Kann Taiwan den Cyberkrieg – oder nur die Utopie?
Taiwan will eine digitale Demokratie, die radikal transparent ist. Gleichzeitig droht ein militärischer Konflikt mit China. Wie kann das zusammengehen? Ein Besuch im Land liefert widersprüchliche Antworten.
Von Quentin Lichtblau (Text) und Sean Marc Lee (Bilder), 09.12.2022
In den 7-Eleven geht man zum Geld abheben, um Dokumente zu drucken, für ein schnelles Abendessen oder zum Frühstück nach einer durchfeierten Nacht. Das dichte Netz der Mini-Supermärkte ist in Taiwan fester Bestandteil des Alltags. Zum Neujahr gibt es besonders exquisite Mikrowellengerichte, Schokolade am Valentinstag, Mondkuchenboxen zum Mittherbstfest. Auf den Bildschirmen oberhalb der Kasse sehen Kunden die aktuellen Sonderangebote.
Anfang August dieses Jahres fanden sich auf den Displays zahlreicher Filialen im ganzen Land aber plötzlich ganz andere Botschaften:
«Nancy Pelosi, du Kriegstreiberin, hau ab aus Taiwan!» stand dort, daneben ein Foto der US-Politikerin mit aggressivem Gesichtsausdruck.
«Der Besuch der alten Hexe ist eine ernsthafte Provokation gegenüber der Souveränität des Mutterlandes», prangte wiederum am Bahnhof der südtaiwanischen Grossstadt Kaohsiung auf einer grossen Anzeigetafel in roten chinesischen Schriftzeichen. Über jene, die sie willkommen geheissen hätten, werde die Gesellschaft richten, hiess es weiter. «Gross-China wird am Ende vereint sein!»
Die 7-Eleven-Bildschirme waren gehackt worden, und diese gross angelegten Hacks anlässlich des Besuchs der Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses kamen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus China. Bereits am Vortag waren Websites der taiwanischen Regierung angegriffen worden und wiederholt nicht erreichbar gewesen.
Ein Rückschlag für Taiwan, das sich nach aussen als gegen jeden Angriff gerüsteten, entschlossenen Staat darstellen möchte. Besonders für eine Figur sollten die kommenden Wochen und Monate zu einem Bewährungstest werden: für Audrey Tang, die Chefin des Digitalministeriums, das wenige Wochen nach den Cyberangriffen neu gegründet worden war.
Das Tech-Wunderkind
Tang ist neben Präsidentin Tsai Ing-wen wohl die international bekannteste Politikerin Taiwans. Tsai, die Ende November aufgrund schwacher Wahlresultate den Parteivorsitz ihrer Demokratischen Fortschrittspartei DPP abgegeben hat, hatte Tang nach ihrem Wahlsieg 2016 ins Amt einer Ministerin für digitale Angelegenheiten gehoben – ein Novum für Taiwan. Tang, eine Art Tech-Wunderkind, das mit 20 bereits im Silicon Valley gearbeitet hatte, wurde zur Ministerin ohne Stab und Budget – denn ein eigentliches Digitalministerium gab es damals noch nicht.
Vor allem aber wurde sie zur internationalen Botschafterin ihres Heimatlandes: Das Magazin «Foreign Policy» zählte sie 2019 zu den «100 wichtigsten Denkern weltweit», im Westen gilt sie als Prophetin einer Versöhnung von Digitalisierung und Staatlichkeit. In zahlreichen Interviews und Podcasts beschrieb sie ihre Vision einer radikal transparenten, partizipativen Digitaldemokratie, in der die Bürgerinnen permanent am Gesetzgebungsprozess teilnehmen, Fake News durch Schwarmintelligenz entkräften und jede Streitfrage im friedlichen Konsens klären können.
Es schien, als hätten Tang und ihre Mitstreiter aus der Zivil-Hacker-Bewegung namens g0v einen Mittelweg zwischen autoritärer Überwachung und dem Daten-Ausverkauf an private Konzerne gefunden.
