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Ungemein spannender Podcast über das erstinstanzliche Fehlurteil gegenüber einem vermeintlichen voll zurechnungsfähigen Mörder.
Erschreckend ist, dass höchstwahrscheinlich der erste psychiatrische Gutachter seine eigene, diametral zur heutigen Rechtsprechung stehende Weltanschauung in die Beurteilung einfließen liess und – nur schon aus der Schilderung der paranoiden Gedankenwelt des Täters hätte der Verdacht einer (paranoiden) Schizophrenie unbedingt verfolgt werden müssen – eine derartige Fehlbeurteilung erstellen konnte.
Die Entschuldigung, dass die Psychiatrie auf keiner exakten Wissenschaft basiere, ist ein gern herbeigezogenes Argument, dem ich nicht beistimmen kann. Die Diagnostik einer psychischen Störung erfolgt nach klaren wissenschaftlichen Kriterien, die international festgelegt und kodiert werden. Auch die Befundaufnahme, die zur Diagnose führt, ist vorgegeben und sollte möglichst exakt und objektiv erfolgen. Diese Selbstverständlichkeit scheint vom zweiten Gutachter eingehalten worden zu sein und führte somit zur korrekten Diagnose und Begutachtung des Täters.
Ebenso erschreckend ist, dass die erste gerichtliche Instanz derart unreflektiert und gutgläubig dem ersten Gutachten Glauben schenkte und dem Täter eine vollumfängliche Zurechnungsfähigkeit mit entsprechendem Strafmaß zuteilwerden ließ. Die selbstverständliche Art und Weise, wie das erstinstanzliche Fehlurteil zustande kam, weckt bei mir den Verdacht, dass möglicherweise weitaus mehr solche Urteile gefällt werden. Im Grunde genommen müsste die Justiz sämtliche Gutachten dieses Psychiaters im Nachhinein einer Prüfung unterziehen und sich insbesondere die Frage stellen, ob daraus nicht noch mehr Justizirrtümer resultierten.
Ganz so exakt, wie von Herrn Schmuziger dargestellt, ist die psychiatrische Diagnostik dann doch nicht. Ja es gibt die international anerkannten Kriterien, die aber oft nicht einfach so abgehakt bzw. abgearbeitet werden können. Bei der Befundaufnahme und Beurteilung (!) gibt es Spielräume und Fehlermöglichkeiten: das können verschiedene Testverfahren sein, die je nach Verfahren eine andere Gewichtung nahe legen, vor allem aber kann die Beziehung zwischen Gutachter und Proband und die persönlich gefärbte „Brille“ des Gutachters (Hintergrung und Sichtweise), das Resultat stark beeinflussen.
Interessant ist ja im vorliegenden Fall, dass der zweite Gutachter sagt, das erste Gutachten sei nicht falsch, nur das Resultat sei falsch, weil der erste Gutachter die ursächliche Schizophrenie nicht gesehen hat.
Noch schwieriger wird es stets dann, wenn psychiatrische Gutachten Aussagen zur Rückfallgefahr machen müssen. Dann nämlich fliessen beim Gutachter automatisch auch Überlegungen zu seiner eigenen Karriere ein. Seine berufliche Zukunft ist beschädigt, wenn ein Mensch rückfällig wird und Straftaten begeht, obwohl sein Gutachten das als wenig wahrscheinlich voraussah. Entsprechend übervorsichtig bis eindeutig viel zu pessimistisch fallen die Gutachten dann zuweilen aus. Der Gutachter ist so auf der sicheren Seite, für die Beurteilten kann das jedoch schlimme Konsequenzen haben.
PS: Bis zu meiner Pensionierung habe ich als Therapeut im offenen Massnahmevollzug gearbeitet.
Edit: Schreibfehler
Guten Tag Herr Herr B.
Mit der Begutachtung der Rückfallgefahr gehe ich mit Ihnen einig. Mir ging es aber um die psychopathologische Diagnose. Natürlich gibt es auch dort Fehler, aber ein objektives und wissenschaftliches Vorgehen sollte schon angestrebt werden, und besonders bei solch schwerwiegenden Begutachtungen sollte dies der Standard sein. Dass der zweite Gutachter den ersten nicht in den Senkel stellt, mag auch daran liegen, dass Kollegenschelte unter Ärzten selten vorkommt.
