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Zugegeben: als praktizierender Psychotherapeut, der mit Menschen arbeitet, die seelisch besonders betroffen sind, mag meine Erfahrung nicht unbedingt repräsentativ sein für alle Opfer sexueller Gewalt und Übergriffe. Was ich aber feststellen kann ist Folgendes:

• Bagatellisierung oder offensichtliche Vertuschung sexuellen Missbrauchs fängt manchmal bei den Eltern an (besonders wenn die Täterschaft aus der Familie stammt) und geht dann bei den Befragungen weiter.
• In zwei Fällen wurden Kinder, deren sexueller Missbrauch publik wurden, jahrelang in der Schule ausgelacht und verhöhnt.
• Die Schockstarre (Totstellreflex) wurde manchmal bei der Einvernahme als Einverständnis interpretiert - besonders weil das Opfer bereits älter war. Dies habe ich in meinem eigenen Umfeld erlebt. Das Opfer resignierte und wollte seine Klage nicht weiterziehen.
• Dissoziative Reaktionen, bei welchen das Opfer abdriftet und nicht mehr kohärente Antworten zu geben vermag, wurden allzu häufig als unglaubwürdiges Verhalten interpretiert. Es kam aber auch vor, dass die Opfer überhaupt nicht in der Lage waren, über die Tat(en) zu berichten. Sie waren zu traumatisiert und belastet.
• Sicher spielt hier eine große Rolle, dass die Beweislast oft den Opfern überlassen wurde. Sie mussten sich gewissermaßen erneut ausziehen und schutzlos zeigen, um die skeptische Strafverfolgungsbehörde zu überzeugen.
• Unsensible Befragungen, bei welchen sich das Opfer pönalisiert, ausgestellt und ungeschützt erlebten, führten manchmal zu einer Retraumatisierung. Das Opfer konnte sich gegen die vom ursprünglichen Trauma einbrechenden Erinnerungen und Empfindungen nicht schützen und erlebte das Trauma erneut.
• Ein weit verbreitetes Phänomen bei traumatisierten Opfern ist, dass sie sich am Geschehen mitschuldig fühlen, sogar Kinder, die jahrelang sexuell missbraucht werden. Dies wird von der Täterschaft gegenüber den Opfern oft verwendet, um die Tat zu vertuschen, zu verharmlosen oder die Tat zu bagatellisieren. Ungeschulte Beamte oder Mitglieder der Justizbehörde sind bei erwachsenen Opfern anfälliger, solche üblen Spiele mitzumachen

Ich habe aber auch geschildert bekommen, dass die Befragungen durch die Polizei und im rechtlichen Kontext einfühlsam und schonend verliefen. Meist war es aber eine weibliche Befragerin und ein Verfahren ohne direkte Täterkonfrontation im gleichen Raum, die dies möglich machten.

Erschreckend für mich in diesem Artikel ist, wie die Verantwortlichen von Justiz und Polizei den schwarzen Peter von einer Instanz zur anderen schieben oder sich bedeckt halten. Keine der überwiegend männlichen Personen zeigt Betroffenheit oder gibt zu, dass der kantonale Wildwuchs hier ein großes Problem für die Opfer ist. So bleibt es dem Zufall überlassen, ob ein Opfer überhaupt Recht erfährt oder retraumatisiert wird, je nachdem, wo es gerade in der Schweiz wohnt.

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Vielen Dank für diese Recherche.
Kann es sein, dass die Polizei Angst vor Aussagen gegenüber der Republik hat? Weil sie sehr erfolgreich Fehler aufdeckt?

Das bei der Polizeiarbeit Fehler passieren, ist unumgänglich. Polizistinnen und Polizisten werden mit grausamen Geschichten konfrontiert, ohne dass sie selbst auf Ort, Zeitpunkt und persönliche Verfassung Einfluss nehmen können*. Sie haben häufig mit schwierigen Menschen zu tun, haben unumgänglich ein verzerrtes Menschenbild. Sie müssen in der Situation einfach handeln.
Diese Handlung ist in Ruhe, am Schreibtisch, nach langem Überlegen einfach zu kritisieren. Es besser zu machen aber ganz schwer. Diese Kritik (gerade auch der Republik) ist wichtig und richtig, weil nur so sich die grosse Macht der Polizei brechen lässt. Ich kann aber sehr gut verstehen, dass sich niemand von der Polizei hier die Finger verbrennen will.

* Zu diesem Gedanken trieb mich der erste Beschriebene Fall: An einem Festival mit Betrunkenen zu arbeiten, ist nicht lustig. Das darf keine Entschuldigung sein, ich kann aber mit der «Gegenseite» der Schilderung mitfühlen. Ein Dilemma.

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Ja, ich kann verstehen dass es nicht zu den Lieblingsaufgaben gehört, sich mit betrunkenen Teenies auseinandersetzen.

Trotzdem: Ans Regelbuch muss sich die Polizei jederzeit halten, auch betrunkene Teenager haben Rechte. Motivation kann man wohl nicht verlangen, problematisch wird es aber spätestens wo es zu einem "Abwimmeln" der Kundschaft führt...

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Ich kann nicht verstehen, was daran schwierig sein soll, mit einem Opfer sexueller Gewalt sensibel umzugehen. Ob das jetzt an einem Festival ist oder mit einer betrunken Person. Da kann ich mich kein bisschen einfühlen, sorry.

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Schade.
Stress, Müdigkeit und Nachtdienst kann aus jeder geduldigen Person eine unsensible machen. War man von Natur aus schon nicht sehr gut im Umgang, ist man dann eine Katastrophe. So vielleicht?
Wie gesagt, es entschuldigt nichts und der Handlungsbedarf ist klar da. Aber die Mitarbeitenden der Polizei an der Front anprangern ist zu kurz gedacht.

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Dass die Polizei, die Befrager, den Sachverhalt detailliert aufnehmen, abklären, ist zentral für die spätere rechtliche Qualifikation der Tat. Darum kommt kein Opfer. Aber man kann das behutsam tun. Dazu gehört auch, dass der Befrager halt mal erklärt, warum er diese Frage stellen muss. Und vor allem: unvoreingenommen. Besonders fatal, wenn der Eindruck beim Opfer (oder auch bei einer beschuldigten Person!) entsteht, sie würde nicht ernst genommen.

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