst stressfreie Schwangerschaft entscheidend für die Gesundheit von Mutter und Kind sei. Aus Sicht des Bundesrats jedoch bietet der 14-wöchige Mutterschafts­urlaub genug Schutz. Frauen, die sich nicht krank­schreiben lassen, müssen daher in der Schweiz arbeiten, bis die Wehen kommen – auch wenn sie am Arbeits­platz Stress und Druck ausgesetzt sind.

Stress und Druck erleben viele Mütter auch in der ersten Zeit nach der Geburt. Vielen fehlt aufgrund eines kurzen Vaterschafts­urlaubs und fehlender Eltern­zeit Unterstützung durch die Väter. Eine politische Änderung ist nicht in Sicht, wie das jüngste Abstimmungs­resultat zeigt. «Dabei sind gerade die ersten Monate und Jahre für die psychische Gesundheit der Kinder prägend», sagt Kinder­psychiater Elpers. Säuglinge entwickeln sehr schnell soziale Kompetenzen, wenn sie Fürsorge bekommen. Denn: «Menschen besitzen ein angeborenes Bedürfnis, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu anderen Menschen zu haben.»


Dao ist überzeugt: «Ich glaube, dass Jims psychogenes Schweigen – auch Mutismus genannt – genetisch bedingt ist. Jims Geschichte hat in mir auch meine eigene Vergangenheit aufgewühlt. Meine Kindheit war sehr traumatisch. Ich wuchs bei meinen Grosseltern in Thailand auf, meine Mutter war noch sehr jung und nur wenig da. Man sagte mir, diese Frau sei meine Schwester. Eines Tages nahm sie mich einfach mit. ‹Du musst jetzt in die Schweiz›, sagte man mir. Erklärungen gab es keine. Nur die Information, dass diese fremde Frau, von der ich dachte, sie sei meine Schwester, meine Mutter sei. Das war erst der Beginn meines Traumas. Meine Mutter hat mich in meinem Leben nie umarmt, ich wurde geschlagen, beschimpft, und sie hat mir erzählt, mein Vater sei tot – obwohl es nicht stimmte.»


Die Genforschung hat das Verständnis psychischer Krankheiten in den letzten Jahren nochmals verändert. Studien weisen darauf hin, dass genetische Faktoren psychische Erkrankungen begünstigen. Nicht immer ist sich die Forschung dazu einig: Gerade bei Psychosen gibt es bis heute keine eindeutigen Beweise für eine biologische Grundlage.

Einen wichtigen Durchbruch gab es aber kürzlich im Bereich der Epigenetik. Deren Forschung beschäftigt sich mit der Frage, wie stark die Umwelt die Gene verändert und wie zum Beispiel Traumata vererbt werden können. Die Hirn­forscherin Isabelle Mansuy von der ETH Zürich hat nachgewiesen, dass sich nach traumatischen Erlebnissen der ganze Körper verändert – das Gehirn, die Organe, und auch das Erbgut in Spermien und Eizellen.

Sie zeigte diese Veränderungen anhand von Mäusen: In gross angelegten Experimenten wurden Jung­tiere in den ersten zwei Lebens­wochen in unregelmässigen Abständen von der Mutter getrennt, die in dieser Zeit ebenfalls Belastungen ausgesetzt wurde. Dieses Trauma hatte bei den Mäusen psychische Folgen wie Depressionen oder eine veränderte Risiko­freudigkeit, die sich mit dem Sperma und dem Blut bis in die vierte Generation übertrug. Die Forscherin geht davon aus, dass auch Menschen Traumata vererben, sowohl väterlicher- wie auch mütterlicherseits.

Dieses Phänomen der Epigenetik ist vor allem von Kriegs­enkeln bekannt. Litt die Grossmutter zum Beispiel unter Hunger, hat der Enkel unter Umständen mit Diabetes oder Stoffwechsel­problemen zu kämpfen.

Mansuy schaffte mit ihrer Erkenntnis aber auch eine Perspektive für die Prävention psychischer Krankheiten: Sie konnte nachweisen, dass eine sichere und liebevolle Umgebung die vererbten psychischen Krankheiten mildern oder gar verhindern kann. Die Trauma­vererbung kann also durchbrochen werden.


Diese Erkenntnis war auch Jims Mutter wichtig: «In der Pubertät ritzte ich mich, wurde zeitweise suizidal. Bis ich freiwillig in ein Heim zog. Mein Gefühl von damals war vor allem: nichts. Ich spürte mich nicht, ich spürte meine Mutter nicht. Ich spürte innerlich keine Liebe, keinen Hass, einfach gar nichts. Wenn ich mich dann selbst verletzte, spürte ich immerhin, dass ich noch Schmerzen empfand und kein Zombie war. Was Geborgenheit und Liebe heisst, erlebte ich erst mit meinen eigenen Kindern und meinem heutigen Partner.

