Was die Polizei zu den Vorwürfen sagt (soweit sie denn etwas sagt)
Die Befragung als traumatisches Erlebnis: Davon berichten Opfer von sexualisierter Gewalt. Was sagen Verantwortliche dazu? Wie wir uns vergeblich um ein Interview bemühten.
Von Miriam Suter und Karin A. Wenger, 18.06.2020
In der Recherche «Die Einvernahme war für mich so schlimm wie die Vergewaltigung selbst» erheben Betroffene und Fachpersonen schwere Vorwürfe. Der Grundtenor: Die Polizei ist nicht sensibilisiert genug für das Thema sexualisierte Gewalt – die Praxis ist von Kanton zu Kanton verschieden. Mehr noch: Die Recherche belegt in mindestens einem Fall, dass bei einer Frau das Opferschutzgesetz klar missachtet wurde. Und Frauen berichten, die die Befragung durch die Polizei als traumatisierend empfanden.
Eigentlich hätte an dieser Stelle ein ausführliches Interview dazu erscheinen sollen. Wir interessierten uns für die Sichtweise der Behörden und wollten ihnen den Raum geben, auf die Vorwürfe im Beitrag zu reagieren. Vor allem wollten wir wissen: Sind die beschriebenen Muster der Verfehlungen tatsächlich systematisch?
Doch die Suche nach Gesprächspartnern gestaltete sich ausgesprochen schwierig:
Urs Hofmann, Präsident der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD), verwies uns an die Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten (KKPKS). Diese habe allenfalls einen Überblick über spezifische kantonale Praxen und «müsste auch Kenntnis von einer ‹nationalen Strategie› auf operativer Ebene haben». Sofern uns die Konferenz der Polizeikommandanten keine Auskunft geben könne, sollten wir uns an die kantonalen Polizeikorps wenden. Bezüglich Fragen zur polizeilichen Ausbildung verwies er uns an das Schweizerische Polizei-Institut.
Die Kommunikationsabteilung der Konferenz der Polizeikommandanten schrieb uns, wir müssten uns an die betroffenen Polizeikorps wenden, in welchen die beschriebenen Verfehlungen stattfanden. Das Problem: Die Fälle sind anonymisiert, um die Frauen zu schützen, die mit uns sprachen. Wir legen im Beitrag nicht offen, in welchen Kantonen die Fälle geschahen. Somit konnten wir auch den betroffenen Polizeikorps keine Details zukommen lassen.
Auch der Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten, Stefan Blättler, sagte am Telefon, er könne sich nicht zu den einzelnen Fällen äussern, ohne dass wir ihm die Details offenlegten. Andere Fragen wollte er uns nur via E-Mail beantworten.
Ein persönliches Gespräch mit Stefan Aegerter, Vizedirektor des Polizei-Instituts in Neuenburg, für das wir eine schriftliche Zusage hatten, wurde einen Tag vorher ohne Begründung wieder abgesagt.
Stattdessen beantwortete Reto Habermacher, der Direktor des Schweizerischen Polizei-Instituts, mehrere Fragen per E-Mail, wollte zu einigen aber keine Stellung nehmen, weil sie nicht das Polizei-Institut beträfen. Diverse Nachfragen liess er unbeantwortet.
Einzig Johanna Bundi Ryser, die Präsidentin des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter, beantwortete am Telefon einige Fragen.
Aus den schriftlichen Antworten und dem Telefongespräch haben wir versucht, die Stellungnahme der Polizei so gut wie möglich darzustellen. Aus Transparenzgründen lassen wir unbeantwortete Fragen so stehen.
1. Hat die Polizei ein Bewusstsein für die Probleme in Bezug auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt?
Es sei schwierig, ohne genaue Kenntnis der einzelnen Fälle zu urteilen, schreibt Stefan Blättler, Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten: «Allerdings gehe ich nicht von einem systematischen Problem in der Schweizer Polizeilandschaft aus.» Die Problematik sei bisher nicht so an ihn herangetragen worden. Die konkreten Vorgänge in den einzelnen Korps kenne er nicht. Die Sensibilisierung für sexualisierte Übergriffe sei aber ein wichtiges Thema: «Es gibt einen institutionalisierten Austausch zwischen den Chefs der Kriminalabteilungen der Schweizer Korps sowie den Ausbildungschefs, bei denen auch Best Practices diskutiert werden», schreibt Blättler.