Sehr einverstanden mit Ihrer Beurteilung der „fachlichen Kompetenz“ des erstinstanzlichen Gutachters. Existieren denn keine klar festgelegten, zwingend zu erfüllenden fachlichen Kompetenzen und überprüfbaren Qualifikationen, um als GutachterIn tätig sein zu dürfen?
Lohnt sich vielleicht die Frage, über welche fachlichen Kompetenzen ein Gutachter , eine Gutachterin - sofern es die überhaupt gibt, unbedingt verfügen muss, um anerkannt zu werden vor Gerichten und bei solch folgenschweren Be (ver)urteilungen .von möglichst objektiv festgestellten Sachverhalten.
Liebe Frau Hürlimann!
Danke für ihren scharfen Blick, die differenzierte Beobachtung und Ihre sympathische Art, komplexe Zusammenhänge zu erörtern. Sie machen eine wichtige Arbeit. Und ich freue mich, davon lesen resp. hören zu dürfen. Hoffentlich folgen noch viele weitere Berichterstattungen von Ihnen.
Un grand merci für diese tolle und motivierende Rückmeldung!
einen grossen dank an frau hürlimann für die immer wiederkehrenden bemühungen zur ausübung der "vierten gewalt" gegenüber der justiz.
dass ein gerichtsforensiker wie herr aschwanden ein solch haarsträubendes gutachten erstellen kann und die erste instanz dieses einfach absegnet, ist sogar für einen halb-laien wie mich einfach nur skandalös und unvorstellbar.
die falsch platzierten kabel, welche der beschuldigte als begründung für seine mordversuche geltend machte, erinnern mich stark an meine ex-gattin in der ersten phase ihrer damals ausgebrochenen paranoiden schizophrenie. sie entwickelte während dieser zeit grosse ängste gegenüber jeglichen leitungen, in denen etwas fliessen konnte; und dieser fluss musste unterbrochen werden. stromstecker wurden herausgezogen, glühbirnen aus den fassungen herausgeschraubt. wasserleitungen im keller unten waren überwachungsanlagen. und die angst, von der dorfbevölkerung die kanalisation hinuntergespült zu werden, war akut vorhanden.
der angeklagte hatte glück, auf einen rechtsanwalt wie paul rechsteiner zählen zu können, der mit seinem gerechtigkeitssinn und seiner beharrlichkeit den fall an die nächste instanz weiterzog (nicht nur ich vermisse ihn als eine der selten gewordenen spezies in der politik).
auch dank des zweiten gutachters, der sich offensichtlich vertiefter mit der krankheit des angeklagten auseinandergesetzt hatte, kam das gericht glücklicherweise zu einem anderen entscheid als die vorinstanz. ich hoffe, dass die verordnete stationäre therapie beim freigesprochenen eine nachhaltigen verbesserung seines zustandes bewirken konnte.
Lieber Anonym1, vielen Dank, dass Sie diese ganz persönlichen Erfahrungen mit uns teilen.
Ihre Beiträge, Frau Hürlimann, gehören u.a. für mich zu den interessantesten. Als Laie hat man sonst nicht viel Einblick in diese Zusammenhänge. Vielen Dank!
Mich beschäftigt ein Thema, das möglicherweise in diese Nähe gehört: die präventive fürsorgerische Unterbringung, die ja m.W.
auch von einem Dienst habenden Arzt verfügt werden kann, der keine psychiatrische Ausbildung und keine entsprechende Erfahrung hat. Mir scheint das eher problematisch zu sein. Gibt es da Änderungen?