Die Grundidee von g0v seit dem Gründungsjahr 2012: eine neue, parallele Form des Regierens zu finden, an der sich die Zivilgesellschaft aktiv beteiligen kann – und deren Resultate dann wiederum zurück in den «normalen» Regierungsprozess gespeist werden können. Eine Open-Source-Demokratie, in der jede Codezeile einsehbar ist und «der Staat transparent gemacht wird für die Bürger», wie Audrey Tang sagt.
Sie bezeichnete sich oft als «konservative Anarchistin»: Durch den digitalen Wandel könnten hierarchische Regierungsstrukturen letzten Endes überflüssig werden – weil alle gemeinsam den politischen Prozess gestalten. Tang hob so das alte Versprechen einer herrschaftsfreien Gesellschaft ins 21. Jahrhundert, was sowohl bei liberalen als auch linken Denkerinnen auf offene Ohren stiess. Wer Tang zuhörte, bekam das Gefühl, dass an diesem von Plattformen kaputtmonopolisierten Internet doch noch etwas zu retten ist, dass das emanzipatorische Potenzial von Technologie zu mehr taugt als reiner Profitsteigerung – und dass man Zeuge werden könne von diesem Wandel Taiwans zu einem digitaldemokratischen Wunderland.
Nur: Bis vor wenigen Monaten war Taiwan relativ abgekoppelt von der Aussenwelt. Als eines der ersten Länder hatte es im März 2020 seine Grenzen für Reisende aus dem Ausland geschlossen. Dass die Corona-Zahlen niedrig blieben, ohne dass man auf drastische Lockdowns zurückgreifen musste, stärkten den Ruf von Taiwans Entscheidungsträgerinnen als innovative Krisenmanager. Inwiefern im Land aber tatsächlich die digitale Demokratie blühte, war von aussen und damit auch für die meisten Journalisten, die Audrey Tang zur Heilsbringerin des Internets erklärt hatten, nur schwer nachprüfbar. Zudem konnte Tang zwar bei einigen Leuchtturm-Projekten glänzen – wie etwa einer Online-Karte für die Verfügbarkeit von FFP2-Masken in Verkaufsstellen oder einem anonymisierten Kontaktverfolgungssystem –, als Ministerin ohne Mitarbeiterstab hatte sie ansonsten aber noch zu wenig Macht, ihre Visionen in die Tat umzusetzen.
Seit Ende August steht sie nun als Ministerin mit eigenem Ressort in der Verantwortung. Aber der schwelende Konflikt mit China lässt ihre Pläne für eine digitaldemokratische Zukunft in den Hintergrund treten. Oberste Priorität in ihrem Bereich haben nun plötzlich sehr grundlegende, technische Fragen:
Wie steht es um die kritische digitale Infrastruktur im Land?
Was, wenn China nicht nur ein paar Anzeigetafeln hackt, sondern das gesamte taiwanische Internet lahmlegt?
Es sind trockene, eher am Heute als an einer kommenden Gesellschaft ausgerichtete Fragen, in denen sich Tang bisher noch nicht als Expertin hervorgetan hat.
Fragen, die weitere nach sich ziehen und deren Antworten ihre Karriere und die digitale Zukunft ihres Landes mitprägen werden.
Wie gelingt Tang dieser Balanceakt aus Tech-Utopie und Realpolitik, als eine Ministerin, die nun plötzlich mit dem grössten drohenden geopolitischen Konflikt unserer Gegenwart fertigwerden muss? Und wie digitaldemokratisch fortschrittlich ist Taiwan denn nun eigentlich wirklich?
Eine leise Enttäuschung
Wer im Herbst 2022 nach Taiwan reist und vorher ein Dutzend enthusiastischer Artikel über Taiwans Digitaldemokratie gelesen hat, kommt um ein klein wenig Enttäuschung nicht herum. Taiwans Wirtschaft und seine Universitäten haben zwar eine beeindruckende Digitalexpertise vorzuweisen – nicht nur im Bereich der Mikrochipindustrie, die den Weltmarkt mit zwei Dritteln seiner Halbleiter versorgt und daher auch einen strategischen Faktor im Konflikt mit China darstellt.