Johanna Bundi Ryser, Präsidentin des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter, sagt: «Ja, die Polizistinnen und Polizisten sind sehr sensibilisiert auf diese Thematik.» Eine systematische Gangart, die Opfer von sexualisierter Gewalt diskriminiere, sei sicherlich nicht vorhanden.
2. Gibt es speziell ausgebildete Polizistinnen, die bei Opfern sexualisierter Gewalt zum Einsatz kommen?
«Sexualisierte Gewalt ist ein sehr sensibler Bereich, deshalb gibt es in den Polizeikorps weibliche Mitarbeitende, die spezifisch für solche Fälle eingesetzt werden», sagt Bundi Ryser. Bei gewissen Polizeikorps gebe es zum Beispiel ein spezielles Frauenpikett, welches sicherstelle, dass weibliche Opfer von einer erfahrenen Polizistin befragt werden.
3. Gibt es eine Übersicht dazu, in welchen Kantonen speziell ausgebildete Polizistinnen vorhanden sind?
Nein. Eine solche Übersicht hat weder die Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten noch das Schweizerische Polizei-Institut oder die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren. Auch das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann sowie die Schweizerische Konferenz gegen Häusliche Gewalt haben keine solche Übersicht. Letztere teilt mit, «die meisten Kantone» hätten speziell geschulte Beamtinnen für die Befragung bei Sexualdelikten. Bundi Ryser vom Verband der Polizeibeamten ergänzt: «Es gibt sicherlich Polizeikorps in der Schweiz, in denen solche Spezialeinheiten aufgrund ihrer Personalressourcen nicht vorhanden sind – etwa, weil keine Polizistin auf dem Posten arbeitet.» Grundsätzlich gelte es aber zu erwähnen, dass gemäss der Schweizerischen Strafprozessordnung jedes Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität verlangen kann, von einer Person gleichen Geschlechts einvernommen zu werden. «Es muss also nicht zwingend eine Spezialeinheit sein, sondern zentral ist, dass das Opfer durch eine Person gleichen Geschlechts einvernommen wird», so Bundi Ryser.
4. Gibt es eine interne Beschwerdestelle bei der Polizei?
In der Schweiz gibt es je nach Kanton unterschiedliche Beschwerdestellen für polizeiliches Fehlverhalten: Gewisse Kantone haben parlamentarische Ombudsstellen eingerichtet, allerdings verfügt einzig der Kanton Genf über eine unabhängige Beschwerdestelle. Wichtig sei, dass Betroffene Beanstandungen machen könnten, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten oder gemäss ihrer Auffassung die gesetzlichen Pflichten missachtet worden seien, sagt Bundi Ryser. In den Kantonen gibt es verschiedene Möglichkeiten, damit die Bearbeitung eines konkreten Falls auf seine Rechtmässigkeit hin überprüft wird. «Fehler müssen Konsequenzen haben», sagt Bundi Ryser.
5. Inwiefern wird während der polizeilichen Ausbildung auf sexualisierte Gewalt fokussiert?
Seit 2020 dauert die Polizeiausbildung neu zwei Jahre: «Im Vergleich zu der früheren, einjährigen Ausbildung zeichnet sich das neue Modell noch stärker als bisher durch eine klare Ausrichtung auf Kompetenzorientierung statt auf reines Vermitteln von Fachwissen aus», schreibt Reto Habermacher, Direktor des Schweizerischen Polizei-Instituts. Dazu gehöre etwa ein starker Fokus auf die Themen «Werte, Normen, Menschenbilder, Reflexion». So könne sichergestellt werden, dass die immer wichtiger werdenden «Soft Skills» in der Polizeiarbeit bereits während der Grundausbildung «gebührend beachtet werden».