Trauma­vererbung ist nicht fair und schwierig zu durchbrechen: Meine Mutter hatte ja auch keine nahe Beziehung zu ihrer Mutter. Ihre Mutter starb früh, sie erlebte ebenfalls ein Trauma. Und meine Gross­mutter hatte es bestimmt auch nicht gut. Es schmerzt mich sehr, was Jim alles erleben musste – und auch noch erleben wird. Es ist nicht einfach, wenn man anders ist. Deshalb ist es mir so wichtig, diesen Kreis­lauf zu durchbrechen. Und deshalb konnte ich nicht weiter­machen, ohne Jim die Hilfe in der Klinik zu suchen.»


Laut Kinderpsychiater Elpers sind Kinder und Jugendliche, die in Familien mit niedrigen Einkommen aufwachsen, überdurchschnittlich häufig psychisch auffällig. Beinahe jedes 4. Mädchen und fast jeder 5. Junge, die in Armut leben, sind demnach psychisch auffällig. In finanziell besser gestellten Familien ist es hingegen nur jedes 15. Mädchen und jeder 8. Junge.

Armut ist auch für die Eltern ein Risiko: Je tiefer der sozio­ökonomische Status, desto verbreiteter sind psychische Krankheiten. Und: Müssen kranke Eltern in eine Klinik und werden in dieser Zeit von ihren Kindern getrennt, kann dies zu einer weiteren Traumatisierung der Kinder führen. Gemäss Schätzungen wachsen in der Schweiz mindestens 300’000 Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil auf.

300’000 Kinder – das ist ein Sechstel aller Kinder in der Schweiz. Trotzdem fühlen sich 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz von ihrer Familie gut unterstützt, besagt zumindest der Gesundheits­bericht 2020. Wie passt das zusammen? Verdrängen die betroffenen Kinder die Probleme zu Hause? Oder sind die meisten Kinder und Jugendlichen doch resilienter, als es ihnen immer wieder attestiert wird?

Warum die einen Kinder psychisch erkranken und andere nicht, obwohl sie viel grösserer Belastung ausgesetzt sind, ist in der Forschung nicht eindeutig geklärt.

Was macht Kinder widerstands­fähig? Und damit resistenter gegen psychische Krankheiten? Diese Fragen beschäftigt auch Kinder­psychiatrie-Chefärztin Pauli. Für sie ist mangelnde Resilienz eine mögliche Ursache für die Zunahme von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen: «Viele Betroffene haben nie gelernt, wie man ein Problem löst oder eine Krise bewältigt. Die Strategie, die sie sich zugelegt haben, ist vielmehr: Es geht mir schlecht, also werde ich suizidal. Oder um Spannungen abzubauen: Ich ritze mich, ziehe mich zurück, steige aus dem System aus und baue eine Vermeidungs­haltung auf, anstatt dass sie aktiv etwas gegen ihr schlechtes Befinden unternehmen.» Kurz: Sie setzen auf passive Bewältigungs­strategien.

Sorgen macht Pauli, wie das Internet solche Strategien propagiert. Problem­lösungs­strategien hingegen würden Kinder viel zu wenig lernen: «Die Ansprüche an die Kinder, zu funktionieren und Leistung zu erbringen, sind hoch. Andererseits wird ihnen zu viel an eigener Erfahrung abgenommen.» Die Kinder stünden unter andauernder Beobachtung der Erwachsenen: «Damit Kinder widerstands­fähig werden, brauchen sie jedoch Raum für eigene Erfahrungen, Problem­lösungen und sollten auch mal scheitern können.»

So seien nicht nur zu wenig Aufmerksamkeit, Verwahrlosung oder Gewalt schädlich. «Manche Eltern räumen den Kindern heute zu viele Steine aus dem Weg, die diese eigentlich selbst bewältigen müssten», sagt Pauli. Häufig bleibt dann das Internet der einzige Raum, in dem sich Kinder noch ohne elterliche Präsenz aufhalten können. «In der virtuellen Welt lernen sie aber häufig schädliche Verhaltens­weisen wie Selbst­verletzungen oder Diäten, die ihre Probleme nur scheinbar lösen, in Tat und Wahrheit aber verschärfen.»