Im Alltag allerdings ist Taiwan ähnlich besessen von Bargeld, Zettelwirtschaft und grauen Behörden wie Deutschland oder die Schweiz. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass Stellen im öffentlichen Dienst in Taiwan viel zu schlecht bezahlt sind, um junge Talente für die Digitalisierung des Staates zu gewinnen. Wer zum Beispiel als Reisender einen PCR-Test machen will, muss sich zunächst durch archaisch anmutende Websites lavieren, wartet dann drei Tage auf einen Termin – und bekommt das Ergebnis schliesslich nicht per Mail, sondern muss den Ausdruck persönlich im Spital abholen.
Und wer in diesen Tagen einen Interviewtermin mit der vermeintlich stets verfügbaren Audrey Tang bekommen will, muss auf einen glücklichen Zufall hoffen. Der Terminplan der Ministerin sei derzeit «einfach zu eng», heisst es von ihrem Pressesprecher. Auch auf der Website, auf der Tang sich früher den Fragen von Bürgern stellte, stammt ihr letzter Eintrag vom August 2021.
An einem verregneten Samstag Ende Oktober feiert g0v sein zehnjähriges Bestehen mit einem zweitägigen Kongress, auch Tang soll anwesend sein. Sie ist seit den ersten Tagen von g0v dabei und bei weitem das prominenteste Mitglied der Bewegung. Allerdings hatte sich diese in den ersten Jahren stets als eine Art Gegenpol zur etablierten Regierung gesehen – die damals noch durch die konservative KMT gebildet wurde, die Partei, unter deren Militärdiktatur das Land bis in die Neunzigerjahre gelitten hatte.
Als die progressive Demokratische Fortschrittspartei DPP 2016 die Nationalwahlen gewann und die parteilose Tang zur Digitalministerin ernannt wurde, wechselte sie gewissermassen die Seiten. Mit ihrer Ernennung zur Chefin des neuen Ministeriums hat sich diese Annäherung an den «klassischen» Politikbetrieb nun noch weiter manifestiert.
Der Wandel von der politischen Aktivistin zur aktivistischen Politikerin wird auch an jenem Samstag beim Jubiläumskongress deutlich. Tang sitzt mit schwarzem Shirt und in einen langen grauen Schal gehüllt auf der Bühne des grossen Hörsaals in der Nationalen Akademie der Wissenschaften und diskutiert über Dezentralisierung. Links von ihr sitzt ein Krypto-Enthusiast mit Irokese, der mit Buzzwords wie «NFTs», «Blockchain» und «soziale Tokens» um sich wirft. Er fordert, dass die Regierung endlich sämtliche Mittel des sogenannten Web3 nutzen solle, um dezentraler und demokratischer zu werden.
Rechts von Tang sitzt ein etwas ausgeruhterer, Pferdeschwanz tragender Mitgründer von g0v, der immer wieder darauf hinweist, dass der Ansatz der Bewegung schon immer ein dezentraler war: «In Taiwan hatten wir lange eine Militärdiktatur, also das Zentralisierteste, was man sich vorstellen kann. Natürlich schauen wir da seit jeher, dass wir Zentralisierung verhindern, wo sie schadet», sagt er. Und fügt hinzu, dass sich Leitgedanken von g0v bisher zwar in einzelnen Momenten im politischen Alltag widerspiegelten, das Land aber noch weit weg sei vom alltäglichen Austausch von Regierung und Zivilgesellschaft.
Versteckt sich in dieser Aussage vielleicht auch eine kleine Spitze gegen die Digitalministerin, die sich mit konkreten Plänen zur Umsetzung der g0v-Vision bisher bedeckt hält?