6. Mit welchen Prüfungsbeispielen wird auf sexualisierte Gewalt sensibilisiert?
Auf diese Frage antwortet der Direktor des Polizei-Instituts mit einem Prüfungsbeispiel zu häuslicher Gewalt. Auf unsere Nachfrage nach einem Beispiel zu sexualisierter Gewalt antwortet Reto Habermacher, die Prüfungsfälle für die neue, zweijährige Polizeiausbildung seien noch in Bearbeitung. Ein wichtiger Teil der Prüfung bestehe darin, dass die angehenden Polizisten ihr Verhalten während der Anzeige reflektierten. Als Prüfungsexperten würden unter anderem auch Psychologinnen beigezogen.
7. Welche Weiterbildungen gibt es im Bereich sexualisierte Gewalt?
Am Polizei-Institut gebe es derzeit verschiedene Angebote, schreibt Habermacher. Zu diesem Angebot gehören die beiden Kurse «Das Opfer im polizeilichen Ermittlungsverfahren» und «Interkulturelle Kompetenzen». Der Entscheid, welche Polizistinnen einen dieser Kurse besuchten, liege ausschliesslich bei den einzelnen kantonalen Korps. Zudem verweist Habermacher darauf, dass alle Korps «regelmässig und in dichter Abfolge» interne Weiterbildungen durchführten.
8. Wie viele Polizisten besuchen jedes Jahr die Weiterbildungen am Polizei-Institut im Bereich sexualisierte Gewalt?
«Jährlich besuchen schweizweit rund 50 Teilnehmende entsprechende Weiterbildungskurse», schreibt Reto Habermacher.
9. Haben die polizeilichen Institutionen im Rahmen der Aus- und Weiterbildung Nachholbedarf in Bezug auf die Sensibilisierung für sexualisierte Gewalt?
Das Kursangebot am Polizei-Institut orientiere sich an den Bedürfnissen der Polizeikorps, schreibt Habermacher. Das Institut offeriere keine Kurse auf Eigeninitiative. Die einzelnen Korps müssen also in einem Bereich das Bedürfnis nach zusätzlicher Weiterbildung äussern, damit das Polizei-Institut ein entsprechendes Angebot erstellt. «So sind auch aktuell mehrere neue Kursangebote in Bearbeitung», schreibt Habermacher. In Bezug auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt bestehe aus Sicht des Instituts derzeit «kein weitergehender Nachholbedarf», schreibt Habermacher. Auch für Stefan Blättler von der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten ist der Bedarf momentan genügend abgedeckt: «Dieses Anliegen wurde bisher seitens der kantonalen Korps nicht an mich herangetragen.»
10. Gibt es Überlegungen, das «Berner Modell» in anderen Kantonen einzuführen?
Das wisse er nicht, schreibt Stefan Blätter. Es handle sich um einen politischen Entscheid.
11. Wird im Rahmen der polizeilichen Aus- oder Weiterbildung thematisiert, wie man mit traumatisierten Personen umgeht und wie sich ein Trauma auf das Verhalten während der Einvernahme auswirken kann?
Reto Habermacher vom Polizei-Institut schreibt, der Umgang mit traumatisierten Personen werde in der Ausbildung thematisiert, besonders beim Bearbeiten von praktischen Fällen. Er weist darauf hin, dass die meisten Polizisten nicht Psychologie studiert haben. Somit seien der «sogenannte ‹gesunde Menschenverstand›, die angewandte Verhältnismässigkeit und weitere ‹weiche› Ausbildungselemente» besonders wichtig. Bei Bedarf würden Fachpersonen beigezogen.
Stefan Blättler, Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten und Kommandant der Kantonspolizei Bern, schreibt, er könne nur für seinen Kanton sprechen. Die Opferbetreuung in den belastenden Fällen stelle eine grosse Herausforderung dar. Dies werde sowohl in der Grundausbildung als auch in korpsweiten Weiterbildungen thematisiert. Hierbei würden auch interne psychologische Dienste und externe Fachspezialisten beigezogen. Als wichtig erachtet Blättler die Vernetzung mit anderen kantonalen Stellen wie beispielsweise der Opferberatung und der Justiz.
12. Ein Facharzt für Psychiatrie sagt, die Schockstarre werde bei der Einvernahme viel zu wenig berücksichtigt. Und dass im Bereich der Psychotraumatologie bei der Strafverfolgung viel Wissen fehle. Ist die Opferstarre Teil der polizeilichen Aus- oder Weiterbildung?