Problematisch ist die FU, ja - aber vor allem wird sie in problematischen Sitationen verfügt, in denen kein anderer Weg offensteht und jemand rasch intervenieren muss, meist zuerst die Polizei, dann der Amtsarzt. Ich bin jetzt pensioniert, arbeite seit zwei Jahren als Richter am FU-Gericht Basel-Stadt mit und habe in dieser Zeit keine einzige Geschichte miterlebt, in der die FU leichtfertig eingeleitet worden wäre. (Zur Erklärung: Wer in der Psychiatrie zwangs-eingewiesen oder zwangs-behandelt wird, kann dagegen Rekurs einlegen und seine Sicht der Dinge vor einem Psychiater, einer Psychotherapeutin/Sozialarbeiterin und einer Juristin darlegen, eben dem FU-Gericht.) In den allermeisten Fällen kommen diese unabhängigen Fachleute zum Schluss, die FU sei gerechtfertigt; manchmal empfehlen wir eine Verkürzung oder lassen in der Urteilsbegründung eine zusätzliche Sichtweise durchblicken zu dem, was die KlinikärztInnen feststellen. Dass ein Rekurs gutgeheissen, also die FU als zu Unrecht erfolgt eingestuft wird, ist selten, kommt aber vor. Ich empfinde unsere Arbeit als sehr gründlich (Aktenstudium, Gespräch mit dem Patienten und der Ärztin, eingehende Beratung) und bin fast immer auch im Nachhinein zufrieden damit; nur ein Mal dachte ich hinterher, ich hätte anders plädieren müssen. Aber klar: Wir sind alle "aus dem Kuchen", gehören demselben Berufsfeld an; tröstlich zu wissen ist dann bloss, dass wir uns in der Beratung oft nicht einig sind und Umwege denken müssen, um zu einem gemeinsamen Urteil zu kommen.
PS: Grosses Kompliment auch meinerseits zur umsichtigen Darstellung der Schicksale im Podcast!
Solche Fehler passieren, wenn man mit einem Vorurteil an den zu Untersuchenden herantritt. Wir Psychiater müssen deshalb viele Selbsterfahrungsstunden leisten und unseren Charakter gut verstehen um nicht in eine Falle zu tappen, die in uns selber begründet ist.
Herr Aschwanden sollte in Supervisionsstunden seine fachlichen Fehleinschätzungen aufarbeiten.
Sehr spannend und sehr verständlich für Laien wie mich erklärt. Danke! Ich, eben als Laiin, finde es extrem schwierig. Ich bin die erste, die Verständnis hat, wenn ein Mensch krank und darum nicht zurechnungsfähig ist. Trotzdem scheint mir die Tat ja nicht entschuldbar zu sein. Und es beruhigt mich zu hören, dass der Staat (Paul Rechsteiner sei Dank)nun doch die Verantwortung wahr nimmt und den kranken Menschen therapiert. Wenn dann die Therapie erfolgreich ist, nützt uns allen das mehr, als wenn der Täter für seine schlimmen Taten lebenslänglich weggesperrt wird.
Liebe E. B., das freut uns zu hören, vielen Dank für Ihre Rückmeldung!
Danke, Frau Hürlimann. Gute Anwälte machen Mut, und vor der Justiz braucht es einen klaren Kopf wie auch Unerschrockenheit. Vielleicht erleben wir immer öfter Justiz, die auch Gerechtigkeit schaffen kann. Wenn wir dranbleiben; es liegt an uns.
Danke für Ihre Zuversicht und Ihre Unerschrockenheit, liebe E. H. H.!
Ich habe aus Neugier die Webseite von Herrn Aschwanden angeschaut und da gibt es einen skurrilen Abschnitt und zwar:
"Um allfälligen Fragen zuvorzukommen:
Grösse: 2 m
Gewicht: 100 kg"
Ich habe mich noch nie für die Grösse oder das Gewicht einer dienstleistenden Person interessiert.
Auf alle Fälle habe ich bei der Beschreibung des Bauerns bei der ersten Vernehmlassung auch direkt an eine psychische Erkrankung, die psychotische Zustände beinhaltet, gedacht.- Und das als (Halb-)Laie (Fokus im Studium: Künstliche Intelligenz und Neurologie).
Von daher kam mir das erste Gutachten auch schräg rein.
Gut, dass der Herr Rechtsteiner sich für seinen Mandaten eingesetzt hat und das zweite Gutachten das Erste korrigieren konnte.
Es mindert jedoch nicht die Tragik der Vorkommnisse sondern vergrössert die meiner Meinung nach.
Wie schon einmal erwähnt: Ihre Berichterstattungen gehören zu meinen absoluten Favoriten. Vielen Dank für Ihre Arbeit, Frau Hürlimann!
Quelle:
https://www.psyfriends.ch/index.php…Itemid=170
Edit: Bezüge spezifiziert. Fokus hinzugefügt.
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