Kurzantworten im Stehen
Nach dem Panel stellt sich plötzlich Tangs Pressesprecher vor. Wenn ich mir innerhalb von fünf Minuten drei Fragen ausdenken könne, wäre ein spontanes Interview mit ihr möglich. Die Fragen müsse er aber vorher einsehen können. Fünf Minuten später bittet er ins Foyer der Akademie, wo Tang ein paar schnelle Fragen im Stehen beantwortet. Wie geht es ihr als Ministerin auf dem Kongress ihrer alten Mitstreiter? Sieht sie Widersprüche in ihrer neuen Rolle, vielleicht auch ein wenig Missmut? Tang verneint: «Überhaupt nicht! Mein Ministerium agiert ganz im Geiste der g0v-Technologie. Unsere Arbeit ist nicht zentralistisch oder top-down, wir wollen eine Brücke sein zwischen der Industrie, der Zivilgesellschaft und der Regierung.»
Sie wolle diese Strategie, die sich im Gesundheitsbereich in Form der Maskenkarte bereits bewährt habe, nun auch auf andere Bereiche erweitern. Gerade in Bezug auf Desinformation sei es aufgrund der diktatorischen Vergangenheit Taiwans schwierig, der Regierung die alleinige Hoheit über den Kampf gegen Fake News zu geben. «Hier sind wir sehr vorsichtig, denn die Kontrolle über veröffentlichte Informationen sollte in einem freien, demokratischen Staat nicht allein bei der Regierung liegen.» Sie verweist auf die von g0v gegründete Factchecking-Plattform Cofacts, auf der Freiwillige virale Posts aus den sozialen Netzwerken auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. In solchen Projekten zeige sich der Nutzen des neuen, offenen Regierungsansatzes.
Wer sich am Rande der Panels mit g0v-Aktivisten unterhält, hört nicht nur Positives über Tang und ihre neue Rolle im Moda, dem Ministry of Digital Affairs. Was viele vermissen: Transparenz und Beteiligung, also eigentlich genau jene zwei Werte, die Tang immer als essenziell für ihren Regierungsansatz beschreibt. Früher habe Tang in den g0v-eigenen Diskussionskanälen immer reagiert, wenn jemand sie in einer Nachricht getaggt hatte, erzählen einige. Dass diese Zugänglichkeit nun schwinden würde, sei zwar absehbar gewesen, ein bisschen ausgeschlossen fühle man sich aber dennoch: «Erst zwei Monate vor dem offiziellen Start des neuen Ministeriums haben wir überhaupt erfahren, wie die Struktur und die Aufgabenfelder aussehen sollen», sagt Sam Robbins, ein in Taipeh lebender Brite Mitte zwanzig, der sich seit 2020 bei g0v engagiert.
Der Mann neben ihm nickt zustimmend. Als man dann vor zwei Monaten von den Aufgabenfeldern und der Prioritätensetzung des Ministeriums erfahren habe, seien viele überrascht gewesen: «Vor dem Moda-Launch ging es immer um Demokratisierung und Zivilgesellschaft. Und jetzt liegt der Schwerpunkt plötzlich bei der digitalen Infrastruktur und der Vorbereitung auf Angriffe von aussen – also sehr technische Themen, die mit unseren zivilgesellschaftlichen Ansätzen und unserer Expertise nur wenig zu tun haben», sagt Robbins.
Das Ministerium hat sich zwar drei Kernaufgaben vorgenommen: digitale Wirtschaft, digitale Governance und Cybersicherheit. Allerdings steht angesichts der erneut aufgeflammten Spannungen mit China besonders der dritte Punkt im Fokus.
Cyberverteidigung statt Grassroots
Die Cyber- und Desinformationsattacken aus China haben während des Besuchs von Nancy Pelosi einen neuen Höhepunkt erreicht. Ausserdem verfolgt man auch in Taiwan den Krieg in der Ukraine – und die massgebliche Rolle, die das Internet und die Öffentlichkeitsarbeit der ukrainischen Regierung darin spielen. Taiwans digitale Infrastruktur ist fragil, die Insel liesse sich mit gezielten Angriffen auf die Anlandepunkte der Internet-Unterseekabel theoretisch vollständig vom Netz abkoppeln.