Diese Frage beantwortete der Direktor des Polizei-Instituts nicht.
13. In einem Fall schildert eine Frau, wie ihr auf dem Polizeiposten davon abgeraten wurde, Anzeige zu erstatten. Sie wurde darauf hingewiesen, dass die meisten Fälle vor Gericht kaum eine Chance hätten. Ist ein solches Verhalten gerechtfertigt?
Der Direktor des Polizei-Instituts schreibt, er könne sich nicht zum Einzelfall äussern. Die Frage betreffe nicht das Polizei-Institut. Stefan Blättler von der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten schreibt, es sei ihm nicht möglich, zu einzelnen Fällen, die er nur vom Hörensagen kenne, Stellung zu nehmen, ohne die Möglichkeit zur Abklärung zu haben. Die Aufgabe und Herangehensweise der Polizei sei es, Sachverhalte vertieft abzuklären. Diese Möglichkeit fehle hier gänzlich. Er erwähnt aber, dass die Polizei den Auftrag habe, die Bevölkerung zu schützen: «Diesen Auftrag muss und will sie auch wahrnehmen.» Damit habe sie selbstverständlich auch ein Interesse, dass Opfer Anzeige erstatten würden, damit die Täterschaft ermittelt werden könne.
14. Weibliche Opfer einer Sexualstraftat haben das Recht darauf, von einer Frau befragt zu werden. Sie müssen laut Strafprozessordnung vor der ersten Einvernahme darüber informiert werden und ein entsprechendes Formular unterschreiben. In einem Fall unseres Artikels klärte der Beamte die Betroffene erst nach der Einvernahme über dieses Recht auf. Wie ist das zu beurteilen?
Der Direktor des Polizei-Instituts schreibt wiederum, er könne sich nicht zum Einzelfall äussern. Die Frage betreffe nicht das Polizei-Institut. Stefan Blättler von der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten schreibt, es sei ihm nicht möglich, zu einzelnen Fällen, die er nur vom Hörensagen kenne, Stellung zu nehmen, ohne die Möglichkeit zur Abklärung zu haben. Die Aufgabe und Herangehensweise der Polizei sei es, Sachverhalte vertieft abzuklären. Diese Möglichkeit fehle hier gänzlich.
15. In einem Fall wurde eine Frau vom Beschuldigten, der sie vergewaltigt hatte, nach der Anzeige via Telefon bedroht, er «mache ihr Leben kaputt». Sie rief daraufhin die Polizei an. Ein Beamter sagte ihr, sie solle wieder anrufen, wenn der Mann tatsächlich vor ihrer Tür stehe. Wie schätzen Sie diese Reaktion des Beamten ein?
Siehe Antwort 14.
16. Werden die unterschiedlichen Arten, wie sich Opfer verhalten können, während der Aus- oder Weiterbildung thematisiert?
Diese Frage beantwortet der Direktor des Polizei-Instituts nicht. Stefan Blättler von der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten schreibt, entsprechende Einvernahmen seien sehr herausfordernd, gerade weil die Opfer oftmals traumatisiert seien. Aus diesem Grund würden beispielsweise auch spezialisierte Weiterbildungen durchgeführt, und die Korps hätten entsprechende Prozesse eingeführt – beispielsweise die Kantonspolizei Bern mit dem Frauenpikett.
17. Eine Frau wurde auf dem Polizeiposten am Empfang von einem Beamten befragt, nicht in einem separaten Raum, während daneben Leute ein und aus gingen. Der gleichen Frau wurde Stift und Papier gegeben, und sie musste ihre Aussage selber aufschreiben. Wie ist dies einzuschätzen?
Siehe Antwort 14.
Wenn schwere Vorwürfe erhoben werden, muss die betroffene Seite sich dazu äussern können. So weit die journalistische Theorie. Diese Recherche zeigt: In der Praxis ist das Ganze manchmal deutlich komplizierter.
In einer früheren Version haben wir bei Frage 14 vom Opferschutzgesetz statt von der Strafprozessordnung geschrieben. Wir entschuldigen uns für den Fehler.