Kinderpsychiater Elpers sieht es positiver. Er sei sehr oft überrascht, was Betroffene alles leisten. Er findet, die meisten Kinder seien sehr resilient: «Ich bin immer wieder überrascht, wie stark sie sind, obwohl sie schwere Lasten tragen.» Er erzählt von Patientinnen, die jahrelang furchtbare Erlebnisse für sich bewahrt oder ihr Leiden versteckt haben, um beispielsweise ihre Eltern zu schonen. Viele von ihnen stellten sich ihren Krankheiten oder Problemen mutig und könnten diese irgendwann als Krise sehen und bewältigen, sagt Elpers. Ihre Eltern hingegen sind teilweise schon seit Jahren psychisch krank und gingen nie in Therapie.

Die US-Psychologin Emmy Werner forschte jahrzehnte­lang zur Resilienz. Sie hat unter anderem die Resilienz­fähigkeit von Hunderten von Kindern erforscht, die in prekären Verhältnissen aufwuchsen: Sie litten Hunger, wurden vernachlässigt oder misshandelt. Einige wurden stark destruktiv und hatten psychische Störungen, andere jedoch entwickelten sich zu gesunden, starken Persönlichkeiten.

Werner führte die positiven Entwicklungen vor allem auf zwei Faktoren zurück: Die Kinder erlebten mindestens eine enge und liebevolle Bezugs­person. Das konnte ein Grossvater, eine Lehrerin oder auch eine Bekannte sein, die sich um das Kind kümmerte. Und: Diese Kinder trugen Verantwortung – zum Beispiel für ein jüngeres Geschwister.

Der Neurowissenschaftler Raffael Kalisch, Gründungs­mitglied des Leibniz-Instituts für Resilienz, erforschte drei weitere Resilienz­faktoren: Intelligenz, Optimismus und Extra­version, eine nach aussen gewandte Haltung. Letztere führt zu mehr sozialen Bindungen und Kontakten, was wiederum den Selbstwert stärkt. Heisst: Intelligente Menschen, die schnell Kontakte knüpfen und dazu auch noch eher das Positive als das Negative sehen, sind von Natur aus krisen­resistenter.

Ob und wie sich Resilienz trainieren lässt, darüber aber streiten die Fachpersonen.

Für Kinderpsychiater Elpers sind Erziehungs­faktoren zentral: «Für eine gesunde körperliche und psychische Entwicklung ist Freiraum wichtig und ein einfühlsames und sicheres Handeln der Eltern.» Er stellt fest, dass auch psychisch gesunde Eltern sich zunehmend wenig zutrauen und bereits bei Basisfragen zur Erziehung verunsichert sind. Er sieht dabei ein Problem im wachsenden Druck auf Eltern und im Erziehungs­markt mit Eltern­ratgebern und Blogs, Kursen und Vorträgen: «Manche dieser beworbenen Methoden richten bei Kindern mehr psychischen Schaden an, als dass sie den Eltern oder dem Kind helfen», sagt Elpers.

Jim hatte Glück. Seine Familie stand ihm auch in der Krise bei, seine Mutter unterstützte ihn mit aller Kraft.


Zum Abschluss nochmals Dao: «Die Suche nach einer Anschluss­lösung an die Klinik gestaltete sich schwierig. Es war klar, dass Jim nicht mehr in die reguläre Schule zurückkonnte, auch weil er viel Schulstoff verpasst hatte. Ich musste immer wieder den schul­psychologischen Dienst kontaktieren, immer wieder nachhaken, bis ich fast verzweifelte – bis ein paar Tage vor den Sommer­ferien endlich eine Lösung durch eine Privatschule stand.

Heute geht es Jim viel besser. In der Privat­schule sind seine Leistungen markant besser geworden, und sein mathematisches Talent wurde entdeckt. Ich bin oft selbst erstaunt, was Jim alles kann und weiss. Anscheinend hat er im Bereich Informatik eine Hoch­begabung. Jetzt suchen wir zusammen nach einer Lehrstelle. Beim Schnuppern bekam er zum Glück bereits viele positive Rück­meldungen. Das ist nach all den negativen Erfahrungen und Anstrengungen endlich eine gute Aussicht.»

Zur Autorin

Marah Rikli ist freie Autorin, Buch­händlerin und Mutter zweier Kinder. Als Kolumnistin für das Lehrpersonen­magazin «Rundgang» schreibt sie über das Leben mit ihrer Tochter, die eine Behinderung hat. Sie publiziert regelmässig Artikel für den Mamablog des «Tages-Anzeigers» und veröffentlichte Beiträge im «Magazin», in der «Sonntags­Zeitung», in «Wir Eltern» und der «Aargauer Zeitung». Ihre Schwerpunkte: Inklusion, LGBTQIA+, Feminismus und Erziehung. Sie ist für diese Themen auch als Referentin oder Moderatorin unterwegs.

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Die Geschichte von Dao und Jim