Taiwan plant daher, in den kommenden Jahren eine Alternative auf Satellitenbasis zu installieren, die der Verwendung von Starlink in der Ukraine ähneln könnte. Dort hatten sowohl Journalisten als auch die Regierung selbst dank der Satelliten von Milliardär Elon Musk stets die Möglichkeit gehabt, ihre Sicht auf den Krieg in die Welt zu publizieren – und damit russischen Desinformationskampagnen etwas entgegenzusetzen.
Musk allerdings ist alles andere als ein verlässlicher Partner: Sowohl gegenüber der Ukraine als auch in Bezug auf den Taiwan-Konflikt scheint seine Solidarität oft zu schwanken. In einem Interview empfahl Musk Taiwan, es möge eine ähnliche Lösung wie Hongkong anstreben – also jener Ort, an dem vor zwei Jahren die Hoffnungen auf eine demokratische Zukunft durch Chinas Nationales Sicherheitsgesetz zerschlagen wurden. Taiwan könne ja eventuell einen «gnädigeren» Deal mit China erreichen, orakelte Musk, dessen Autofirma Tesla die Hälfte ihrer Fahrzeuge in China produziert. Taiwan will nun mit mehreren Anbietern verhandeln, das Ziel sind 700 Satelliten, die mit mobilen 5G-Empfängern am Boden verbunden sind und den Internetbetrieb in jedem Fall am Laufen halten.
Vielleicht ist die Enttäuschung der g0v-Aktivisten darüber, dass in einem sich aufheizenden Konflikt diese technischen Themen Vorrang gegenüber der grossen Graswurzelutopie haben, ein wenig naiv. Eine zentrale Frage ist allerdings: Hat Tang selbst überhaupt eine Expertise in diesen Bereichen?
Ein paar Tage nach dem Panel sitzt Tzu-han Schee – oder T. H. Schee, wie er sich nennt – in einem Café im Westen Taipehs. Er ist ein taiwanischer Tech-Unternehmer der ersten Stunde, seit mehr als 20 Jahren eine gefragte Stimme, sowohl in wirtschaftlichen als auch digitaldemokratischen Fragen. In Bezug auf Cybersecurity dürfte es für Tang eigentlich nicht so schwer werden, glaubt er, da es zu diesem Thema bereits vor dem Entstehen des Ministry of Digital Affairs Strukturen gegeben habe, auf die sie zurückgreifen könne. «Tang spricht allerdings nicht so viel davon, weil sie eigentlich eher dieser Zivil-Hacker-Bewegung entstammt, die sich seltener mit den trockenen, langweiligen Aspekten von Cybersecurity auseinandersetzt. Darüber lässt sich einfach nicht so schön philosophieren.»
Unter der Woche arbeitet Schee in seiner eigenen Agentur, die europäische Unternehmen auf den Digitalmärkten Taiwans etablieren soll, wie etwa den Schweizer Mailanbieter Protonmail. Seine Wochenenden widme er dann dem «Non-Profit-Zeug, also Themen wie digitaler Gesellschaft und Demokratie», sagt er und nimmt noch einen Schluck Cappuccino.
Wie bewertet er die ersten Tage von Audrey Tangs neuem Ministerium? «Das ist auf jeden Fall eine grosse, wichtige Sache», sagt er und lehnt sich zurück. «Ich kenne viele Leute in diesem Ministerium, da sind viele Gute dabei.» Gleichzeitig sei das Ministerium noch sehr klein, es habe weniger als hundert Mitarbeiterinnen. Und bisher sei noch kaum etwas nach aussen gedrungen, was die konkreten Pläne betrifft. Aber: Audrey Tang sei jetzt eben nicht mehr allein die Hacker-Philosophin. «Sie ist jetzt auch Ministerin, die Steuergelder ihrer Bevölkerung ausgibt. Und der muss sie erklären können, was sie genau vorhat.»
