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Mich hat der Text etwas genervt mit seiner Gegenüberstellung von «Tech-Utopie» und «Realpolitik». Mich würde mehr interessieren, wie real «Realpolitik» eigentlich ist und wieso nicht mehr in Utopien investiert wird. Stattdessen wird hier ein unterfinanziertes Experiment in seinen Anfängen bereits einem Realitätscheck unterzogen. Der Nachgeschmack bei mir: «Ihr könnt das schon probieren, aber schlussendlich wird es scheitern wegen Sachzwängen.»
Dabei brauchen wir mehr «naive» Politiker, die ihre Bürgerinnen so behandeln, als ob sie kreativ und engagiert wären. Das wichtige ist doch nicht so sehr das Digitale an sich, sondern dass eine Politikerin sich für einen Vertrauensvorschuss gegenüber der Bevölkerung einsetzt.
Rutger Bregman hat es schön geschrieben: «Ein Idealist kann sein ganzes Leben lang recht haben, aber dennoch als naiv abgetan werden.»
Ich habe den Text gern gelesen wegen dem Einblick in die taiwanesische Netz- und Infrastrukturpolitik, aber die Prämisse und das Fazit hat mir gar nicht gefallen. Vielleicht auch einfach aus Frust, weil wegen ein paar Egomanen überall Leute mit Pfupf auf die Bremse stehen müssen.
PS: A propos Status Quo, man muss Quentin Lichtblau nicht mehr auf Twitter verlinken. Er trötet seit November von einer Mastodon-Instanz des ZDF Magazin Royale Teams mit sichtbarem Vergnügen:
Ich will eigentlich nur dass alle Mastodon nutzen damit ein Nachrichten-Sprecher eines Tages "Der Kanzler äußerte sich dazu per Tröt" sagen muss
Alle kennen den müden Witz des Marxismus von anno dazumal: Das Proletariat, d.h. die Arbeiter, somit ein Subsystem des Kapitalismus, soll den Staat, ein weiteres Subsystem, übernehmen, und dann den Staat der Arbeiter - wahlweise als Kommunismus oder Sozialismus bezeichnet - etablieren. Wurde bekanntlich zweimal in Grossversuchen durchbuchstabiert, die sich sehr schnell als ebenso mörderische wie ineffiziente Modernisierungsdiktaturen etablierten, und beide glorios gescheitert sind: Gescheitert jedenfalls, gemessen an den utopischen Ansprüchen. Ebenso gescheitert sind all die Copycat-Versuche in ehemaligen Kolonien: Auf DIESE Art ist jedenfalls kein Kommunismus oder Sozialismus zu machen. Eine Einsicht, die bei manchen Linken bis heute nicht angekommen ist.
Taiwans Cyber-Utopie schwebt ebenso im luftleeren Raum wie der europäische Idealismus oder der Marxismus. Das Problem der Vermittlung zwischen der Demokratie und dem Kapitalismus als DEM Gesamtsystem der Moderne wird in Lichtblaus Artikel noch nicht mal angesprochen; Offenbar, weil es noch nicht mal als Problem erkannt wurde. Dafür müsste man erst mal verstehen, mit was man es mit diesem System zu tun hat, und an den hilflosen Erklärungsversuchen der Ökonomen und der Marxisten vorbei weiter denken. Die Wert-Abspaltungs-Kritik ist ein solcher Ansatz, aber er ist anspruchsvoll und wenig populär, trotz der täglich wachsenden Dringlichkeit des Anliegens.
China, der grosse Gegner Taiwans, ist mit seiner Modernisierungs-Diktatur auf Umwegen dort angekommen, wo bis heute jede Modernisierung überall in der Welt unausweichlich hinführt: Im Kapitalismus, und der ist da so totalitär abgesichert wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Den "Sozialismus mit chinesischen Vorzeichen" glauben sich die Protagonisten noch nicht mal selber. Real ist da bloss die triste Einheit der Diktatur von Staat und Ökonomie unter der Kontrolle der KPC.
Trotz der Einwände muss man den taiwanischen Versuchen, die Demokratie zu modernisieren, Glück wünschen: Weil die Demokratie Meinungsfreiheit und die Mitbeteiligung der Bürger fördert, oder das jedenfalls tun sollte, und weil der Staat da relativ zurückhaltend agiert. Es hilft natürlich, dass Taiwans Demokratie noch jung ist, und die Erinnerung an die Diktatur und das Unterdrückungssystem der Kuomintang, von der brutalen Kolonisierung durch die Japaner zu schweigen, relativ frisch. Zur Diktatur will da eine Mehrheit keineswegs zurück, und Chinas Anspruch verspricht genau das, plus die gewaltsame Ausmerzung alles Taiwanischen. Russlands Ansprüche an die Ukraine geben die Richtung vor!