Auch Schee hält den Cyberwar mit China für das wohl drängendste Thema dieser Tage, die Prioritätensetzung des Digitalministeriums sei daher richtig. Ob dabei die dezentralen Plattformen wie die Factchecking-Plattform Cofacts eine grosse Stütze seien, daran hat er seine Zweifel: Pro Tag würden dort in etwa zehn virale Nachrichten auf ihre Echtheit überprüft. Das sei zwar ehrenwerte Arbeit, angesichts der Flut an Fake News aus China aber auch nur ein Tropfen auf den heissen Stein.
Für einen staatlichen Ansatz zur Regulierung von Tech-Plattformen sei das Land allerdings auch nicht bereit, sagt Schee, das habe das krachende Scheitern eines Gesetzesentwurfs gezeigt, der vom europäischen Digital Services Act inspiriert war. Staatliche Regulierung von Medien hat in dem Land, das in fast 40 Jahren «Kriegsrecht» Zensur, Staatsterror und Folter erlebt hat, keinen guten Stand: «Die Regierung hätte mit ihrem Entwurf theoretisch ein Unternehmen wie Facebook auffordern können, eine bestimmte Information auf seiner Seite als Fake zu markieren – ein viel zu direkter Eingriff, der für viele Menschen in Taiwan eine rote Linie in Richtung Zensur überschreitet. Mal ganz abgesehen davon, dass sich ein US-Unternehmen wohl kaum mit solchen Regularien abfinden würde.»
Dazu werde wohl die Anzahl Menschen in Taiwan unterschätzt, welche die chinesische App Wechat nutzten, als soziales Netzwerk wie auch als Zahlungsdienst: «Das nutzen hier etwa 20 Prozent der Leute, einfach weil viele in China arbeiten oder mit ihren Verwandten dort in Kontakt bleiben wollen», sagt Schee. «Aber Wechat ist eine aufs Heftigste zensierte Propagandamaschine. Wer Taiwan durch die Wechat-Linse betrachtet, bekommt eins zu eins die Perspektive aus Peking vermittelt.»
In der auf zahlreiche Plattformen fragmentierten taiwanischen Öffentlichkeit ist es alles andere als einfach, im Bereich Fehlinformation politisch einzugreifen. Würde etwa Wechat in Taiwan verboten, wären Tausende Taiwaner schlagartig von ihren Verwandten und Geschäftspartnern abgeschnitten – und würden das womöglich als Eingriff in ihre Freiheit verurteilen.
Bleibt Tang und Taiwan Luft zum Atmen?
Wer ein paar Wochen vor Ort recherchiert, merkt: Taiwan ist kein digitaldemokratisches Wunderland, sondern eine in weiten Teilen bürokratische, sehr analog geprägte Gesellschaft.
Aber der Enthusiasmus, mit dem man sich im Land den digitalen Problemen stellt, der Ansatz, das Internet weder zu verdammen noch den grossen Playern den roten Teppich zur Ausbeutung sämtlicher Bürgerdaten auszurollen, die Differenziertheit, mit der man hier vorschnellen Rufen nach einer staatlichen Regulierung von Informationen begegnet: Das alles ist bemerkenswert.
Die Frage ist nur, ob Taiwan und seiner Digitalministerin in Zukunft genug Luft zum Atmen bleibt, um seine und ihre Visionen konkreter werden zu lassen. Oder ob diese am Ende doch weitgehend realpolitischen Zwängen zum Opfer fallen.
Selten haben es neue Demokratieformen schwerer als in Zeiten, in denen zügige Entscheidungen gefragt sind. Im Konflikt erstarkt traditionell eher die autoritäre Seite des Staates – es geschieht also genau das Gegenteil dessen, was Audrey Tangs Politikansatz bewirken sollte. T. H. Schee ist bei aller Kritik aber optimistisch: «Die meisten Länder haben noch nicht einmal ein Digitalministerium», sagt er. «Was hier passiert, ist völlig neu. Es ist eine andere Art, zu regieren. Ob ich hoffe, dass das klappt? Aber selbstverständlich!»
Quentin Lichtblau ist freier Kulturjournalist. Er schreibt unter anderem für die «Süddeutsche Zeitung» und die «Zeit».