Die Aufrechterhaltung der Demokratie wird jedoch nur funktionieren, wenn Taiwan militärisch dauernd hoch gerüstet bleibt und auf den Schutz der USA im Falle eines Angriffs von China zählen kann. Den Cyberkrieg muss es natürlich auch können: Jedenfalls mindestens so gut wie China mit seinen unvergleichlich viel grösseren Ressourcen. Und natürlich muss es, wie alle Länder der Welt, interessiert sein am Gedeih der "Wirtschaft", ohne deren Steuerleistungen kein Staat der Welt funktionsfähig ist. In diesen Voraussetzungen steckt wenig Utopisches, und noch nicht mal der Ansatz für etwas Anderes, Besseres: Da wird auch Audrey Tang wenig daran ändern können, selbst wenn sie es wollte. Leider!
@U. B.: Etwas verstehe ich nicht an Ihrer Argumentation. Wenn eine junge Demokratie sich gegen einen militärisch übermächtigen Gegner schützen will, der digitale Totalüberwachung anstrebt oder bereits realisiert hat; warum wird als Lösung des Problems mit den USA ein anderer militärisch übermächtiger Gegner vorgeschlagen, der internationale Totalüberwachung realisiert, mit seinem Geheimdienst eine ganze Reihe von jungen Demokratien in gewalttätige Autokratien verwandelt hat und zudem für zahlreiche Aggressionskriege verantwortlich ist?
Willkommen in der realen Welt, wo es im wesentlichen zwei Supermächte gibt: Die USA und China (Russland spielt offensichtlich unter ferner liefen!) Wer wie Taiwan Probleme mit China hat, dem bleibt nur die Hoffnung auf die USA, bei all den noch so berechtigten Einwänden, die Sie anführen. Fraglich, ob das genügt: Die USA sind im Abstieg, China (gerade noch) im Aufstieg begriffen, und Taiwan liegt nun mal nahe bei China und weit von den USA entfernt. Beide Supermächte werden in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts allerdings andere Probleme haben, als sich um diese relativen Machtverhältnisse zu sorgen. Dafür spricht alleine die innerhalb des Kapitalismus nicht zu bewältigende globale Erwärmung, von all den anderen unerwünschten Folgen dieses hirnrissigen und terminal krisenhaften Systems einmal abgesehen!
Ich stimme ihnen in fast allen Teilen zu, finde es aber falsch, den Kommunismus als eindeutig gescheiterter Versuch einer sozialen Wirtschaftsform abzuqualifizieren.
Lenins ursprüngliche Idee der Rätedemokratie, liess sich mit den damaligen technischen Voraussetzungen schlicht nicht umsetzen. Das Konzept sah vor, dass die Kommunen, davon stammt der Begriff Kommunismus, als kleinste Einheit einen Rat von 8 Leuten wählen sollten. Von diesen 8 wählt das Gremium einen Vertreter für den nächstgrösseren Regionalrat, der wiederum aus 8 Mitgliedern bestehen sollte, und so weiter, bis zum obersten Rat in Moskau. Die Entscheidungsfindung hätte so geschehen sollen, dass der Kommunalrat einen Beschluss fasst und diesen seinem Vertreter im nächsten Rat mitteilt, und so weiter, bis der oberste Rat in Moskau den definitiven Beschluss für das ganze Land fällt.
Dieses System scheint so schlecht nicht zu sein, hätte aber einen enormen Zeitverlust mit sich gebracht, gerade in so einem riesigen Land wie Russland. Ausserdem war Lenin, ähh, sehr von sich selber angetan und hätte sicher Mühe gehabt, wenn der Rat ihn überstimmt hätte. Also, wurde das System flugs umgekehrt, und der oberste Rat befahl von nun an, den unteren Räten was sie zu tun und zu lassen haben. Aus der Rätedemokratie, wurde eine Parteidiktatur.
Das Gleiche geschah auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Statt dass die Kolchosen bestimmen konnten, was auf ihrem Land am besten wie angebaut werden kann, wurde ihnen von Moskau aus, im Rahmen einer gigantischen Wasserfallplanung, vorgeschrieben, was sie in welcher Menge zu liefern haben.
Genossenschaftliche Organisationen beweisen, dass diese ursprüngliche Form, sogar innerhalb des Kapitalismus funktionieren kann.
Und auch technisch haben wir heute die ungleich besseren Mittel, um eine solche Form der Demokratie, leben zu können, ohne dass jede Beschlussfassung viele Monate benötigen würde.
Besonders interessant und lesenswert. Merci.
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